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Wie wollen wir leben? Wie willst DU leben? Eine interaktive und kooperative Philosophienacht zum Thema „Freiheit und Verantwortung“

Christina Harder


Freude am Lernen: Wie kann sie geweckt werden oder wieder erwachen? In seinem Grundsatzartikel in diesem Heft gibt Gerald Hüther darauf eine Antwort: Freude am Lernen kann dann entstehen, wenn alle am Lernprozess Beteiligten einander als Subjekte begegnen und nicht als Objekte eigener Absichten und Ziele, Erwartungen und Bewertungen sowie vorgegebener Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen.1 Konkretisiert: wenn Lehrpersonen und Schüler*innen sich gemeinsam auf den Weg machen, auf dem Lernende auch zu Lehrenden und Lehrende zu Lernenden werden können.

Im Schulalltag geht es oft um Bewertungen, um curriculare Zielvorgaben und Erwartungshorizonte. Es gibt in diesem Kontext aber durchaus Möglichkeiten, in dem o.g. Sinne Freude am Lernen zu wecken: in einzelnen Unterrichtsstunden selbst, im Rahmen von Projekten und Projektwochen oder an außerschulischen Lernorten, aber auch und besonders in außerschulalltäglichen Lernsettings.

Solche haben an zahlreichen Schulen bereits einen festen Platz im Schulleben gefunden. In der IGS Osterholz-Scharmbeck beispielsweise gab und gibt es (wenn nicht gerade eine Pandemie alles lahmlegt) die „Lange Nacht der Mathematik“ und eine „Lesenacht“ in der Schulbibliothek. Daran anknüpfend entstand die Idee einer „Philosophienacht“ oder kurz: „Philonacht“. Daraus wiederum ist die Idee zu einem Philo-Wochenende erwachsen. Diese Angebote richteten sich an Schüler*innen des 9., 10. und 11. Jahrgangs.

Im Folgenden stelle ich Bausteine für eine Philonacht vor, die in dieser Form zu diesem Thema nicht stattgefunden hat. Vielmehr habe ich hierfür einzelne Bausteine aus den Philonächten und dem -wochenende zusammengestellt und diese um neue Elemente erweitert. Bei der Auswahl der Bausteine bzw. Elemente für die Philonacht zum Thema „Wie wollen wir leben?“ habe ich mich an der SAVI-Regel2  für interessantes und nachhaltiges Lernen orientiert, gleichzeitig an Bewährtem. Die Bausteine haben Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren im Blick und eignen sich auch für eine heterogene Lerngruppe mit unterschiedlichen Lernausgangslagen.


Das didaktische Grundgerüst und die Auswahl des Themas

Das didaktische Grundgerüst der Philonächte und des -wochenendes ist stets das gleiche: Ein geeigneter Termin wird mit den potenziellen Teilnehmer*innen gemeinsam gesucht. Es folgt eine ansprechende Einladung, der auch ein Elternbrief mit der Einwilligungserklärung angefügt ist. Im Vorfeld der Philonacht, ca. zwei Wochen vorher, findet ein Vorbereitungstreffen statt, für das mind. eine Unterrichtsdoppelsunde eingeplant werden sollte. Einladung und Vorbereitungstreffen machen allen Teilnehmenden deutlich, dass die Philonacht ihre Veranstaltung ist, in die sie von Anfang bis Ende aktiv eingebunden sind und in der sie für das Gelingen sowie für das eigene Lernen und das der anderen Verantwortung tragen. Sie sind also die Subjekte dieser Veranstaltung und des Lernprozesses, keine passiven Objekte und Konsumenten.

In der hier vorgestellten Philonacht sind das Thema sowie zentrale didaktische Bausteine nach dem Kriterium der SAVI-Regel gesetzt. Wenn den Schüler*innen ein noch stärkeres Erleben von Selbstwirksamkeit und Verantwortung ermöglicht werden soll, dann können außer der Themenauswahl auch die Auswahl der Methoden, Sozialformen und Materialien, also konkreter Lernwege, den Schüler*innen überlassen werden. Die erwachsene Lehrperson würde dann lediglich Vorschläge machen und Anregungen geben. In diesem Fall müsste für das Vorbereitungstreffen jedoch deutlich mehr Zeit eingeplant werden als eine Doppelstunde.

