Religion ist eine Dimension im Leben vieler Menschen. Religion kommt daher also nicht erst in die Schule hinein, sondern sie kommt dort bereits vor, weil viele Schüler*innen und weitere Menschen, die am Schulleben in unterschiedlicher Ausprägung beteiligt sind, ebenfalls religiös sind.
Selbst wenn man unter „religiös sein“ nur die offiziellen Mitgliedschaften in Kirchen und Religionsgemeinschaften verstehen würde, wäre nach wie vor ein großer Teil der in Schule lernenden und arbeitenden Personen einer der Religionen zugehörig. Aber auch viele Lebensäußerungen, Zusammenhänge und Gepflogenheiten haben mit Religion zu tun. Die Bildung von Kindern und Jugendlichen in ihrer Haltung zu Religion zu fördern, kann schon deswegen nicht unbeachtet bleiben.
2.
Schule ist nicht nur Lernort, sondern Lebensort. Religion aus der Schule auszuklammern, würde eine zentrale Dimension des Lebens für viele an Schule beteiligte Menschen ignorieren. Folglich kann man sie aus der Schule auch nicht heraushalten, sondern muss hier bewusst mit ihr umgehen.
Dass Religion auch in der Schule nicht Privatsache ist, zeigen Debatten, Auseinandersetzungen auf dem Schulhof ebenso wie Rituale bei Todesfällen von Schüler*innen oder Lehrkräften. Dabei herrscht auch an Schulen nicht nur geduldete, sondern anerkannte und gewollte Vielfalt, religiös-weltanschauliche Freiheit und Respekt gegenüber allen Bekenntnissen und Weltanschauungen.2
3.
Religion gehört als ethische wie kulturelle Dimension von Bildung zum grundlegenden Bildungsauftrag der Schule und ist daher auch im (Niedersächsischen) Schulgesetz verankert.
Die Schule legt darauf Wert, „die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiter[zu]entwickeln.“ Diese individuelle Bildung soll Schüler*innen dazu befähigen, „nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten […].“3 Kinder und Jugendliche sollen also buchstäblich wert-voll handeln, ethisch nachdenken und Gesellschaft und Kultur dabei achten. Daher geht es darum, sich zu Formen von Religion zu verhalten – genau wie zu anderen Bereichen auch, etwa Politik, Kultur, Gesellschaft, Persönliches etc.
4.
Religiöse Vielfalt ist grundrechtlich verankert – als Freiheit. Auf dem Boden der Menschenrechte und des Grundgesetzes bilden Schulen Gestaltungsräume für Religionsfreiheit. Sie sind Lern- und Lebensorte unserer Gesellschaft, in der Menschen mit zunehmend verschiedenen religiösen bzw. weltanschaulichen Ansichten und Überzeugungen zusammenleben und miteinander lernen.
Die Sicherung von Religionsfreiheit ergibt sich auch aus der Erfahrung eines totalitären Systems mit menschenvernichtenden Zügen. Art. 4 des Grundgesetzes gibt den Rahmen für positive und negative Religionsfreiheit: Die Freiheit des Glaubens, Gewissens und des Bekenntnisses sind unverletzlich. Die Religionsausübung wird damit auch im Raum von Schule gewährleistet. Aber nach Art 140 GG gilt zugleich, dass religiöse Praxis kein Zwang sein darf.4 Religions- und Weltanschauungsfreiheit sind zusammen mit Gedanken- und Gewissensfreiheit auch klar im internationalen Recht verankert.5
5.
Der Staat ist neutral – jedoch nicht die in ihm Handelnden. Die säkulare Schule ist auf eine deutliche Offenheit gegenüber der Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Inhalte und Überzeugungen angewiesen. Daher ist es Bildungsaufgabe der Schule, eine Haltung von Respekt und Toleranz auszuprägen.
Würde man Religion in der Schule ignorieren, wäre es schwieriger, das einzuüben, was insgesamt notwendig ist: sich in einer Gesellschaft der Vielfalt mündig, sensibel, achtsam und respektvoll zu bewegen und zu begegnen.
6.
Religionsunterricht ist die gemeinsame Sache von Staat und Kirche. Der Staat bzw. das Land hat nach dem Zweiten Weltkrieg den Religionsunterricht im Grundgesetz in den meisten Bundesländern rechtlich als ordentliches Lehrfach gesichert6 – ein Status, den kein anderes Fach hat – damit dieser als Bildungsweg zu Religionsmündigkeit schulisch verankert ist. Diesen Weg gilt es konzeptionell als positionellen Unterricht weiterzuentwickeln und auf diese Weise zu festigen.
