Wie „systemrelevant” ist Religion aus der Perspektive der beruflichen Pflege?

Von Hartmut Remmers

Als systemrelevant werden angesichts der gegenwärtigen Corona-Pandemie unter anderem jene Bereiche und beruflichen Aktivitäten bezeichnet, die in irgendeiner Weise einen Bezug zum Gesundheitssystem haben und einen Beitrag leisten, die gesundheitliche Versorgung aufrechtzuerhalten und zu sichern. Eine wichtige Voraussetzung des systemischen Funktionierens besteht darin, dass die Arbeits- und Leistungsfähigkeit sorgender Berufe unter Einschluss auch der ärztlichen Berufe dauerhaft gewährleistet werden kann. Dies ist nicht nur eine physische Frage, sondern eine Frage geistig-seelischer Antriebsressourcen und Motivationen.

Eine Systemrelevanz der Religion ließe sich allenfalls im Hinblick auf ihr transzendentes Heilsversprechen mit innerweltlicher Sinnstiftung behaupten. In gewisser Weise ist dieses Heilsversprechen in säkularer Gestalt an die moderne Medizin übergegangen – allerdings mit einem lediglich ersehnten Sieg über Krankheit und Tod. Endlichkeit bleibt eine unumstößliche Lebenstatsache als Grund letzter Sinnfragen, auf die religiöse, mehr und mehr pluralisierte und zugleich entkirchlichte Praktiken Antworten zu geben suchen. In ihrer Funktion als „Kontingenzbewältigungspraxis“ (Hermann Lübbe) scheint Religion insofern unverzichtbar zu sein.

Aus der Perspektive der beruflichen Pflege kann die Systemrelevanz der Religion nur in widersprüchlicher Weise behauptet werden. Dabei ist pflegegeschichtlichen Aspekten eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Bis in die Frühzeit (ca. 3000 v. Chr.) zurückreichend, waren die Ausübung der Heilkunde auf der einen Seite sowie pflegerische Tätigkeiten auf der anderen Seite, erbracht durch sogenannte Medizinpriesterinnen (Schamaninnen) oder heilkundige „weise“ Frauen, getrennt. Bis ins Mittelalter (ca. 500–1400 n. Chr.) genossen diese Frauen hohes Ansehen. Das änderte sich jedoch im Zeitalter des europäischen Rationalismus mit einer ärztlich monopolisierten Heilkunde. Etwa zeitgleich entwickelten sich originär pflegerische Aufgabenfelder im katholischen Ordenswesen bzw. in den von Bürgern gegründeten städtischen Hospizen. Ihren Höhepunkt erreicht die kirchlich organisierte Pflege, die als das Werk christlicher Barmherzigkeit verstanden wird, im 19. Jahrhundert, gerät dabei aber im Zuge der Verwissenschaftlichung der Medizin unter einen „Säkularisierungsdruck“ und später in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter einen „Ökonomisierungsdruck“. 

Bemerkenswert ist nun, dass selbst bei zunehmender Verweltlichung die sinnstiftenden Antriebsressourcen der Ausübung des Pflegeberufs mit karitativen Motivationen verklammert bleiben, ohne an den kirchlichen Kontext noch gebunden zu sein. Dies scheint jedoch nur eine Phase in einem weit tiefer angelegten epochalen Transformationsprozess zu sein. Im Zeichen des christlichen Glaubens hatte sich mehr und mehr eine Alltagsmoral aus dem Orientierungsrahmen lediglich egozentrischer Handlungskalküle herausgelöst. Dabei handelt es sich um eine überlebenswichtige Revision insofern, als damit überhaupt erst mentale Voraussetzungen geschaffen werden für die Wirksamkeit eines anthropologisch tiefsitzenden empathischen Vermögens, einer Fähigkeit des Menschen, sich auf die Bedürftigkeit anderer einzustellen und einzuschwingen. Recht besehen scheint jedoch das karitative Prinzip auch in seiner Verweltlichung als Dienstethos an seine erlösungsreligiösen Ursprünge gebunden zu bleiben, und zwar an eine ihr zugrundeliegende innerseelische Dynamik. Dienstbarkeit nämlich erscheint als jene Haltung, die Individuen in Formen der Selbstentäußerung einnehmen, weil sie sich allein auf diesem Wege ihrer Macht, ihrer Selbstwirksamkeit zu versichern vermögen. Im Zurücknehmen der eigenen (meist weiblichen) Persönlichkeit in der entsagungsreichen Hilfe, im Altruismus, vermag sich das Selbst zu stärken. Diese innerseelische Antriebsstruktur eben auch pflegerischer Leistungen scheint ebenso unumgänglich wie auch prekär zu sein. Durch religiöse Überzeugungen kann sie gefestigt werden, führt allerdings dann zu einem prekären seelischen Ungleichgewicht, wenn auf diesem Wege eine Art Selbsterlösung gesucht wird. Die (seelischen) Kosten für eine auf diesem Wege der Selbstvergessenheit gesuchte berufliche Sinngebung sind hoch.

