Wodurch wird es eingängig, bleibt es in den Köpfen von Jugendlichen hängen, welche Dimensionen die Judenverfolgungen im Nationalsozialismus hatten? Und wie wird zum weiteren Nachdenken darüber angeregt? Vor dieser Frage stand unser „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“, als wir damit begannen, ein Schulungsprogramm auszuarbeiten. Wir haben uns entschieden, die Biografien der Juden und Jüdinnen unserer Stadt in den Mittelpunkt zu stellen.
Ein exemplarischer Bericht zum Arbeiten mit Biografien.
Wir erzählen Jugendlichen von Menschen
„Es war Ende 1936 oder auch Anfang 1937, an einem Freitagabend. Der Tisch im Haus meiner Familie war bereits festlich gedeckt wegen des beginnenden Shabbat, die Kerzen entzündet, die Familie um den Tisch versammelt.
Da klopfte es und ein Bediensteter des Klosters Loccum kam herein. Es tue ihm leid und er hoffe, dass das alles bald vorbei sei, sagte der Mann, aber das Kloster kündige seine Geschäftsbeziehungen mit den Fleischern Hammerschlag auf – wegen der ‚Vorschriften von oben‘.”
Diese Szene ist uns von Jose Hammerschlag, dem Sohn eines dieser Familienmitglieder, erzählt worden. Eine Geschichte, die in seiner Jugend oft erneut berichtet wurde, sagte er uns. Denn schließlich war es der Moment, der das Leben der Familie für immer veränderte. Dieser Moment war es, der die Frage auslöste: „Gehen – oder bleiben?“
Die Szene beschreiben wir Jugendlichen oft, wenn sie zu uns in unsere Ausstellungsräume kommen.
Ausstellungsraum, Geschichtswerkstatt, Lernwerkstatt, außerschulischer Lernort – mit den Begrifflichkeiten tun wir uns auch ein Jahr nach der Eröffnung unserer Räume noch schwer, denn irgendwie ist es alles das, was wir dort anbieten. Doch wenn wir auch noch nicht das eine Wort gefunden haben, das unser Tun prägnant beschreibt, so haben wir doch die Form gefunden, in der wir mit den Schüler*innen dort umgehen: Wir erzählen ihnen von Menschen. Menschen, die vor gar nicht mal allzu langer Zeit in unserer Stadt gelebt haben. Die wenige Meter von unserer Lernwerkstatt entfernt wohnten, liebten, lebten, sich stritten und wieder versöhnten, die die Schule nebenan besuchten, ihr täglich Brot in der Nähe erarbeiteten und deren Familien oftmals schon seit Generationen zu den Nachbarn in der kleinen Stadt gehörten.
„Sie waren Nachbarn“ – das ist auch der Titel unserer Ausstellung. Als Unterzeile steht dort „geflüchtet, deportiert, ermordet“. Die ehemalige jüdische Gemeinde Rehburg steht im Mittelpunkt – oder vielmehr die Menschen, die sie erst zu einer Gemeinde machten.
Mit unserer Ausstellung, in der wir davon erzählen, thematisieren wir ebenfalls die Schicksale dieser Menschen – eingebettet in den historischen Kontext mit seinen Gesetzen, Verordnungen, der Propaganda und den Einschränkungen, die all das auch für die jüdische Gemeinde hier in unserer Stadt bedeutete. Kommen dann Jugendliche zu uns, so zeigen wir ihnen das. Erzählen ihnen von diesen Menschen. Fordern sie auf, sich selbst mit ihnen auseinanderzusetzen. Und bitten sie dann, sich in diese ehemaligen Nachbarn einzufühlen.
Lernen durch Rollenspiele
„Gehen – oder bleiben?“ – Die Frage, die sich die Familie Hammerschlag 1936 oder 1937 am festlich gedeckten Shabbat-Tisch zum ersten Mal stellte, ist ein Ausgangspunkt, den wir Jugendlichen geben, um sich einfühlen zu können.
Anschaulich machen wir das, indem wir z. B. einen Tisch gedeckt haben. Kristallgläser und Silberbesteck stehen ebenso darauf wie Kerzenleuchter, Kiddusch-Becher und das traditionelle jüdische Hefegebäck Challa. An diesen Tisch dürfen die Jugendlichen sich setzen und sich dann eine Rolle aussuchen: Vater Salomon, der Witwer ist, war immer schon Schlachter in Rehburg. Sohn Julius, der im Begriff ist zu heiraten, hat eben seine Meisterprüfung abgelegt, um den väterlichen Betrieb bald zu übernehmen. Tochter Paula wohnt in einem Nachbarort mit ihrem Mann und ihrer erst zweijährigen Tochter.
