Die EduMaP

von Wolfgang Hasberg

Ein Ansatz multidirektionaler Erinnerungsdidaktik zur christlichen Friedensbildung

An Erinnerung lernen ist wesentlicher Bestandteil christlicher Bildung. Darauf hat bereits Johann Baptist Metz in seinem Werk „Memoria Passionis“ mit Nachdruck hingewiesen.1  Denn das Christentum ist eine Religion der Erinnerung, was sich bis auf seine Ursprünge zurückführen lässt: Bereits biblisches Lernen war und ist erinnerndes Lernen. Zudem ist die christliche Selbstvergewisserung an das langfristige kulturelle Gedächtnis der Kirchen gebunden. Die „memoria passionis“, also die Erinnerung an die Leiden Christi, versteht Metz vor diesem Hintergrund als eine „gefährliche“ Erinnerung, da sie Christen im Einspruch gegen das Vergessen beunruhige und auf Umkehr und Veränderung dränge. So stelle das Christentum einen substanziellen „Widerstand gegen kulturelle Amnesie“ dar. 2 Folgt man diesen Überlegungen, kann Erinnerung als eine „theologische Basiskategorie“ 3 und dementsprechend auch als ein „Leitwort religiöser Bildung“ verstanden werden.4

Doch was ist Erinnerung? Wer oder was hat Anspruch darauf, erinnert zu werden? Und wie ist aus Erinnerung zu lernen? Diese Fragen stellen auch die Kirchengeschichte und ihre Didaktik vor große Herausforderungen. Im Wissenschaftlich-Religionspädagogischen Lexikon WiReLex heißt es hierzu:
 
„Aufgrund der Pluralisierung der Gesellschaft ist Erinnerung mehr denn je ein kontingentes und unabschließbares Geschehen, das von Generation zu Generation und zwischen den verschiedenen Gruppen immer wieder neu ausgehandelt und vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen, insbesondere historisch-politischer und sozialer Entwicklungen, rekontextualisiert wird beziehungsweise werden muss.“ 5

Angesichts dieses Befundes von der einen dominierenden Erinnerung zu sprechen, erscheint daher auch im Bereich der Kirchengeschichte und ihrer Didaktik unmöglich. Gleichwohl gibt es neuere didaktische und methodische Ansätze, die sich der Pluralität christlichen Erinnerns und den damit verbundenen Herausforderungen stellen. Sie zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie durch ökumenische, multiperspektivische und postkoloniale Entwürfe sowie durch Ansätze forschenden Lernens versuchen, der Gleichzeitigkeit von Individualisierung und globaler Entgrenzung der Lebenswelten Lernender gerecht zu werden6  und dadurch die erhebliche Spannung zwischen der anamnetischen Religion Christentum und der aktuellen Geschichtsvergessenheit ihrer Bildungskonzepte auszugleichen. Die erinnerungskulturelle Reflek-tion im Sinne einer „Christlichen Erinnerungsdidaktik“, wie Harry Noormann dieses Konzept bereits vor 15 Jahren genannt hat,7  bildet in dem Zusammenhang einen wichtigen Rahmen. Allerdings macht es Sinn, es um den Faktor der Multidirektionalität zu erweitern. Dies soll in dem vorliegenden Artikel an dem prakti-schen Beispiel der sogenannten „EduMaP“ („Education Makes Peace“), einer digitalen Weltkarte zur Friedensbildung, verdeutlicht werden. So möchte der Artikel anregen, sich mit dieser Weltkarte und dem da-zugehörigen Friedenshandbuch im Unterricht konkret auseinanderzusetzen.

