Perspektivwechsel ermöglichen – „Ich halte eine Kooperation der Fächer Religion und Werte und Normen für zukunftsweisend und dringend notwendig.”

Ein Interview mit Maike Noormann, Fachleiterin für Werte und Normen am Studienseminar Salzgitter

 

Kirsten Rabe: An einigen Schulen arbeiten die Fächer Werte und Normen und Evangelische sowie Katholische Religion – meist aus organisatorischen Gründen – als eine Fächergruppe zusammen. Wie nimmst du das Verhältnis dieser Fächer momentan wahr?

Maike Noormann: An vielen Schulen hat sich nach meiner Beobachtung mittlerweile eine konstruktive Zusammenarbeit gerade in Bezug auf die Planung von Projekten oder fächerübergreifenden Vorhaben durchgesetzt. Einige Schulen gehen weiter. Sie überschreiten die Fächergrenzen durch Zusammenarbeit in einer „Fachgruppe“, die als spürbare Entlastung und Hilfe wahrgenommen wird. An anderen Schulen besteht mit überkommenen Ressentiments die Tradition einer gewissen Konkurrenz zwischen den Fächern fort. Aufseiten der anwählenden Schüler*innen geht es häufig um die „Popularität“ der Fächer an der Schule. Den mannigfaltigen Gründen einer Wahlentscheidung in die eine oder andere Richtung ist zumeist gemein, dass sie wenig mit dem gemeinsamen Anliegen einer Auseinandersetzung und Verständigung über Werte und Normen zu tun haben.

Ich sehe mehrere Probleme im Zusammenhang mit der strikten Entweder-oder-Entscheidung. Schulpädagogisch kann es m.E. nicht im Sinne der “Wertefächer“ sein, hier rein christliche (ev., kath. oder konfessionell-kooperative) Lerngruppen zu bilden und dort z.B. islamische Lerngruppen (wenn die Mindestzahl erreicht wird) und „alle anderen“ versammeln sich in Niedersachsen im „WeNo“-Unterricht. Unabhängig von den organisatorischen Nachteilen einer „Verkursung“ der Klassenverbände erzeugen die starren Gruppengrenzen – hier nichtreligiös säkular, dort religiös: christlich, islamisch usw. – pädagogische und didaktische Probleme, die den Fächern, die auf Offenheit und Vertrauen basieren, nicht zuträglich sind. Durch die Kurstrennung bilden sich gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeiten ab, die wir an anderen Stellen unbedingt inklusiv aufzubrechen versuchen, obwohl doch alle Beteiligten sehr wohl wissen, dass sich hinter der vordergründigen Homogenität der Gruppen jeweils eine individuelle Vielfalt von familiären und sozialen Zugehörigkeiten der Schüler*innen verbirgt. Daher halte ich es mehr und mehr für problematisch, die Schüler*innen vor die Wahl zu stellen.

Ich selbst würde mir wünschen, dass den Lernenden die Möglichkeit gegeben würde, die Themenfelder aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, damit sie lernen, verschiedene Blickwinkel zu unterscheiden und zwischen ihnen zu wechseln. Es erzeugt meines Erachtens keinen Widerspruch, wenn auch religiös gebundene Schüler*innen, die den Religionsunterricht besuchen, sich den didaktischen Schwerpunkten und gesellschaftlich relevanten Inhalten und Fragen, die das Fach Werte und Normen eröffnet, stellen und auch diesen Unterricht erleben könnten.