Doch auch wenn Thema bzw. Leitfrage und zentrale Methodenbausteine gesetzt sind, bleibt für die Jugendlichen noch ausreichend Raum für eigene Vorstellungen und Wünsche zur Gestaltung ihrer Philonacht. In diesen Freiräumen können sie Freiheit von engen inhaltlichen Zielvorgaben sowie konkreten Erwartungen und Bewertungen erfahren. Zugleich erfahren sie, dass diese Freiheit mit einer Verantwortung für das Gelingen einhergeht und sie Subjekte ihres eigenen Lernens sind. Da dieses Erleben des Zusammenspiels von Freiheit und Verantwortung im Rahmen einer Philonacht als eigener Lernprozess neben und durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Thema und Fragestellungen dazu abläuft, bietet sich für ein interaktives Lernsetting genau dieses Thema an: „Freiheit und Verantwortung“. Um diesen weiten Themenbereich wiederum einzugrenzen, zugleich aber im Sinne einer Subjektorientierung an den Schüler*innen zu konzipieren, wird für die hier vorgestellte Philonacht eine grundlegend existenzielle Leitfrage als Überschrift ausgewählt: Wie wollen wir leben? Wie willst du leben? Daran ist die Frage gebunden: Hast du überhaupt die Freiheit, so zu leben, wie du willst? Und welche Verantwortung trägst du dann für dein Leben und das anderer?


Die Vorbereitung der Philonacht

Die teilnehmenden Schüler*innen wurden im Einladungsschreiben außer zu der Philonacht auch zum Vorbereitungstreffen eingeladen. In dem Raum des Treffens ist eine Wäscheleine aufgespannt. Moderationskarten in einer Farbe, liegen bereit. Auf einer Tafel oder einem großen Plakat stehen die leitenden Fragen der Philonacht: Wie wollen wir leben? Wie willst DU leben?

Die Schüler*innen werden gebeten, Murmelgruppen zu bilden, in denen sie spontane Gedanken zu den beiden Leitfragen der Philonacht austauschen. Philosophische Frage haben die (wunderbare!) Eigenschaft, dass sich aus ihnen in der Regel zahlreiche weitere Fragen ergeben, so dass ein regelrechtes Fragen-Netz entsteht. Jede Murmelgruppe hält zentrale Gedanken ihres spontanen Murmelgespräches in Form ausformulierter Fragen fest: je eine Frage auf einer Moderationskarte. Um die Übersicht zu behalten, könnte die Anzahl der Moderationskarten, die jede Murmelgruppe für ihre Fragen erhält, begrenzt werden.

Im Plenum werden die Fragen auf den Moderationskarten für alle sichtbar zunächst auf den Boden oder auf zusammengestellte Tische gelegt, oder sie werden an der Wand, Tafel oder sonstigen Flächen befestigt. Je nach Größe der Gesamtgruppe erhalten die Schüler*innen den Auftrag, ihre Moderationskarten selbst den Fragen aus anderen Gruppen zuzuordnen, wenn es sich um gleiche oder ähnliche Fragen handelt. Sollte die Gruppe zu groß für diese unmittelbare Clusterung der Karten sein, werden die Karten zunächst einfach ungeordnet abgelegt bzw. angehängt und im Anschluss daran wird eine gemeinsame Clusterung im Gespräch vorgenommen. Nachdem die Fragen geclustert sind, werden sie an die Wäscheleine gehängt. Gleiche Fragen werden zusammengeheftet bzw. übereinander, ähnliche Fragen nebeneinander aufgehängt. Die gleiche Farbe der Karten zeigt an: Hier handelt es sich um unsere Fragen, die wir in die Philonacht mitbringen bzw. mitnehmen. Die Wäscheleine mit den gleichfarbigen Fragekarten wird dann während der gesamten Philonacht im Hauptraum hängen.