Auf der Basis des Grundgesetzes ist der für Niedersachsen rechtliche Weg im Loccumer Vertrag festgehalten. Der Staat organisiert den Unterricht und stellt die Lehrkräfte; die Kirchen und die jeweiligen Religionsgemeinschaften sind für Inhalte gleichermaßen verantwortlich. Mit der Neutralität des Staates sind Staat und Kirche getrennt; Religionsunterricht ist eine sogenannte gemischte Sache (lat. res mixta) mit regionalen Varianten.7 Daher braucht es für den Religionsunterricht einen Gestaltungsrahmen. Um in einer weiter gewordenen Welt friedens- und dialogfähig zu werden und zu sein, also die Verschiedenheit der Religionen anzuerkennen, kommt es darauf an, Religionsunterricht religionen- wie konfessionssensibel und differenzfreundlich zu organisieren und auch Gemeinsames zu gestalten. Bindungen an Konfessionen und Religionen müssen erkennbar sein; bei aller Aufmerksamkeit auf das Gemeinsame dürfen auch die Unterschiede nicht verdeckt, sondern müssen respektiert werden. Dazu braucht es die Weiterentwicklung der Kooperationen von Religionsgemeinschaften.
7.
Ökumenische Ziele wie Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bzw. der Natur zur Erhaltung der Welt erfordern eine gemeinsame Basis zur Anerkennung der Welt und Kritikfähigkeit an ihr. Diese muss durch Religionsunterricht und weltanschaulichen Unterricht gemeinsam verfolgt werden.
Ein Schulsystem, das zu einer verantwortungsvollen Haltung zur Welt ermutigen und befähigen will, muss pluralitätsfähig sein. D.h. es kann sich nicht hinter einer (Schein-)Neutralität verstecken, sondern muss den Umgang mit Positionen einüben, um selbst positionsfähig zu werden. Verantwortung in der Welt lernt man durch die Übernahme von Verantwortung in Schule und Welt. Die Religionsfächer und das Fach Werte und Normen sind ausgehend von ihren Grundüberzeugungen Lernorte für Kinder und Jugendliche in diesem Interesse. Dabei spielen die Begegnung und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Traditionen, Welthaltungen und Lebenspraxen eine Rolle. Religionsunterricht thematisiert im Rückbezug auf die Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung sowie mit der Geschichte und den Aussagen des christlichen Glaubens Fragen nach Gott, Glaube und Sinn, nach Anfang und Ende des Lebens und muss zusammen mit dem Werte und Normen-Unterricht das gemeinsame Gespräch über Überzeugungen im Blick auf Wahrheit und Gerechtigkeit, den Erhalt der Natur, Frieden und Zukunft fördern.
8.
Der Religionsunterricht ist ein Raum für die Erprobung und Reflexion der Befähigung zur religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe. Religion ist keine Sachkunde, sondern eine Kultur. Um mit Religion umgehen zu können, muss man sich – wie in anderen Fachunterrichten auch – praktisch in ihr auskennen und Innenansichten darstellen und mitteilen können. Für eine pluralitätstaugliche Weiterentwicklung braucht es Zeit-Räume und Labore, in denen der Wechsel von unterschiedlichen, religiösen wie nicht-religiösen Perspektiven auf ein Thema experimentell eingeübt wird. Religionsunterricht ist daher als ein positionelles, dialoginteressiertes Kontakt- und Kulturfach in Gegenüber und Kooperation mit anderen Fächern zu gestalten.
Schule als Lern- wie Lebensort und ernsthafter Erprobungsraum für religiöse – ästhetische wie ethische – Kultur verträgt unterschiedliche Formen von Religionsfreundlichkeit und -sensibilität. Das geschieht als Konkretion in mehrerlei Weise: Für die religiöse Reflexionsfähigkeit ist ein offener Umgang mit unterschiedlichen Religionen, aber auch die inhaltliche Sprachfähigkeit zu einzelnen Religionen und Weltanschauungen wie Kritikfähigkeit an Religion gefragt. Umgang mit Fremdheit bedeutet das Einhalten des Überwältigungsverbotes. Dies erfordert didaktische Umsetzung – Lernen über Religion, aber auch Lernen von und mit Religion durch Formen distanzierter Teilnahme. Religionsbezogene Sprachfähigkeit an Schulen unter den Schüler*innen und die Kenntnisse von Innenperspektiven der je anderen Religion und Weltanschauung werden z. B. durch Teilnehmende Beobachtung gefördert. Gemeinsames Feiern in dieser Weise hilft über die Anerkennung von Verschiedenheit hinaus, Gemeinsames zu heben und zu begehen. Damit wird es möglich, andere Religionen unter Einhaltung nötiger Distanzen trotzdem als kulturelle Gestalt(en) von Religion kennenzulernen und anzuerkennen. Gemeinsame „inter“-fachliche, kooperative Strukturen und Projekte, in denen die unterschiedlichen Sichten wahrgenommen werden, stärken die Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Perspektivenwechsel, ggf. auch ein Konfliktmanagement. Kontakte in die jeweiligen Kontextfelder verdeutlichen die unterschiedlichen Verwurzelungen.