Dieser Wunsch erscheint schulpolitisch gar nicht utopisch, wenn man sich eine Kooperation zwischen Religion und Werte und Normen zu einem Thema als einen Wechsel zwischen gemeinsamen Unterrichtsphasen und besonderen Fragestellungen vorstellt, die unter der speziellen Fachperspektive unter die Lupe genommen werden. Warum sollten gläubige christliche Kinder sich nicht mit religionskundlich vergleichenden Fragestellungen auseinandersetzen und auch eine philosophische Perspektive wahrnehmen können, oder psychologische und soziologische Argumentationen kennenlernen? Hat nicht der Religionsunterricht auf seine Weise selbst diesen Anspruch? Umgekehrt: Warum wird Werte und Normen-Lehrkräften häufig per se unterstellt, sie seien areligiös oder hätten kein Interesse an Religion? Mehrperspektivität ist in der Pluralität ein didaktisches Leitbild von Werte und Normen und meines Wissens ebenso von Religion.

Kritische Vorbehalte aus der Tradition des Ersatzfachstatus‘, die nicht durchweg unberechtigt erscheinen (man denke an die Abiturprüfung nur in P4 und P5, an die Zahl der Ausbildungsplätze oder die erst unlängst eingerichtete Fachmoderation), sind im Zeichen von Diversität und Inklusion einfach nicht mehr zeitgemäß.

Darum halte ich – nicht zuletzt mit Blick auf die Einführung des Faches Werte und Normen in der Grundschule 2021/22 – eine kooperative Grundhaltung der beiden Fächer für zukunftsweisend und für dringend notwendig, um so Vorurteile und verstaubte Klischees aufzuweichen und dadurch eine gemeinsame, konkurrenzfreie Nachbarschaft anzubahnen. Das Bangen um Rechtfertigung und Besitzstand des eigenen Faches, Anlass zu Unstimmigkeiten auch in kooperativen Fachgruppen, könnte so an Brisanz verlieren, an die Stelle würde die gemeinsame Arbeit im Sinne des Ziels, Schüler*innen auf ihrem Weg zu begleiten, zu lebensbejahenden, mündigen, kritischen Bürger*innen zu werden, ins Zentrum der pädagogischen Arbeit rücken.

KR: Es wäre wohl zu plakativ, dem Unterricht in Werte und Normen zu unterstellen, er müsse selbstverständlich religionskritisch sein. Differenzierter gefragt: Wie religionskritisch möchte und sollte der Unterricht in Werte und Normen sein?

MN: Das ist stark von der unterrichtenden Lehrkraft abhängig, wie im Religionsunterricht wohl auch – auch hier gibt es Kolleg*innen, die nicht unbedingt regelmäßige Kirchgänger*innen sind, da bekanntlich eine Verbundenheit mit dem christlichen Glauben nicht notwendig eine gelebte Praxis in der kirchlichen Gemeinschaft einschließt. Man muss den jeweils eigenen methodischen Ansatz im Blick haben. Während der WeNo-Unterricht sich aus der distanzierten, vergleichenden Perspektive religionskundlichen Fragestellungen widmet, kann der Religionsunterricht sich stärker aus einer Innenperspektive entfalten, die durch persönliche Erfahrung und Vertrauen auf den Glauben in einer Gemeinschaft geprägt sein kann. Doch auch diese Perspektive spielt im WeNo-Unterricht dann eine Rolle, wenn er sich beispielsweise mit monotheistischen Religionen auseinandersetzt. Natürlich arbeiten wir hier mit den Präkonzepten unserer Schüler*innen und knüpfen an deren Erfahrungen an, die sie aus einer christlich-humanistisch geprägten Sozialisation mitbringen – oder auch sich in dieser zurechtfinden lernen, falls sie darin nicht aufgewachsen sind. Es geht auch während der Beschäftigung mit der Frage nach Religionen und Weltanschauungen (WuN KC Sek. II) darum, Kenntnisse zu gewinnen, um zum Beispiel die Funktionen von Religionen für Kultur und Gesellschaft zu verstehen und dadurch differente Haltungen respektieren oder wenigstens tolerieren zu lernen.

