Mitmachen oder Widerstehen – Lernen mit Biografien am ZeitZentrum Zivilcourage

Von Wiebke Hiemesch

 

Der außerschulische Lernort ZeitZentrum Zivilcourage stellt einen biografischen Zugang in den Mittelpunkt der Vermittlungsarbeit und kombiniert die historische Darstellung der hannoverschen Stadtgesellschaft im Nationalsozialismus mit Demokratielernen für Gegenwart und Zukunft.

Mit dem ZeitZentrum Zivilcourage eröffnet die Landeshauptstadt Hannover im Frühjahr 2020 einen außerschulischen Lernort zur hannoverschen Stadtgesellschaft im Nationalsozialismus. Unter dem Motto „Mitmachen oder Widerstehen?“ soll eine kritische und gegenwartsorientierte Auseinandersetzung mit Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten im Sinne eines demokratischen und zivilcouragierten Zusammenlebens angeregt werden. Damit führt das ZeitZentrum Zivilcourage die historische Auseinandersetzung mit einer Handlungs- und Zukunftsorientierung zusammen.1

Das ZeitZentrum Zivilcourage richtet sich an Einzelbesucher*innen sowie schulische und außerschulische Lerngruppen ab einem Alter von vierzehn Jahren. Die pädagogischen Mitarbeiter*innen setzen in mehrstündigen Workshops auf partizipative und interaktive Diskussionsformate, die vielfältige Perspektiven zulassen. Die Schüler*innen werden dazu angeregt, sich ausgehend von ihren Lebenswelten, selbstbestimmt und forschend die Inhalte zu erschließen. Ihnen wird der Raum gegeben, eigene Fragen zu stellen und sich in die Gestaltung der Themen und Angebote des ZeitZentrums einzubringen.

Ein Beispiel dafür ist das jährlich stattfindende Teilhabeprojekt mit Freiwilligendienstleistenden. In den letzten zwei Jahren entstand ein inszeniertes Jugendzimmer, das von Bühnenbildnerinnen umgesetzt wurde. In der interaktiven Lernumgebung können Schüler*innen der Geschichte von „Bex“ nachgehen, einem jugendlichen Aussteiger aus dem rechtsradikalen Milieu.


Erste Begegnung an der Portraitwand

Der zentrale Zugang zu den Themen des ZeitZentrums Zivilcourage erfolgt über exemplarische Biografien von 45 Personen mit Bezug zu Hannover im Nationalsozialismus. Bei der Begrüßung erhalten die Besucher*innen eine Eintrittskarte mit dem Portrait einer dieser 45 Personen und damit die Aufforderung, während des Besuchs diese Biografie zu erforschen. Die erste Begegnung erfolgt an der Portraitwand „Menschen in Hannover“. Auf 45 drehbaren Würfeln ist je ein Portrait abgebildet – Name, Alter und Lebensgeschichte werden noch nicht genannt. In der pädagogischen Arbeit können anhand der Gesichtszüge erste Assoziationen zu der Person und ihrem Lebensweg angeregt werden. Durch Drehen des Würfels erhalten die Besucher*innen dann kurze personenbezogene Informationen und Zitate, die den konkreten Lebensweg jedoch ungeklärt lassen und zur weiteren Recherche anregen.


Die Komplexität der hannoverschen Stadtgesellschaft erforschen

Die 45 Biografien bilden einen Querschnitt der hannoverschen Stadtgesellschaft im Nationalsozialismus ab, der von Täter*innenschaft, Zuschauer*innenschaft über Vorteilsnahme bis hin zu Widerstand und rassenideologischer Verfolgung und Ermordung reicht. Dieser Querschnitt vermeidet eine Opfer- oder Täterzentrierung ebenso wie er keine eindeutigen moralischen Urteile vorwegnimmt. Stattdessen wird eingefangen, wie komplex sich das soziale Geschehen darstellte.
Nachdem die Besucher*innen erste Anhaltspunkte zu ihrer Person erfahren haben, gelangen sie zu dem wissensbasierten Modul „Mein Erbe?“. Hier finden sie eine chronologische Darstellung lokalhistorischer und deutschlandweiter Ereignisse im Nationalsozialismus, einschließlich der Vorgeschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts sowie der Aufarbeitung und der Geschichte rechtsextremer Gruppierungen bis in die Gegenwart. Über biografische Einschübe können sie sich Stück für Stück den Lebensweg „ihrer“ Person erschließen und sie in ihrer Verwobenheit mit der Ereignisgeschichte verstehen.
Biografische Spuren zu der Person finden sich in fast allen der insgesamt sechs Module. Beispielsweise werden dreizehn der Biografien in individuell inszenierten Kabinetten mit eigenen thematischen Schwerpunkten dargestellt, unter anderem die Verfolgung aufgrund von Homosexualität, die Rettung durch Kindertransporte, politischer Widerstand oder die Rolle eines KZ-Kommandanten. In dem Modul „Meine Stadt?“ werden unter anderem kurze Audiosequenzen zu den Orten der 45 Personen bereitgestellt. Die Besucher*innen finden sie anhand eines aktuellen Haltestellenplans des öffentlichen Nahverkehrs.


Mitmachen oder Widerstehen – Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten damals und heute

Exemplarisch anhand realer Lebensgeschichten lernen die Besucher*innen im ZeitZentrum Zivilcourage, wie Nationalsozialismus, Antisemitismus und anderen Formen von Rassismus entstehen und wirken. Das Vermittlungskonzept setzt bei den Fragen der Besucher*innen an und regt sie zu einem selbstbestimmten und forschenden Lernen an. In der pädagogischen Arbeit lernen Schüler*innen, die Lebensgeschichte im historischen Kontext zu erzählen und vor dem Hintergrund der Frage „Mitmachen oder Widerstehen?“ kritisch zu reflektieren. So kommt die Gruppe über unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten in ein Gespräch und wird zu einem multiperspektivischen und kontroversen Blick auf Geschichte und Erinnerung angeregt.

Lernen mit Biografien heißt im ZeitZentrum Zivilcourage, vergangenes Geschehen nicht mit Gegenwart gleichzusetzen, sondern es auf Brüche und Ähnlichkeiten zu heutigem gesellschaftlichen Handeln zu befragen und die eigene Erinnerungspraxis kritisch zu reflektieren. Alle Module und pädagogischen Angebote regen die verschiedenen Besucher*innengruppen an, darüber nachzudenken, was die Themen und Inhalte mit ihnen zu tun haben und wie sich jede*r Einzelne für ein demokratisches und zivilcouragiertes Zusammenleben einsetzen kann.

 

Anmerkungen:

  1.      Vgl. LHH Drucksache Nr. 2968/2018 vom 06.12.2018: Anlage 1. Pädagogisches Konzept, online: https://e-government.hannover-stadt.de/lhhsimwebre.nsf/DS/2968-2018.

Das ZeitZentrum Zivilcourage wird voraussichtlich im Frühjahr 2020 am Theodor-Lessing-Platz 12a eröffnet. Erinnerungskultur@Hannover-Stadt.de; www.erinnerungs kultur-hannover.de