9.
Schulische religiöse Bildung ist Rück-Bindung (religio). Sie schafft Orientierungswissen.
Leben ist nicht neutral. Religion in der Schule hat daher nicht nur die Chance, sondern die Aufgabe, den Bindungen der Schüler*innen nachzudenken, ggf. Positionen zu verlassen und neue Bindungen zu ermöglichen. Damit werden ein religiös-kulturelles Orientierungswissen für den Umgang mit und das Finden von begründeten Standpunkten gefördert. Religionsunterricht unterstützt die Schüler*innen beim Erwerb eines religiös-kulturellen Orientierungswissens, hilft ihnen bei der handlungsorientierten Bearbeitung von ethischen Fragen und befähigt zur Entwicklung einer selbstverantwortlichen religiös-weltanschaulichen Daseinsvergewisserung und Identitätsbildung.
Positionalität und Respekt erfordern von Lehrkräften eine erzieherische Haltung: Um der Kinder und Jugendlichen willen kennen sie ihre eigene Religiosität, können diese reflektierend vertreten und setzen sich selbst zu Positionen der eigenen und anderen Religionen wie Konfessionen ins Verhältnis. Die Ausbildung und Fortbildung von Religionslehrkräften ist nicht möglich ohne die Befähigung zum Umgang mit Vielfalt und die Ausprägung von Positionalität. Die Arbeit an religiösen und interreligiösen Dimensionen eines Schulprogramms stärkt das schulische Profil im Hinblick auf die Gewährung solchen religionssensiblen Orientierungswissens.
10.
Religiöse Bildung in Schule antwortet aus transparenten religiösen Positionen heraus perspektivisch auf Herausforderungen der Welt und bietet so einen ernsthaften Erprobungsraum für religionssensible Identitäts- und Gemeinschaftsbildung.
Die Schule verträgt daher
• kultursensible Religionsfreundlichkeit;
• nicht nur Toleranz, sondern respektvolle Haltung;
• Dialogfähigkeit durch Positionsfindung;
• Mut zur Erprobung kooperativer religiöser Bildung.
Die Schule braucht:
• einen responsiven Umgang mit Religion;
• religiöse Bildung in Gestalt von konfessionssensiblem Unterricht, Seelsorge und diakonischem Engagement;
• reflektierte religiöse Praxis;
• antwortkompetente Menschen – verantwortungsvolle Profis
• wissenschaftlich und kirchlich begleitete Modelle der Erprobung, Reflexion und Weiterentwicklung kooperativer religiöser Bildung.
Anmerkungen
- Überarbeitete Fassung eines Impulsreferates zum gleichnamigen öffentliches Dialogforum des Kirchenkreises Lüneburg am 27.09.2018. Den Anlass bot die im Advent 2017 durch Proteste einer muslimischen Schülerin in einem Lüneburger Gymnasium angestoßene Debatte um religionssensiblen Umgang mit dem Singen christlicher Weihnachtslieder in der Schule.
- SchulG Niedersachsen § 3 zur Freiheit des Bekenntnisses und der Weltanschauung: „(1) Die öffentlichen Schulen sind grundsätzlich Schulen für Schülerinnen und Schüler aller Bekenntnisse und Weltanschauungen. (2) In den öffentlichen Schulen werden die Schülerinnen und Schüler ohne Unterschied des Bekenntnisses und der Weltanschauung gemeinsam erzogen und unterrichtet. In Erziehung und Unterricht ist die Freiheit zum Bekennen religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zu achten und auf die Empfindungen Andersdenkender Rücksicht zu nehmen.“
- SchulG Niedersachsen § 2 (1) Bildungsauftrag der Schule RU: www.mk.niedersachsen.de/download/.../Erlass_Religionsunterricht_1.8.2011.
- Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Weimarer Verfassung [Individuelle Religionsfreiheit] garantiert, dass niemand „zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden“ darf.
- Menschen haben grundsätzlich „das Recht, eine Religion oder Weltanschauung zu haben, sie zu wechseln oder keiner Religion anzugehören. Sie haben auch das Recht, allein oder in Gemeinschaft nach diesen Überzeugungen zu leben.“ (www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/religionsfreiheit).
- Art. 7 GG. Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand (Bremen, Brandenburg, Berlin).
- Art. 7 GG Abs. 1 bis 3 [Schulwesen] betont: „(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.“