In meinem Studium bin ich in den Genuss von Seminaren von Herrn Prof. Dr. Peter Antes gekommen, der für seine bildreiche Sprache bekannt ist. Er beschrieb den Unterschied zwischen einem Religionswissenschaftler und einem Theologen in etwa folgendermaßen:

Peter Antes stellt sich beide auf einer Weinprobe vor. Der Religionswissenschaftler öffnet verschiedene Flaschen, riecht an den Weinen, prüft Alter und Herkunft, zeigt sich als Experte für verschiedene Geschmacksnoten und beobachtet die Vorlieben der Gäste, er selbst kostet die Weine nicht. Und der Theologe? Der Theologe gönnt dem großen Angebot eher flüchtige Blicke, geht dann schnurstracks auf eine Flasche zu, genießt das Glas in vollen Zügen und ist überzeugt, die beste Wahl getroffen zu haben.

Dieses Bild erschien mir seinerzeit sehr einleuchtend und hilfreich – die Erfahrungsebene, die von Vertrauen und Gewissheit geprägt ist, bleibt der religionswissenschaftlichen Haltung vorenthalten, die genaue vergleichende Analyse dagegen, das Erforschen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Teilen der theologischen Haltung. Das mag für die Differenzierung wissenschaftlicher Diskurse nach wie vor tragfähig sein.

Aber wir Werte und Normen-Kolleg*innen sind weder Religionswissenschaftler*innen noch Theolog*innen. Wir sind in erster Linie Pädagog*innen! Und als solche begleiten wir die Schüler*innen in Werte und Normen durch existenzielle und soziale Fragen, z.B. nach dem Ich, nach der Zukunft, Fragen nach Moral und Ethik, Fragen nach der Wirklichkeit und Fragen nach Orientierungsmöglichkeiten, die den curricularen Vorgaben zugrunde liegen; ihre Bearbeitung erfolgt kumulativ durch die Anbahnung und Ausbildung der prozessbezogenen Kompetenzbereiche: Wahrnehmen und Beschreiben, Verstehen und Reflektieren, Diskutieren und Urteilen. Diese Fragen enthalten Unterrichtsgegenstände, die sich aus den Bezugswissenschaften des Faches: Soziologie, Religionswissenschaft und Philosophie ergeben, die sich natürlich auch zum Teil im Religionsunterricht finden lassen. Die Perspektive der Fächer lässt sich in religionswissenschaftlich-theologischen Themenfeldern wahrscheinlich am offensichtlichsten nachvollziehen, plakativ könnte man sagen, der WeNo-Unterricht stellt Fragen, der Religionsunterricht beantwortet diese aus einer konkreten Perspektive – aber das wäre mir zu allgemein. Der normative Orientierungsrahmen des Werte und Normen-Unterrichts wird von den Menschenrechten und dem Grundgesetz gebildet, und dieser Rahmen ist u.a. aus christlich-humanistischer Tradition entstanden. Innerhalb dieses Orientierungsrahmen regt der WeNo Unterricht bei religionsbezogenen Themen einen kritischen Diskurs an, so sachgerecht und weltanschauungsneutral (nicht wertneutral) wie irgend möglich. Eine voreingenommen ablehnende Haltung würde diesem fachlichen Selbstanspruch zuwiderlaufen. Oder um es mich mit den Worten einer Religionspädagogin zu sagen: „Bildung führt niemanden irgendwo hin, sondern ermöglicht, selber zu gehen. Leitplanken pädagogischer Interventionen sind das Überwältigungsverbot (Verbot des Irgendwohin-Führens) und das Kontroversitätsgebot (Gebot des Streits diverser Gründe für und gegen mögliche Ziele).“[1] Das gilt auch für religionskritische Inhalte.

KR: Du bildest Referendar*innen für Werte und Normen aus. Wie nimmst du deren Einstellung gegenüber Religion wahr – sowohl als gelebte Religion wie als Unterrichtsfach?

