Braucht unsere Gesellschaft noch Religion?

Von Rüdiger Ludwig

Humanist*innen und Atheist*innen werden oft gefragt, ob unsere Gesellschaft aus ihrer Sicht noch Religion braucht. Die Frage ist in gleichem Maße interessant wie verwirrend. Sie verbindet zwei Dinge, die in einem Widerspruch zueinanderstehen. Aus der Perspektive von wissenschaftlich orientierten Atheist*innen und Humanist*innen ist Religion eine höchstpersönliche Sache. Warum sollte die Gesellschaft im Ganzen Weltanschauungen brauchen, die doch eigentlich in der eigenen Person liegen? 

Im Folgenden soll betrachtet werden, welche Rolle Religion für die ganze Gesellschaft spielen könnte, und wo sie dies heute noch tut.


Religion als Erklärer der Welt

In der naturwissenschaftlichen Welt geht es mit rechten Dingen zu. Alles, was wir sehen, was wir erleben oder erfassen können, lässt sich im Prinzip mit Mitteln der Naturwissenschaften erfassen. Wissenschaft arbeitet dabei auf der Basis von Hypothesen, die Aspekte der Welt erklären. Diese Hypothesen müssen sich einer harten Prüfung unterziehen, bevor sie anerkannt werden. So muss es grundsätzlich möglich sein, Situationen zu denken, die belegen würden, dass die Hypothese falsch ist. Zudem sollte es keine anderen Hypothesen für dieselben Phänomene geben, die mit weniger oder einfacheren Annahmen auskommen.

Hypothesen, die diese Bedingungen erfüllen und mit den Beobachtungen der realen Welt übereinstimmen, können den Status einer Theorie erhalten. Selbst in diesem Stadium aber ist es möglich, dass sie von neuen Theorien vom Thron gestoßen werden. Dies kommt oft vor, weil sich zeigt, dass die bisherige Hypothese nur einen Spezialfall einer viel größeren Theorie darstellt.

Laut einer Anekdote stellte Sir Isaac Newton, als ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen war, die Hypothese auf, dass die gleichen Gravitationskräfte, die auf diesen Apfel wirkten, auch für die Planeten gelten müssen. Dadurch war es ihm möglich, deren Bahnen um die Sonne über kaum vorstellbare Entfernungen hinweg zu beschreiben. Nachdem Newton seine Gesetze 1687 in seinem Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica veröffentlichte, wäre es ein Leichtes gewesen, ihn zu widerlegen. Ein einziger Planet, der sich nicht an die von ihm beschriebenen Regeln hält, hätte dazu genügt.

Tatsächlich wurde rund 200 Jahre später festgestellt, dass Merkur dieser Planet ist. Der sonnennächste Planet verhält sich anders, als dieses nach Newtonschen Gesetzen zu erwarten war. Dieses Phänomen konnte erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Relativitätstheorie Einsteins erklärt werden. Diese löste letztlich das Modell Newtons als führende Theorie über die Gravitation ab. 

Wenn wir versuchen, einen ähnlich rigiden Ansatz an Religion zu legen, fallen viele ihrer Welterklärungsversuche schnell in sich zusammen. Die frühen naiv-religiösen Erklärungsversuche zur Entstehung der Welt sind durchweg widerlegt und in den Bereich der Metaphern verdrängt. Es bedarf keiner Magier und keine Wunder, um die Welt, die wir erfassen können, zu erklären. 

Dort, wo heute ein höheres Wesen noch wirken soll, lässt sich diese Annahme weder belegen noch widerlegen. Ein Gott, der auf wundersame Weise wirkt, entzieht sich somit komplett der nachprüfbaren Welt der Wissenschaft.

Wir können damit festhalten, dass – aufbauend auf einem wissenschaftlichen Weltbild – die Welt um uns herum weitgehend beschrieben werden kann. Die Beschreibungskraft der Religionen ist dagegen mit der Zeit immer geringer geworden und kann heute als nicht mehr begründbar angesehen werden.


Religionen als Begründer von Gut und Böse

Tatsächlich behaupten die meisten aufgeklärten Religionen heute nicht mehr, die Welt besser als die Wissenschaft zu erklären. Auch die katholische Kirche hat ihren Frieden mit Galileo Galilei und Charles Darwin geschlossen. 

Heute wird vielmehr betont, dass es die Religionen sind, von denen wir die Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie Richtig und Falsch erhalten. Erst durch die Existenz eines objektiv guten Wesens sei es uns Menschen möglich, moralische und ethische Grundsätze abzuleiten. Von den abrahamitischen Religionen wird dabei gerne auf die Zehn Gebote verwiesen und betont, wie sehr sie unsere Vorstellung von Richtig und Falsch und unser modernes juristisches System beeinflusst hätten.