Multidirektionale Erinnerungsdidaktik im kirchengeschichtlichen Kontext

Zunächst aber ist zu klären, was sich hinter dem Begriff einer multidirektionalen Erinnerung verbirgt. Zurückzuführen ist er auf den amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Rothberg, der 2009 ein Werk mit ebendiesem Titel veröffentlichte, in dem er verschiedene Erinnerungstraditionen – konkret diejenigen an die Shoah und diejenigen an die kolonialen Verbrechen – nicht gegeneinander auszuspielen, sondern ein sich gleichsam ergänzendes Gedächtnis und Gedenken zu etablieren sucht.8  Vehement wendet sich Rothberg dabei gegen die Vorstellung, Aufmerksamkeit sei eine knappe Ressource, weshalb Erinnerung die Form eines Nullsummenspiels annehme. Vielmehr führe das Konzept der Multidirektionalität zu einer produktiven erinnerungskulturellen Dynamik, die unter der Voraussetzung, Erinnerung nicht als Eigentum bestimmter Gruppen zu verstehen, auf ein Mehr an Erinnerung hinauslaufe, da durch die wechselseitigen Bezugnahmen verschiedene historische Geschehnisse und Prozesse gleichzeitig in den Fokus rücken und damit ein inkludierender Effekt entstehe.9 

Gerade in Lernprozessen kann eine so intendierte multidirektionale Erinnerung dazu beitragen, historische Ereignisse, Geschehnisse und Prozesse durch Vergleiche, Analogien, Aneignungen, Verweise, Zitate und die damit verbundenen Reflektionen wechselseitig zu beleuchten, den vielschichtigen und vielstimmigen Erinnerungen Platz einzuräumen und erinnerndes Lernen als einen Prozess zu verstehen, der permanenter Aushandlungen und Revisionen bedarf. Allerdings bleibt zu beachten, dass damit keine Infragestel-lung der Singularität der Shoah – auch nicht als ein gleichsam „versehentliches“ Nebenprodukt – einhergehen darf. Denn Rothbergs Ansatz bleibt in dem Sinne brisant, zeigen die Reaktionen darauf doch eindrücklich, wie verbissen der Streit um historische Deutungshoheiten bis heute geführt wird.10

Interessant an dem Konzept der multidirektionalen Erinnerung im Zusammenhang mit erinnerndem Lernen ist indes nicht zuletzt der Begriff des Archivs, den Rothberg ebenfalls ins Spiel bringt: „Weit davon entfernt, an einer einzelnen Institution oder an einem einzelnen Ort beherbergt zu sein, […], ist das Archiv der multidirektionalen Erinnerung auf irreduzible Weise transversal: Es überschreitet die Grenzen verschiedener Gattungen, nationaler Kontexte, Epochen und kultureller Traditionen.“11  Darüber hinaus stelle es, so Rothberg weiter, Verbindungen zwischen verstreuten Dokumenten her und gewähre eine neue Art komparativen Denkens, die auch für Lernprozesse im Sinne einer Entgrenzung nationaler, epochaler und kultureller Kontexte bedenkenswert erscheint. So muss es in Lernprozessen darum gehen, Archive zu schaffen, die in der Pluralität der Erfahrungen widersprüchliche Erfahrungen einschließen und diese produktiv nutzbar machen.

Vor diesem theoretischen Hintergrund kann eine multidirektionale Christliche Erinnerungsdidaktik Orte in der Topografie der Geschichte von Kirchen und Religionen identifizieren, an denen die Lernenden ihre Ge-schichten zu Gehör bringen, Erinnerungen im Sinne von „shared memories“ zu teilen lernen und im Sinne von „divided“ bzw. „conflicting memories“ um Wahrheiten ringen, wo Erfahrungen von Unrecht, Hass und Gewalt aufeinandertreffen.12  Es muss mit Blick auf die Lernenden also darum gehen, verschiedene chris-tentumsgeschichtliche Aspekte in den Blick zu nehmen, sie zueinander ins Verhältnis zu setzen und sie mit eigenen biographisch-kulturellen Erfahrungen abzugleichen.