„Gehen oder bleiben?“ – Diese Frage gilt es für jeden dann abzuwägen, zu überlegen, wie die Entscheidung ausfällt und aus welchen Gründen. Dazu müssen sie sich einfühlen in diese Menschen.
Ernsthaft setzt sich der überwiegende Teil der Jugendlichen mit dieser Aufgabe auseinander, und das nicht nur, weil sie schon wissen, dass sie dieses Gespräch zum Ende des Vormittags ihrer Klasse vorspielen sollen. Und die Beschäftigung mit dieser Frage löst viele weitere Fragen aus. Weshalb wurden die Jüdinnen und Juden überhaupt von den Nazis verfolgt? Wer hat dabei willig mitgemacht? Und das ist tatsächlich hier passiert?
Das „Hier“, die allein schon räumliche Nähe der Ereignisse, fördert die Identifikation. Wie nah es ist – auch das lassen wir die Jugendlichen erleben, indem wir sie während der Stunden bei uns auf die Straße schicken, hin zu den Stolpersteinen, die im Pflaster der Straßen liegen und auf denen die Namen der Menschen stehen, zu denen sie bereits einiges erfahren haben.
Die Erkenntnis, dass es hier passiert ist, hier, wo etliche der Jugendlichen selbst zu Hause sind, ist das eine, was viele aus den Stunden bei uns mitnehmen. Gar nicht mal so selten denken die Jugendlichen aber auch noch weiter. Was ist damals passiert – und was passiert heute? Hatten sie Erlebnisse, die irgendwie in die Richtung dessen gehen, was den Jüdinnen und Juden Rehburgs damals widerfahren ist?
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht in großen Lettern an der Wand unseres Seminarraumes. Für uns ist es das Leitbild, das wir vermitteln möchten. Manchmal hören wir es förmlich klicken in den Köpfen der Schüler*innen. Wenn ihnen bewusst wird, wie oft auch heute diese Würde noch angetastet wird. Das sind unsere Highlights. Dann meinen wir, es richtig gemacht zu haben.
Lernen durch Biografie-Erkundungen
Wir. Wer ist denn eigentlich mit „wir“ gemeint? Das ist ein Team in unserem Arbeitskreis Stolpersteine, das Lust hat, genau solche Gespräche mit Jugendlichen zu führen, ihnen die Biografien näher zu bringen, mit ihnen sehr intensiv zu arbeiten. Fünf pensionierte Lehrkräfte geben gerne ihre Zeit dafür her. Einige von ihnen sind bereits dabei gewesen, als wir die Biografie-Erkundungen erarbeitet haben. Einige sind dazu gekommen, als wir die ersten Angebote für Schulklassen machten.
An der Erarbeitung dieser Erkundungen der Biografien der Jüdinnen und Juden unserer Stadt sind sie letztlich aber alle beteiligt gewesen – und noch beteiligt. Jeder Besuch von Jugendlichen wird im Anschluss evaluiert. Wie haben sie reagiert? An welchen Stellen konnten wir ihnen unsere Intention nicht deutlich genug machen? Wo sollte wie nachgebessert oder verändert werden? Alles stellen wir immer wieder auf den Prüfstand. Die Biografien der jüdischen Nachbar*innen unserer Stadt sind die Grundlage. Anhand derer versuchen wir weltpolitische Hintergründe aus der Geschichte nah an die Jugendlichen zu bringen. So nah, wie sie auch an die Jüdinnen und Juden und die anderen Menschen in der Nachbarschaft hier herankamen. So sehr, wie die Menschen in unserer kleinen Stadt es sich von der einen oder anderen Seite zu eigen gemacht haben. Als Opfer, als Täter oder auch als Mitläufer.
Gelingen soll unser Ansatz auch dadurch, dass keiner der Jugendlichen sich zurückziehen kann. Alle sind gefordert, denn gearbeitet wird in kleinen Gruppen. Drei unserer Pädagog*innen sind jedes Mal dabei, wenn eine Schulklasse zu uns kommt. Jeder von ihnen betreut eine Kleingruppe, jede Gruppe arbeitet nur an einer Biografie.