Während der gesamten Philonacht werden Moderationskarten in zwei weiteren Farben ausliegen: eine Farbe, bspw. blau, für neue Gedanken oder Erkenntnisse der Teilnehmer*innen zu einer der Fragen; eine andere Farbe, bspw. gelb, für neue Fragen der Teilnehmer*innen. Ausdrücklich gehören zu den Teilnehmer*innen die Lehrpersonen dazu. Auch sie können während der Philonacht Karten beschreiben und an die Wäscheleine hängen. Es sollte mit allen schon im Vorbereitungstreffen abgesprochen werden, ob die Karten anonym geschrieben oder mit Namen (Kürzel) gekennzeichnet werden. So entsteht über die Wäscheleine für alle Teilnehmenden sichtbar eine verbindende Linie vom Vorbereitungstreffen durch die Philonacht hindurch bis hin zu einem reflektierenden Rück- und Ausblick am Ende. Möglich ist auch, diese Wäscheleine mit in den Unterrichtsalltag hinein zu nehmen, um dort immer wieder auf die existenziell sehr zentrale Ausgangsfrage und die daraus entstandenen neuen Fragen, Gedanken und Ideen zurückgreifen zu können.

Mit dieser Methode der Wäscheleine werden im Grunde alle vier Aspekte der SAVI-Regel berücksichtigt: Die Lernenden bewegen sich sowohl körperlich als auch geistig, weil sie immer wieder bewusst eine Karte in einer bestimmten Farbe auswählen, in die Hand nehmen und beschreiben sowie anschließend im Kontext der Clusterung an der Wäscheleine aufhängen (S). Sie sind im (Zu)Hören und Sprechen aufeinander fokussiert und nicht auf eine oder wenige (Lehr-)Person(en) (A). Mit der kontinuierlichen Visualisierung des gemeinsamen Lernprozesses über die Wäscheleine wird ihr inneres Auge aktiviert und ihre Vorstellungskraft genutzt (V). Alle Teilnehmer*innen entwickeln und reflektieren im Prozess gemeinsam Lösungsansätze (I).3

Nachdem die Schüler*innen sich so bereits in der Vorbereitung mit der Leitfrage der Philonacht auseinandergesetzt haben, geht es mit der Verteilung von Jobs für die Philonacht weiter. Hierfür sind Jobkarten (siehe Downloadmaterial zu diesem Artikel) in der Anzahl der Teilnehmer*innen (auch der Lehrpersonen) vorbereitet. Auf jeder Jobkarte ist ein Symbol und/oder ein Bild bzw. eine Zeichnung zu sehen, das/die für einen Job steht: bspw. das Klemmbrett mit Schreibfeder für den Job, die Räume für die Philonacht vorzubereiten. Die Jobkarten werden von den Teilnehmer*innen ausgewählt. Für die Gruppendynamik und ggf. auch zur Vermeidung langer Diskussionen können die Jobkarten auch nach dem Zufallsprinzip gezogen bzw. verteilt werden. Mit der Verteilung von Jobs für die Nacht wird deutlich: Ihr habt die Freiheit, zu entscheiden, wie und ggf. womit ihr euren Job erledigen wollt; zugleich tragt ihr die Verantwortung dafür. Wer zum Beispiel die Karte mit dem Käsebrot auf dem Teller, den Weintrauben und der Kerze plus dem Wort „Abendessen“ zieht, ist zuständig für das Abendessen und hat nun die Freiheit zu entscheiden, wie er*sie das organisieren möchte und was es überhaupt zu essen geben soll.4 Die Jobkarten sollten in der Philonacht für alle erkennbar sein: z.B. indem die Jobsymbole auf einem vorbereiteten oder selbst erstellten Namensschild zu sehen sind. So wissen immer alle Teilnehmer*innen, wer für welchen Job zuständig ist und an wen sie sich wenden können, wenn sie dazu Fragen oder Wünsche haben.

Daran anschließend wird gemeinsam auf den möglichen Ablauf der Philonacht (M 1) geschaut. Die gesetzten Methodenbausteine liegen als visualisierte Bausteine in einer gemeinsamen Farbe, bspw. auf grünem Tonpapier, für alle sichtbar auf dem Fußboden. Möglich ist hier auch die Nutzung eines vorbereiteten Worddokuments mit verschiebbaren Bausteinen, das über ein Smartboard gezeigt wird. Gemeinsam werden nun Zeitfenster für die vorgegebenen Methodenbausteine verabredet genauso wie für individuelle Frei-Räume und Zwischen-Zeiten, in denen gemeinsam gegessen wird. Das Ergebnis ist ein Ablauf der Philonacht, den die teilnehmenden Schüler*innen zumindest in Teilen mitbestimmen konnten.