Die EduMaP: Eine digitale Karte zur Friedensbildung

Ein konkretes Beispiel, in dem viele der genannten Aspekte umgesetzt sind, stellt die sogenannte „EduMaP“ dar. Entstanden ist sie im Rahmen des Netzwerks GPENreformation, einem weltweiten Zusammenschluss evangelischer Schulen, und dort in einem von Erasmus+ geförderten Projekt, für das fünf europäische protestantische Schulen sowie die Freie Universität Amsterdam, das Comenius Institut, die Berghof-Foundation und die Bildungsabteilung der EKD zusammenarbeiten.

Bei der EduMaP handelt es sich um eine Browser-basierte digitale Weltkarte, in die Schüler*innen weltweit in selbständiger Projektarbeit virtuelle Orte aus ihrer Umgebung eintragen können, die in Verbindung mit Frieden und Konflikten stehen. Dies müssen keine historischen Orte sein, aber in den meisten Fällen spielt Erinnerungslernen auch in der Friedensbildung eine zentrale Rolle. Lernende können in diese Karte an den von ihnen gewählten Orten 360-Grad-Fotografien, Infotafeln mit Texten und Bildern, eigene Videos, Audiodateien und kleine, selbstentwickelte Lernspiele einfügen. Derzeit sind zwar erst einige wenige virtuelle Orte in Europa eingetragen. Die Karte soll aber weiter gefüllt werden. Das heißt: Lernende können ihre Orte mit eigenen Projekten über ein Formular eintragen, ihre Dateien hochladen und die Karte so erweitern.

Die technische Anleitung hierzu finden die Lernenden wie auch ihre Lehrkräfte in einem vierteiligen digitalen Friedenshandbuch, das browserbasiert gelesen werden kann und von GPENreformation ebenfalls kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Der erste Teil des Handbuchs „Frieden und Konflikte mit Schü-ler*innen erleben“ führt in das Projekt ein und unterstützt dabei, Friedensbildung zu thematisieren und die EduMaP im Unterricht anzuwenden.

In drei weiteren Bänden werden vertiefende Informationen sowie ergänzende Materialien zur Friedenbildung allgemein, zu Frieden, Religion und Weltanschauung sowie zur Digitalisierung in der Friedensbildung vermittelt. Für den weltweiten Einsatz steht das Handbuch in sieben Sprachen zur Verfügung.

In ihrer Anlage bietet die EduMaP so die Möglichkeit, ein weltweites Archiv von Erinnerungsorten anzulegen, in das sich Schüler*innen von überall her mit eigenen Projekten einbringen können. Als ein digitales Lernmedium erfüllt sie damit viele der Ansprüche, die eine der globalen, pluralen, multidimensionalen Wirklichkeit angemessene Christliche Erinnerungsdidaktik erfüllen sollte: Die Arbeit mit der Karte ist zum einen projekt- und produktorientiert und ermöglicht selbständiges forschendes Lernen an einem sowohl lokalen als auch globalen Thema. Zum anderen eröffnet sie Schüler*innen die Möglichkeit, multiperspektivisch und multidirektional, schulübergreifend und transnational an einem gemeinsamen Produkt zu arbeiten. Auf diese Weise können unterschiedliche Sichtweisen auf die Themen Kirche, Frieden, Krieg und Gerechtigkeit eingenommen sowie Erfahrungen von Alterität ermöglicht werden, gerade wenn sich die Lernenden auch mit den Produkten anderer Schulen auseinandersetzen. Zudem werden in der EduMaP gleichwertig unter-schiedliche Orte und Geschichten nebeneinanderstellt, ohne die eine Erinnerung gegen die andere auszuspielen, indem aufgezeigt wird, dass es unterschiedliche Formen von christlichem Glauben sowie ganz verschiedene Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Frieden gibt.

Darüber hinaus können mit der Karte Fragen kolonialer Gewalt in den Blick genommen und historisch-forschendes Lernen mit ethischem Lernen verknüpft werden. Gerechtigkeitsfragen rücken ebenso in den Blick wie der eigene Umgang mit Geschichte und Erinnerung. Die Lernenden können ihre Geschichten zu Gehör bringen, Erinnerungen teilen, sie zueinander ins Verhältnis setzen und mit eigenen biografisch-kulturellen Erfahrungen abgleichen. Schließlich wird durch die Arbeit an einem solchen Projekt auch die Medienkompetenz gefördert.