Selbstverständlich erfolgt sorgendes Verhalten nicht nur unter diesen Bedingungen. Als förderlich erweisen sie sich dann, wenn seelischer Gleichgewichtsverlust vermieden werden kann; wenn der circulus vitiosus von purer, ungesteuerter Sorge und Selbstverneinung durchbrochen werden kann. Gewiss lassen sich – folgt man analytischen Einsichten Sigmund Freuds - basale psychodynamische Anteile sorgenden Verhaltens auch als das Resultat einer Umkehr ursprünglich offensiver Antriebsrichtungen menschlichen Verhaltens nach innen verstehen mit latent selbstdestruktiven Wirkungen. Selbstzerstörerische Tendenzen entstehen aber erst dann, wenn den nach innen gerichteten Antrieben ein Gegenhalt, eine bewusste Kontrolle als Selbststeuerung fehlt. Mit der Emanzipation der Pflegeberufe aus kirchlich-religiösen Kontexten ist zunächst die Chance gegeben, die Sinnhaftigkeit beruflichen Handelns von bestimmten erlösungsreligiösen Schlacken (etwa der Preisgabe eines Selbst) zu befreien. Dies besagt freilich nicht, dass die Sinnhaftigkeit pflegerischen Handelns sich nicht auch aus den Quellen eines das Hier und Jetzt transzendierenden Glaubens speisen kann, beispielsweise in der Verarbeitung vergeblichen Bemühens. 


Quintessenz

1. Das Dienstethos der beruflichen Pflege verlangt den Einsatz physischer und psychischer Kräfte im primären Interesse der Integrität der pflegebedürftigen Person. Dieser Einsatz muss aber im Interesse der Pflegefachperson begrenzt werden. Speist sich der berufliche Einsatz im Wesentlichen aus der motivbildenden Kraft eines religiösen Ideals (etwa der Nachfolge Christi, Imitatio Christi), so besteht die Gefahr eines Grenzverlustes mit selbstzerstörerischen Tendenzen. Es bedarf daher balancierender Gegenkräfte der bewussten Kontrolle und Selbststeuerung.

2. Bleibt das Ethos der Hilfe (im Kontext einer von Nietzsche denunzierten Mitleidsmoral als „Sklavenmoral“) fixiert auf die Unmittelbarkeit von Interpersonalität, so sind lähmende Wirkungen zu erwarten. Diese ethische Engführung blockiert die gemeinschaftliche Artikulation und Wahrnehmung legitimer persönlicher und beruflicher Interessen der Selbstorganisation. Erst in dem Maße, wie der ambivalente Charakter fürsorglicher Beziehungen, Dispositionen, Einstellungen, Werthaltungen durchschaut wird, können berufliche Verantwortlichkeiten im Sinne der Wahrnehmung zweiseitig ausgerichteter Schutzinteressen (Hilfebedürftige, professionelle Akteure) wahrgenommen und gestärkt werden. Durch Bewusstmachung intrapersonaler Widersprüche (auf Grund jener nach innen gerichteten Antriebsrichtung) werden möglicherweise auch frühzeitige berufliche Fluchtimpulse vermindert werden können.

Systemrelevant ist Religion, insofern sie als eine Quelle der Aufrechterhaltung pflegeberuflicher Motivation (Sinnfragen beruflichen Handelns) dient. Sie bedarf aber eines wahrscheinlich im religiösen Kontext nicht zu erzielenden Gegenhalts, eines psychodynamischen Korrektivs (religionskritische Dimension). 

Systemrelevant ist Religion als Quelle institutionalisierter Seelsorge. Sie war im Kontext der diakonischen Tradition ein essenzieller Bestandteil auch der Pflege. Im Zuge der Profanisierung und Professionalisierung kommt es zu einem arbeitsteiligen Kooperationsverhältnis zwischen pastoraler Seelsorge und Pflege. Der Preis dieser neuen Arbeitsteiligkeit kann ein teilweiser Sinnverlust pflegeberuflichen Handelns sein.