Schließlich erhalten die Teilnehmer*innen am Ende des Vorbereitungstreffens eine kleine Hausaufgabe (M 2). Damit haben sie die Aufgabe, sich bereits im Vorfeld gedanklich mit der Leitfrage der Philonacht auseinanderzusetzen und mit sich selbst, ihren eigenen Wünschen für ihr Leben, in Verbindung zu bringen. Zugleich erfolgt damit ggf. schon ein Anstoß zum Nachdenken: darüber, ob und inwieweit – durch was oder wen ggf. beschränkt – sie ihr Leben selbstbestimmt nach ihrem (freien?) Willen gestalten können und welche Verantwortung sie dabei für mögliche Fehlentscheidungen tragen.


Ablauf der Philonacht

  • Ankommen

Die beiden Philonächte an der IGS Osterholz-Scharmbeck fanden in der letzten Woche vor den Weihnachtsferien in der Schule statt. Uns standen die Schulbibliothek, der große Flur davor sowie zwei weitere Räume, jeweils mit Smartboards, zur Verfügung. Im Grunde hatten wir aber das gesamte Hauptgebäude der Schule für uns, was für die Schüler*innen einen ganz eigenen Charme hatte. Eingeladen waren die Schüler*innen ab 16.30 Uhr; gemeinsamer Beginn sollte spätestens um 17.30 Uhr sein. So bestand auch an diesem Punkt einerseits eine gewisse Freiheit, andererseits mit dem gesetzten Startpunkt eine bindende Verantwortung für den gemeinsamen Beginn. Die meisten Schüler*innen kamen so rechtzeitig, dass sie sich schon ihren Schlafplatz zwischen den Bücherregalen und Sofas einrichten konnten. Außerdem konnten bereits Tische und Bänke bzw. Stühle auf dem Flur für das gemeinsame Abendessen und Frühstück vorbereitet werden. Es ist durchaus vorteilhaft, wenn also insbesondere diejenigen Schüler*innen bereits rechtzeitig da sind, die auch entsprechende Jobkarten gezogen/erhalten haben. Das hindert natürlich andere Schüler*innen nicht daran, helfend mit anzupacken.

 

  • Beginn

Ein gestalteter gemeinsamer Beginn könnte über eine gezogene Jobkarte in der Zuständigkeit eines oder zwei Schüler*innen liegen. Anschließend erhalten alle Teilnehmer*innen noch einmal einen Überblick über den im Vorbereitungstreffen gemeinsam zusammengestellten Ablauf der Philonacht. Sie werden zudem an die Wäscheleine, die im Raum hängt, und die ausliegenden Moderationskarten sowie deren Funktion erinnert. Der Ablauf der Philonacht (M 1) wird in Form eines Plakates für alle sichtbar aufgehängt.

 

  • Methodenbausteine

Objekt-Collage

Nach dem gemeinsamen Beginn werden die Schüler*innen gebeten, ihre mitgebrachten sechs Gegenstände und/oder Fotos/Bilder in einer Ecke des Raumes bzw. der zur Verfügung stehenden Räume als Objekt-Collage aufzustellen (vgl. M 2). Anschließend stellen sie sich in Kleingruppen gegenseitig ihre Collagen vor und kommen darüber ins Gespräch. Als Impuls kann ihnen mitgegeben werden: Setzt euch mit der Frage auseinander, ob ihr es (immer) selbst in der Hand habt, wie euer Leben verläuft!