MN: Es gehört ja zu den alten, „üblen Nachreden“, dass Werte und Normen-Lehrkräfte und ihr Nachwuchs als Abtrünnige von den Religionsangeboten beargwöhnt werden. Wäre es anders, würde nicht überraschen, wenn ich sage: Ich erlebe die jungen Kolleg*innen, die mir in der Ausbildung begegnen, ähnlich heterogen und bunt wie die Schüler*innen, die in meinen WeNo-Kursen sitzen. Das soll nicht heißen, dass Religions- und Kirchenkritisches nicht existieren. Aber es wäre an der Zeit, mal genauer zu erforschen, welcher Generationenwandel bei den Motiven und Einstellungen inzwischen eingetreten ist: Die einen, und das erscheint fast wie ein erfülltes Klischee, sind religiös sozialisiert und kommen aus kirchlich aktiven Familien (christlich, aber auch islamisch), einige haben einige Semester das Fach Religion studiert und sind dann zu Werte und Normen gewechselt, hier lässt sich womöglich ein „Abwenden von“ unterstellen. Andere sind religiös interessiert, haben im Abitur eine Prüfung in Religion gemacht, gehen Weihnachten in die Kirche und sind fasziniert von der religionsvergleichenden Perspektive, wieder andere haben sich aufgrund der Mehrdimensionalität des Faches und der Bezugswissenschaften direkt für Werte und Normen entschieden. Keine dieser biografischen Linien schließt einen privat gelebten Glauben aus.

Insgesamt erlebe ich die Lehrer*innen im Vorbereitungsdienst als ausgesprochen offen, neugierig und diskursfähig. Mir bereitet es sehr viel Freude, mit so motivierten jungen Kolleg*innen zusammenzuarbeiten. Eine Grundhaltung ist allen gemein, denke ich, und das ist das Interesse an anderen Menschen und an der Auseinandersetzung mit Lebensfragen. Auch hier fühlt sich kaum jemand weit entfernt von den Kolleg*innen, die Religion unterrichten. Zugrunde liegt ein Gefühl von „wir sind uns ähnlich – aber doch irgendwie anders“. Auch ist zu berücksichtigen, dass die jungen Kolleg*innen in ihren Schulen sehr unterschiedliche Erfahrungen in Bezug auf Kooperations- und Austauschbereitschaft mit Religionskolleg*innen sammeln. Das Feld ist weit und die Schere mitunter sehr breit. Einige wissen nicht einmal, welche Kolleg*innen an ihren Schulen Religion unterrichten, andere planen regelmäßig eng mit ihnen zusammen. An einigen Schulen gibt es, wenn überhaupt, nur einzelne wenige ausgebildete Werte und Normen-Lehrer*innen, die für den Hospitationsunterricht zur Verfügung stehen. Die Religionskolleg*innen nehmen mitunter lediglich zur Kenntnis, wenn ein*e Referendar*in an seiner*ihrer Schule die Ausbildung beginnt, fühlen sich natürlich nicht verantwortlich, da ja das „andere“ Fach zuständig ist und stellen sich gelegentlich auch nicht persönlich vor, was Unsicherheiten auf Seiten der jungen Kolleg*innen natürlich eher verstärkt. Möglicherweise resultiert auch daraus der subjektive Eindruck Einzelner, dass die Offenheit und das Interesse der Religionskolleg*innen nicht besonders groß sind. Ihnen begegnen hier systembedingte Vorurteile, die aus der historischen Abhängigkeit des Fachs Werte und Normen dem Fach Religion gegenüber resultieren. Die Frage, wo sich quantitativ mehr Schüler*innen verorten und auch welche Schüler*innen, wird dadurch in den Schulen immer wieder neu befeuert. Ich persönlich finde das schade, in dem Bewusstsein, dass uns didaktisch und in dem, was wir an Wertekommunikation zu leisten versuchen, unterm Strich mehr eint als trennt.

[1]   Katrin Berderna: Every Day For Future, Ostfiltern 2019, 233.