Betrachtet man aber gerade diesen Punkt genauer, so wirkt der Bezug auf die Zehn Gebote seltsam. Gerade einmal drei Gebote, die sich auf Mord, Diebstahl und Falschaussage beziehen, spielen heute noch eine bedeutende Rolle. Mindestens drei der Gebote beziehen sich auf die richtige Art, Gott anzubeten und können damit per Definition nur für gläubige Menschen relevant sein. Hierin die Grundlage unseres ethischen Systems zu sehen, erscheint absurd.

Auch das Neue Testament taugt aus heutiger Sicht nur dann als eine solche Grundlage, wenn man alle Teile, die für uns nicht mehr gültig sind, ausblendet. Damit werden dann aber nicht göttliche Regeln zur Messlatte für menschliche Rechtsvorstellungen, sondern gerade umgekehrt. Als göttlich werden genau die Regeln anerkannt und hochgehalten, die Menschen über lange Zeit auch unabhängig davon, ob sie in einem religiösen Buch standen, anerkannt haben. Alle anderen werden verworfen.

Morden und Stehlen als „falsche“ Handlungen haben diesen Test bestanden, wie auch im „Guten“ das Gebot zur Nächstenliebe. Das Fügen in das Dasein als Sklave oder die dem Manne untergeordnete Stellung der Frau, die beide an mehreren Stellen im Alten und im Neuen Testament der christlichen Bibel zu finden sind, sicherlich nicht. Dieses wird heute sowohl innerhalb wie auch außerhalb der großen Kirchen weitestgehend anerkannt.

Betrachten wir die Fortschritte, die unsere Gesellschaft in den letzten 70 Jahren gemacht hat, dann wird schnell bewusst, wie sehr wir uns ohne die Hilfe der Religionen weiterentwickeln. Ausgehend von der schwärzesten Ära der Geschichte folgte zunächst am 10. Dezember 1948 die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Hier wurden die unantastbaren Rechte aller Menschen aus sich selbst heraus zum ersten Mal, wenn auch nicht für alle verbindlich, formuliert.

In den folgenden Jahrzehnten wurde die Gleichstellung der Frau immer weiter vorangetrieben. Es wurden die Rechte am eigenen Körper und über die eigene Sexualität kodifiziert und festgeschrieben. Rückschritte sind vor allem da zu erkennen, wo sich Religion auch heute noch zu gesellschaftlichen Entwicklungen äußert, wie zum Beispiel dem Recht auf Abtreibung oder dem Recht, das eigene Leben selbstbestimmt zu beenden.

Auch hier fällt es auf, dass die Gesellschaft sich sehr gut weiterentwickelt, ohne dabei auf die durch festgeschriebene Traditionen unbeweglichen Religionen zu warten. Gleichzeitig fällt in diesem Zusammenhang aber auch auf, dass die Kirchen – besonders in Deutschland – immer noch einen erheblichen Einfluss darauf haben, was in der Politik für gut und richtig befunden wird.


Religionen als Gemeinschaften

Für viele Menschen ist die eigene Religion ein Zentrum ihrer Identität. Sie folgen den gleichen Ritualen, singen die gleichen Lieder und treffen sich mit anderen Menschen, die das gleiche Bekenntnis haben. Für viele sind diese Gemeinschaften auch unabhängig davon ein Ort, um Trost und Geborgenheit zu spenden und zu erhalten. In dieser Hinsicht haben Religionen einen positiven Charakter, dem auch Humanist*innen vieles abgewinnen können.

Das Besondere an der Religion ist, dass sich die allermeisten Menschen nicht ausgesucht haben, Mitglied einer bestimmten Religion zu sein. Sehr oft wird diese von der Familie vorgegeben. In viele Religionsgemeinschaften wird man bereits als Säugling aufgenommen, bevor man diesem Beitritt überhaupt zustimmen kann. Aus einigen Religionen kann man danach nicht einmal mehr austreten. 

Damit stiftet die Religion nicht nur die Identität, sondern sie gibt diese bereits vor. Kurz ausgedrückt, die Religion erklärt den Gläubigen: „Wer sollst du sein?“. Atheist*innen und Humanist*innen ziehen diesem ein „Wer will ich sein?“ vor. 

Identitätsstiftend können heutzutage viele Gemeinschaften sein, denen man freiwillig beitritt und die man auch freiwillig wieder verlassen kann. Es gibt Sportclubs, Vereine für soziales Engagement oder auch Stammtische. Überall, wo sich Menschen treffen, ist dies ein Ausdruck ihrer Identität. Man hat sich irgendwann im Leben aktiv dazu entschlossen, Fußball zu spielen oder sich zu engagieren oder ein Teil eines Freundeskreises zu sein. Des Weiteren sind gerade die humanistischen Verbände dabei, eigene Seelsorgeangebote aufzubauen, die Menschen Trost spenden und ihnen in Belastungssituationen beistehen. 

Der Drang der Menschen zu mehr Selbstbestimmung drückt sich auch sehr stark in der Entwicklung der Mitgliedszahlen der großen Kirchen in Deutschland aus. Immer weniger Menschen gehören einer Religionsgemeinschaft an. Direkt nach der Wiedervereinigung waren etwas mehr als 70 Prozent der Deutschen in einer der großen Kirchen organisiert. 2018 waren es noch knapp 55 Prozent. In der gleichen Zeit hat sich der Anteil der konfessionsfreien Menschen auf knapp 40 Prozent nahezu verdoppelt.