Diskussionsrundgang zu Textauszügen

Nach dem Abendessen machen die Schüler*innen in Kleingruppen einen Diskussionsrundgang. Ausgelegt oder ausgehängt, möglichst in großen Abständen, ggf. verteilt auf zwei Räume, sind insgesamt sechs Textauszüge (M 3). Sie stammen aus einem Essay des Schweizer Philosophen Peter Bieri, der im Jahr 2007 unter dem Titel „Wie wollen wir leben?” im ZEITmagazin LEBEN5 erschienen ist.6

An dieser Stelle sind ganz bewusst Auszüge aus einem Text Peter Bieris gewählt worden. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung dieses Essays nämlich, im Jahr 2005, erregte Bieri mit einem Artikel unter der Rubrik Wissenschaft Debatte im Spiegel Aufsehen.7 Darin reagierte er auf ein zuvor erschienenes Streitgespräch im Spiegel über den freien Willen, in dem seitens einiger Vertreter der Hirnforschung eben dieser als menschliche Illusion beschrieben wurde. In einer konsequent logischen Argumentation kommt Bieri hingegen zu dem Schluss: Ja, der Mensch ist zwar durch zahlreiche Faktoren determiniert. Die vielfältigen Determinanten jedoch seien es letztlich, die einem Menschen seine Individualität verleihen. Ohne Determinanten könnte ein Mensch gar keine Persönlichkeit ausbilden, da er sich dann quasi wie in einem luftleeren Raum bewegen würde. Für Bieri sind deshalb die unbestrittene Realität vielfacher Determinanten, die auf den Menschen einwirken, und zugleich das Festhalten an der Prämisse des freien Willens – wenn auch in begrenztem Rahmen – miteinander kompatibel. Seine Position wird deshalb auch in der Diskussion um den freien Willen des Menschen Kompatibilismus genannt. Darüber hinaus macht Bieri ganz in Philosophen-Manier deutlich, dass die Behauptung seitens der Hirnforschung, der menschliche Wille sei eine bloße Illusion, einem Missverständnis des Begriffes „Freiheit“ auf den Leim gehe. Bieris Position kann als eine Mittelposition in der Diskussion um den freien Willen aufgefasst werden, die zudem an zentralen Punkten dem christlichen Freiheitsverständnis sehr nahekommt.

Die Schüler*innen werden nun in Kleingruppen in den Rundgang geschickt. Vorher aber werden sie auf eine grafische Darstellung aufmerksam gemacht, die in den Räumen des Rundgangs aufgehängt sind: „Determinanten des menschlichen Bewusstseins und Seins”. Mehr wird zu der Grafik nicht erläutert. Die Schüler*innen können eigenständig Zusammenhänge herstellen.

Der Diskussionsrundgang sollte zunächst für alle Gruppen an dem ersten Textauszug (rote Schrift) starten, mit dem Peter Bieri seinen Essay selbst auch einleitet:

„Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Das sind Worte, die leidenschaftliche Zustimmung finden, denn sie handeln von unserer Würde und unserem Glück. Doch was bedeutet das eigentlich?”

Der Satz wird vorgelesen. Eine Gruppe bleibt hier nun stehen, um an dieser Stelle mit ihrer Diskussion zu beginnen. Die anderen Gruppen verteilen sich auf die übrigen Textauszüge und beginnen an ihnen ihren Diskussionsrundgang. Je nach Größe der Gesamtgruppe sind entweder jeweils zwei Kopien pro Auszug ausgehängt oder aber die Kleingruppen sind entsprechend größer. Sie sollten allerdings nicht aus mehr Personen als fünf bestehen, da ansonsten auch in diesem kooperativen Gesprächsformat die Gefahr besteht, dass die stilleren Schüler*innen nicht zu Wort kommen können bzw. es sich nicht trauen. Mit Blick auf das A (= auditiv) der SAVI-Regel sollte die Möglichkeit des einander Zuhörens und Sprechens gleichermaßen für möglichst alle teilnehmenden Schüler*innen bestehen.

Am Ende des Diskussionsrundgangs kommen alle Schüler*innen nochmals am letzten Textauszug (grüne Schrift) zusammen. Er wird laut vorgelesen:

„Äußerem Zwang entfliehen, einem befreienden Selbstbild Einfluss verschaffen, Manipulation abwehren, zu einer eigenen Stimme finden: All das gehört zum Kampf um Selbstbestimmung.” (…)

„Der Kampf ist nie zu Ende. Selbstbestimmung ist etwas, das immer wieder verloren gehen kann.”(…)

„Sternstunden der Selbstbestimmung erkennen wir manchmal erst im Rückblick. Dann sagen wir: Damals, in jenem glücklichen Moment, war ich ganz bei mir.”