Insgesamt zeigt sich an diesem Beispiel, wie zentral virtuelle Karten, Archive und Orte für eine sich den aktuellen Herausforderungen stellende Kirchengeschichtsdidaktik sein können. Gerade im Hinblick auf ein multidirektionales Erinnerungslernen spielen Digitalität, Vernetzung und Projektlernen eine wichtige Rolle. Zugleich zeigt sich an der EduMaP, wie (kirchen-)historisches Lernen andere theologische Bereiche, in diesem Fall das ethische Lernen, bereichern kann. So leistet Kirchengeschichte auch als Lernfeld und Me-thode einen wichtigen Beitrag zum theologischen Lernen bei gleichzeitiger Förderung des Geschichtsbewusstseins.

Anmerkungen

  1. Vgl. Metz, Memoria Passionis.
  2. Metz, Im Pluralismus der Religions- und Kulturwelten, 200.203.
  3. Boschki, Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, 1; Konz, Anamnetisches Theologisieren, 11.
  4. Noormann, Kirchengeschichte, 11.
  5. Boschki, Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, 3.
  6. Vgl. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 74 (3, 2022) mit dem Schwerpunkt Kirchengeschichtsdidaktik; zudem Bork / Gärtner (Hg.), Kirchengeschichtsdidaktik.
  7. Vgl. Noormann, Einleitung, 15-18.
  8. Rothberg, Multidirektionale Erinnerung.
  9. Vgl. Aster / König: Nachwort, 370-373.
  10. Darauf verweist auch der jüngst erschienene Sammelband Mendel (Hg.), Singularität im Plural.
  11. Rothberg, Multidirektionale Erinnerung, 44.
  12. Vgl. Konz, Anamnetisches Theologisieren, 40f.

Literatur

  • Aster, Felix / König, Jana: Nachwort: Multidirektionale Erinnerung in Deutschland, in: Rothberg, Michael, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021, 361-379
  • Bork, Stefan / Gärtner, Claudia (Hg.): Kirchengeschichtsdidaktik. Verortungen zwischen Religionspädagogik, Kirchenge-schichte und Geschichtsdidaktik, Stuttgart 2016
  • Boschki, Reinhold: Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, in: WiReLex 2015. https://kurzlinks.de/b6gq (25.05.2024)
  • EduMap: https://kurzlinks.de/ovgc
  • EKD / GPEN (Hg): Frieden und Konflikte mit Schüler*innen erleben!, Digitales Handbuch. https://ogy.de/0w0q (25.05.2024)
  • Konz, Britta: Postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik im Horizont der Lebenswelten Heranwachsender, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 74 (2022) 3, 272-284
  • Konz, Britta: Anamnetisches Theologisieren mit Kunst. Ein Beitrag zur Kirchengeschichtsdidaktik, Kassel 2019
  • Mendel, Meron (Hg.): Singularität im Plural. Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit, Weinheim / Basel 2023
  • Metz, Johann Baptist: Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg u.a. 2006
  • Metz, Johann Baptist: Im Pluralismus der Religions- und Kulturwelten. Anmerkungen zu einem theologisch-politischen Weltprogramm (1997), in: Metz, Johann Baptist, Zum Begriff der politischen Theologie 1967-1997, Mainz 1997, 197-206
  • Noormann, Harry: Einleitung. Christliche Geschichte erinnern lernen in Gegenwart der Anderen, in: Noormann, Harry (Hg.): Arbeitsbuch Religion und Geschichte. Das Christentum im interkulturellen Gedächtnis, Bd. 1, Stuttgart 2009, 9-23
  • Noormann, Harry: Kirchengeschichte, Stuttgart 2006
  • Rothberg, Michael: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021