Die Biografie von Julius Hammerschlag, der am Shabbat-Tisch die Frage nach Flucht aufwirft, ist eine davon. Ein Überlebender um den Preis, niemals wieder irgendwo heimisch geworden zu sein.
Paula Freundlich, die mit 13 Jahren mit einem Kindertransport nach England fliehen konnte, deren gesamte Familie aber ermordet wurde, ist ein weiteres Beispiel für eine Biografie. Was hat ihre Eltern bewogen, sie fortzuschicken? Das ist ein Rollenspiel in jener Gruppe. Dazu kommt die Aufgabe an jeden, an Paulas Stelle während der Flucht eine Postkarte an ihre Eltern zu schreiben.
Die dreizehnjährige Paula hat überlebt. Der zwölfjährige Walter Birkenruth nicht. Walter, der aus der Schule entlassen wurde, weil er Jude war. Der auf Rehburgs Straßen von Jungen in seinem Alter verprügelt wurde – weil er Jude war. Und der nach Warschau deportiert und ermordet wurde – weil er Jude war. Wie konnte es dazu kommen, dass diejenigen, die doch gemeinsam mit Walter die Schule besucht haben, ihn nun einfach so verprügeln? Auch dazu gibt es ein Rollenspiel.
Eine vierte Biografie, die wir anbieten, ist die von Frieda Schmidt. Sie kam als einzige aus der jüdischen Gemeinde nach Rehburg zurück – nur noch Haut und Knochen nach Monaten im KZ Theresienstadt. Welche Gedanken hatte sie in den Jahren darauf, wenn sie im Kreis der Rehburger*innen an einer Kaffeetafel saß? Jener Rehburger*innen, die doch zu ihrer Nachbarschaft gehörten und dem Furchtbaren und Unbeschreiblichen, das ihr widerfuhr, tatenlos zusahen?
Nachhaltigkeit ist unser Anliegen
Ein locker-leichter Ausflug für eine Schulklasse ist es niemals. Und unberührt geht vermutlich keiner aus unseren Räumen heraus. Wir versuchen dann noch anzustoßen, dass die Erkenntnisse, die Erlebnisse, das neue Wissen im Unterricht weiter aufgegriffen werden. Den begleitenden Lehrkräften bieten wir Mappen mit sämtlichem Schulungsmaterial an und verweisen auf unsere Website www.stolpersteine-rehburg-loccum.de mit ihren umfangreichen Informationen. Eine Bücherkiste mit weiterführender Literatur von Romanen bis zu Büchern, die die Geschichte der NS-Zeit hier im Landkreis Nienburg im Blick haben, bieten wir zur Ausleihe an. Geschenkt bekommen kann jede Gruppe auch einen kompletten Satz mit unseren Ausstellungstafeln. Nichts soll verpuffen, Nachhaltigkeit ist unser Anliegen.
Das bewährt sich. Erste Schulen haben beschlossen, dass in jedem Jahr ihr 9. oder auch 10. Jahrgang zu uns zu Besuch kommen soll. Weitergehende Kooperationen gibt es darüber hinaus. In der IGS Nienburg beispielsweise sind Lehrerstunden für ein Werkstatt-Angebot bewilligt worden – eine Lerngruppe arbeitet nun an einem Video-Rundgang durch unsere Ausstellung und durch Rehburg auf den Spuren der Stolpersteine. Auch sie wollen die Biografien dieser Nachbarinnen und Nachbarn erzählen – auf ihre Art und mit anderen Medien.
Angesprochen auf unsere Angebote haben wir alle Schulen, die in unserer Nähe sind: Gymnasien, Oberschulen, Integrierte Gesamtschulen, Förderschulen. Die Voraussetzungen und das Wissen, das die Schüler*innen mitbringen, sind zwar sehr unterschiedlich, so dass auch die Herangehensweise an die Gruppen immer wieder anders ist. Allen gemeinsam ist aber, dass sie kaum etwas davon gewusst haben, „dass das so nah ist“. So nah, dass die unfassbare und irgendwie anonyme Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden und so vielen weiteren, die ihre Heimat verlassen mussten, nun ein Gesicht bekommen hat.
Schulklassen, Konfi-Gruppen und andere Gruppen von Jugendlichen können gern zu unseren Biografie-Erkundungen angemeldet werden. Die Angebote sind allesamt kostenlos.