Anschließend erhalten die Schüler*innen die Möglichkeit, (neue) eigene Gedanken und ggf. neue Fragen auf die entsprechenden Moderationskarten zu schreiben und an die Wäscheleine zu hängen.

Stegreif-Spiel: frei und verantwortlich (?)

Nach einer Frei-Zeit folgt schließlich ein Stegreif-Spiel. Hierfür werden wieder Gruppen zusammengestellt oder finden sich. Die Gruppen sollten aus max. vier Schüler*innen bestehen, damit in dem Gespräch möglichst jedem*r ein ausreichender Gesprächsanteil zukommen kann.

Die Schüler*innen ziehen nun aus den drei verschiedenen Kartenstapeln (M 4) folgende Karten: Aus dem Stapel mit den Rollen-/Personenkarten zieht jede*r Schüler*in eine Karte. In jeder Gruppe sollte jede Rolle nur einmal besetzt sein. Bei doppelt besetzten Rollen legt ein*e Schüler*in die Rollenkarte wieder zurück und zieht eine neue. Aus dem Stapel mit den Situationskarten zieht ebenfalls jede*r Schüler*in eine Karte. Hier kann es innerhalb einer Gruppe ruhig zu Doppelungen kommen. Zuletzt wird aus dem Stapel der Ereigniskarten eine Karte pro Spiel-Gruppe gezogen. Nun schlüpft jede*r Schüler*in in seiner*ihrer Spiel-Gruppe in die gezogene Personenrolle und versetzt sich in die Situation, in der diese Person gerade steckt. Schließlich wird die Ereigniskarte für die Spiel-Gruppe aufgedeckt. Jede*r bekommt einen kurzen Moment, sich in seiner Rolle und Situation in das Ereignis hineinzudenken und zu fühlen. Dann wird improvisiert. Ein Gespräch entsteht zwischen diesen Personen in ihren jeweiligen Situationen: ein Gespräch, in dem es um die Frage geht, ob das, was die Personen für ihre unmittelbare Zukunft erreichen oder tun wollen, für sie realistisch erreich- oder machbar ist oder ob ihnen etwas oder jemand im Weg stehen könnte. Können diese Personen in dieser Situation selbstbestimmt leben und nach ihrem freien Willen handeln?

Je nach Größe der Gesamtgruppe und des Zeitfensters können im Anschluss an die improvisierten Gespräche in den Spielgruppen Kurzfassungen der Stegreif-Gespräche im Plenum vorgeführt werden. Die Schlussszene wird dann jeweils eingefroren, die Zuschauer*innen erhalten die Möglichkeit zu einer der Personen hinzugehen, ihr auf die Schulter oder den Arm zu fassen und ihr eine Frage zu stellen. Auf diese Weise wird weiter improvisiert und können möglicherweise neue Aspekte, Gedanken und Gefühle ins Spiel kommen.

Anschließend besteht wieder die Möglichkeit, neue Gedanken und/oder Fragen auf die Moderationskarten zu schreiben und an die Wäscheleine zu hängen.

Film: „Into the wild“

Nach dem gemeinsamen Tagesabschluss besteht für Nachtschwärmer die Möglichkeit, sich den Film „Into the wild“ anzusehen. Dieser Film basiert auf authentischen Tagebucheinträgen, Postkarten und Interviews, mit deren Hilfe der Journalist John Krakauer die abenteuerliche Reise des jungen Mannes Christopher McCandless rekonstruiert hat. Chris‘ Reise beginnt, als er 22 Jahre alt ist und sein College gerade mit hervorragenden Noten abgeschlossen hat. Ausgelöst durch ein Geschenk (Auto) seiner stolzen Eltern zum Collegeabschluss, beginnt Chris, sein bisheriges Leben zu hinterfragen und schließlich hinter sich zu lassen, um ganz neu anfangen zu können. Seine Reise ist zunächst eine Befreiung von allem Belastendem und falsch Empfundenem in seinem bisherigen Leben; eine Suche nach Freiheit, die Chris schließlich in der Einsamkeit der Wildnis Alaskas zu finden meint. Er gibt sich einen neuen Namen: Alexander Supertramp. Seine Kreditkarte, seinen Ausweis zerschneidet er. Seine Ersparnisse spendet er. Und seine Eltern ebenso wie seine jüngere Schwester wissen nicht, wo er ist und ob er überhaupt noch lebt.