Die Stellung der Kirchen in Deutschland

Aus der Tradition heraus spielen vor allem die christlichen Kirchen eine große Rolle im allgemeinen gesellschaftlichen Leben. Alle Bürger sind davon in irgendeiner Weise betroffen. Zu den offensichtlichen Aspekten gehören dabei die folgenden Punkte:

•    Wenn in Deutschland wichtige Persönlichkeiten sterben, gibt es öffentliche Gottesdienste.

•    Sobald ein Unglück passiert, sind religiöse Seelsorger*innen vor Ort. 

•    Wenn es darum geht, eine Frage der Ethik zu beantworten, werden kirchliche Würdenträger*innen befragt. 

•    Zu bestimmten kirchlichen Feiertagen senden alle Fernseh- und Radiosender ein kirchenbezogenes Programm. 

•    Das „Wort zum Sonntag“ spiegelt nicht die weltanschauliche Diversität in Deutschland wider, sondern bezieht sich zum allergrößten Teil nur auf religiöse Belange der großen Kirchen.

Hinzu kommen weniger sichtbare, dafür aber umso gravierendere Verflechtungen. Zum Beispiel unterstützt der Staat die Kirchen finanziell durch Übernahme von Inkassoaufgaben in Form des Einzugs der Kirchensteuer über das Finanzamt. Zusätzlich werden aus allgemeinen Steuergeldern Staatsleistungen an die Kirchen gezahlt. Diese gehen auf Vorgänge zurück, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts während der Napoleonischen Besatzung stattfanden. Bereits seit über 100 Jahren gibt es ausgehend von der Weimarer Reichsverfassung von 1919 einen Auflösungsauftrag, der ein bis heute nicht umgesetzter Verfassungsauftrag ist. Zuletzt seien noch die vielen Vertreter*innen der Kirche in Ethik- und Medienräten genannt, die einen indirekten Einfluss auf die Programmgestaltung in den Medien haben.


Die atheistisch-säkulare Perspektive dazu

Wir haben gesehen, dass Religionen heute nicht mehr für die Erklärung der Welt gebraucht werden. Sie eignen sich auch schlecht, um Moral und Ethik unserer modernen Welt herzuleiten. Und sie stellen nur eine von sehr vielen Möglichkeiten dar, sich selbst im Rahmen unserer Gesellschaft eine Identität zu geben. Die Frage, ob unsere Gesellschaft noch Religion braucht, kann daher aus Sicht von naturwissenschaftlich denkenden Atheist*innen leicht mit einem knappen „Nein“ beantwortet werden.

Daneben bleibt die Frage, ob Religion nicht trotzdem heute noch eine gesellschaftliche Rolle spielt. Diese Frage kann, wie wir auch gesehen haben, mit einem „Ja“ beantwortet werden. 

Dieser Einfluss der Religionen begründet sich allerdings heutzutage nicht mehr aus ihren eigentlichen Kernbereichen. Vielmehr sind es die durch Tradition gewonnenen Privilegien selbst, die diese Relevanz aufrechterhalten. Dabei werden Grenzen überschritten, wenn sich die Privilegien einzelner Weltanschauungen auch auf Menschen auswirken, die dieser nicht angehören. Es gibt keine gute Begründung, warum eine Weltanschauungsgemeinschaft gegenüber einer anderen bevorzugt behandelt werden sollte. Der einzig rationale Weg besteht daher darin, dass sich der Staat agnostisch gegenüber allen Weltanschauungen verhält, weil die Gesellschaft als Ganzes keine Religion (mehr) braucht.


Die humanistische Perspektive dazu

Das Weltanschauungsgebäude der meisten Humanist*innen hat keinen missionarischen Charakter. Die eigenen Positionen sind soweit gefestigt, dass man anerkennt, dass nicht jeder andere Mensch die eigenen Ansichten teilt. Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, ob es vernünftig ist, an Dinge zu glauben, die nicht beweisbar oder widerlegbar sind. Dieses hält überzeugte Humanist*innen nicht davon ab, mit Menschen zu diskutieren, die sie von ihrer speziellen Religion überzeugen möchten. Es ist aber nicht das eigentliche Ziel. Jeder Mensch darf und soll sich seine Weltanschauung selbst wählen, und darf die gewählte ohne Einschränkungen ausüben.

Darüber hinaus laden Humanist*innen zu einem regen Austausch zwischen den unterschiedlichsten Weltanschauungen ein. Alle Menschen mit einem liberalen Weltbild, die Hass, Ausgrenzung und Fundamentalismus ablehnen und sehen, dass auch die unterschiedlichsten Weltanschauungen in einen produktiven Dialog treten können, sind dabei jederzeit eingeladen, sich an einem solchen zu beteiligen.