Dieser Film thematisiert das große Thema Freiheit auf eindrückliche Weise mit einem bewegenden und sehr nachdenklichen Ende, das die Botschaft enthält: Freiheit ohne Bindungen und ohne Verantwortung führt in eine Sackgasse, nicht in die ersehnte Freiheit. Also ein Film, der den Nachtschwärmer*innen weiteren Diskussionsstoff liefern kann.8

Auswertung und Ausblick

Nach dem Frühstück wird die Philonacht ausgewertet. Hierfür werden die Karten von der Wäscheleine abgenommen: zunächst die Fragen aus dem Vorbereitungstreffen. Jede Frage wird vorgelesen und dann kurz gemeinsam überlegt, ob und welche (vorläufigen) Antworten die Schüler*innen ggf. gefunden haben. Dann werden die Karten mit den Gedanken und Ideen, die die Schüler*innen während der Philonacht zwischen den Methoden-Bausteinen hatten, vorgelesen; schließlich die Karten mit den neuen Fragen, die entstanden sind und die aus der Philonacht mitgenommen werden. Gemeinsam wird nun überlegt, mit welchen Gedanken und Fragen es nach der Philonacht weitergehen kann und soll: im Religionsunterricht zum Beispiel.

Anmerkungen

  1. Vgl. Gerald Hüther: Die Freude am Lernen ist Ausdruck der Freude am Leben, in diesem Heft, 4ff.
  2. Vgl. Weidemann, Active Training, 19, sowie Christina Harder, SAVI – Checkliste, in diesem Heft, 96ff.
  3. Vgl. zur Methode der Wäscheleine: Weidemann, Active Training, 147.
  4. Wird für das Abendessen und ggf. auch Frühstück Geld benötigt und müsste dies von den Teilnehmer*innen eingesammelt werden, dann sollte hierfür die erwachsene Lehrperson wenigstens eine Mit-Verantwortung übernehmen.
  5. Bieri, Wie wollen wir leben? www.zeit.de/2007/24/Peter-Bieri/komplettansicht.
  6. Bieri ist emeritierter Professor für Analytische Philosophie an der FU Berlin. Darüber hinaus schreibt er unter dem Pseudonym Pascal Mercier Romane; u.a. der Bestseller „Nachtzug nach Lissabon” stammt aus seiner Feder.
  7. Bieri, Unser Wille ist frei, www.spiegel.de/spiegel/ a-336006.html.
  8. Into the Wild – Die Geschichte eines Aussteigers, Sean Penn und Jon Krakauer, USA 2007, Spielfilm 148 Min., FSK 12, www.intothewild-derfilm.de
  9. Für ältere Schüler*innen (ab 11. Jg.) ist es empfehlenswert, das Thema „Freiheit und Verantwortung“ mit diesem Film zu erarbeiten. Materialien und Texte dafür finden sich in: WeiterDenken, Philosophie/Ethik Oberstufe, Band C, hg. v. Rolf Sistermann, Braunschweig 2012, 157-175.

Literatur

  • Bieri, Peter: Unser Wille ist frei, Wissenschaft. Debatte, in: Der Spiegel 2/2005, www.spiegel.de/spiegel/a-336006.html (21.07.2021)
  • Bieri, Peter: Wie wollen wir leben?, in: Zeit Online, 07. Juni 2007, www.zeit.de/2007/24/Peter-Bieri/komplettansicht (21.07.2021)
  • Sistermann, Rolf (Hg.): WeiterDenken, Philosophie/Ethik Oberstufe, Band C, Braunschweig 2012
  • Weidenmann, Bernd: Handbuch Active Training. Die besten Methoden für lebendige Seminare, 3. Aufl, Weinheim/Basel 2015