Biografische Zugänge zu Kirchengeschichte - Religionsdidaktische Skizzen

von Konstantin Lindner

Auf die Frage, welche Personen sie bewundern, zeigte sich gemäß der SINUS-Jugendstudie 2020, dass bei 14- bis 17-Jährigen Familienmitglieder hohes Ansehen genießen – insbesondere die Mütter. Ebenso werden Menschen aus politischen Feldern wie die Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, aus dem Showbiz wie der Rapper „Capital Bra“ oder „charismatische historisch-politische Figuren“1  wie Che Guevara genannt. Dieses – sich auch in der Following-Kultur dokumentierende – Bedürfnis Heranwachsender an Biografischem kann in kirchengeschichtsdidaktischer Hinsicht aufgegriffen werden. Es lohnt sich, Schüler*innen im Religionsunterricht mittels biografischer Zugänge mit Kirchengeschichte in Kontakt zu bringen und ihnen (religiöse) Selbstvergewisserungsprozesse zu ermöglichen.


Biografische Kirchengeschichtsschreibung – Skizzenhafte Einordnungen

Die biografische Thematisierung von Kirchengeschichte im Religionsunterricht steht in einer historiografischen Tradition: Seit Jahrhunderten wird (Kirchen-)Geschichte in Bezug auf Personen erinnert. Fast alle Epochen überliefern in biografischer Absicht verfasste Quellen. Bereits im Zeitalter der frühen Kirche entfaltet sich ein entsprechendes Schrifttum: Sowohl der Wunsch, über vermeintlich authentische „Augenzeugenberichte“ Jesus Christus und seinen Jüngern möglichst nahezukommen, als auch das Bedürfnis, in Zeiten der Verfolgung Identifikationsfiguren für einen starken Glauben greifen zu können, führen zu einer ausgeprägten Nachfrage an biografisch ausgerichteter christlicher Schriftproduktion, die bis heute wichtige Quellen für Kirchengeschichtsschreibung liefert. Innerhalb der ersten fünf christlichen Jahrhunderte prägen sich die drei Formen biografischer Darstellung aus, die in kirchenhistoriografischer Hinsicht relevant sind: Biografie, Autobiografie (vgl. Augustinus‘ Confessiones) und Hagiografie. Letztere Form bietet meist idealisiert überzeichnete Präsentationen verehrungswürdiger Christ*innen; im Zuge von Reformation und Humanismus sowie des sich etablierenden historischen Bewusstseins wurde sie jedoch immer weniger als Geschichtsschreibungsform identifiziert.
Zwar prägt die an Personen orientierte Kirchengeschichtsschreibung bis in die Gegenwart – insbesondere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde sie jedoch auch problematisiert: Grund dafür waren begründete Vorbehalte gegenüber der bis dato dominierenden Praxis, Geschichte so darzustellen, als werde sie durch einzelne – meist männliche – Personen „gemacht“. Mittlerweile werden nicht mehr nur „große Männer“ als Movens von Kirchengeschichte portraitiert, sondern auch die Lebens- und Glaubensgestaltungen von Frauen oder Personen sog. „niedriger“ Gesellschaftsschichten. Alltags- und mentalitätsgeschichtliche Interessen haben zu neuen Impulsen für biografische (Kirchen-)Geschichtsschreibung geführt. Gleichwohl ist es für manche Phasen der Kirchengeschichte – vor allem für Antike und Mittelalter – nur bedingt möglich, biografische Zugänge historisch auszuloten, denn insbesondere aus der Sicht oder gar aus der Hand von sog. „kleinen Leuten“ fehlen Quellen weitgehend.


Biografische Zugänge zur Kirchengeschichte. Didaktische Potenziale

Die biografische (Re-)Konstruktion von Kirchengeschichte stellt eine sowohl historiografisch passende als auch mit den Interessen der Rezipient*innen korrelierende Option dar, sich der Geschichte des christlichen Glaubens und seiner beständigen kritisch-erinnernden Aktualisierung durch Menschen über Jahrhunderte hinweg anzunähern.
Für die Thematisierung von Kirchengeschichte im Religionsunterricht bieten biografische Zugänge Potenzial hinsichtlich der Gestaltung religiöser Lern- und Bildungsprozesse. Ausgewählte Aspekte werden im Folgenden skizziert.2 

Den Interessenswelten der Schüler*innen entgegenkommen

Heranwachsende konstruieren ihr persönliches Lebensideal nicht selten in emanzipierter Auseinandersetzung mit Personen, in deren Lebensgestaltung sie erstrebenswerte Aspekte entdecken. Sie folgen Influencer*innen in Social Media, nutzen in Online-Spielen selbstkonstruierte, mit besonderen Fähigkeiten ausgestattete Avatare oder schauen Serien, in denen ihnen scheinbar authentischer Lebensalltag präsentiert wird. Bisweilen begegnen ihnen dabei auch kirchengeschichtliche Figuren.3  Biografische Zugänge in Lern- und Bildungsarrangements passen also bestens zu den Interessenswelten der Schüler*innen – ein Potenzial, das auch in (kirchen-)geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Settings genutzt werden sollte: Heranwachsende bringen der Geschichte von Personen nachweislich ein stärkeres Interesse entgegen als einer Beschäftigung mit allgemeinen (struktur-)geschichtlichen Entwicklungen.4  Denn erstgenannte Zugangsweise verheißt ihnen, von gelebtem Leben zu erzählen und Optionen einer authentischen sowie lebenserfahrungsgesättigten Begegnung mit der Vergangenheit. Zugleich kommt sie dem Orientierungsbedürfnis der Schüler*innen entgegen, insofern sie Lebensentwürfe anbietet, an denen sich die Heranwachsenden bei der Gestaltung ihrer eigenen Biografie emanzipierend ausrichten können.

Religiöse Wirklichkeitsdeutungen mehrperspektivisch zugänglich machen

Karoline Kuhn konnte vor längerem in einer empirischen Studie nachweisen, dass selbst religiös sozialisierte Schüler*innen religiöse Dimensionen im Handeln von Menschen kaum wahrnehmen können. Lediglich bei Personen, die explizit als Kirchenvertreter*innen auftreten, gehen die Befragten davon aus, dass deren Christ*in-Sein Auswirkungen auf Lebens- und Handlungsentscheidungen hat. Gewinnbringend hinsichtlich des Lernens an Biografien erscheint jedoch, dass Lernende dadurch nachweislich angeregt werden, sich mit religiös konnotierten Themen persönlich auseinanderzusetzen.5  Insofern biografisch thematisierte Kirchengeschichte Zugänge zu religiösen Wirklichkeitsdeutungen offeriert, die Menschen der Vergangenheit in Abhängigkeit von ihren Lebensumständen vorgenommen haben, kann ein derartig gestalteter Religionsunterricht bewirken, dass Schüler*innen trotz einer sich immer mehr säkularisierenden Gegenwart dennoch eine Ahnung davon ermöglicht wird, was es heißen kann, Wirklichkeit und Leben religiös zu deuten.6  Im Angesicht der thematisierten Lebensentwürfe können sich die Lernenden überdies motiviert sehen, solche Deutungsweisen selbstvergewissernd in Anspruch zu nehmen: Aus der Begegnung mit verschiedenen Perspektiven kann Sensibilität für die eigene (religiöse) Lebensgestaltung wachsen. Durch die Integration unterschiedlicher Sichtweisen auf ein Phänomen der Vergangenheit werden diese zugleich für den rekonstruktiven Charakter (kirchen-)historischer Darstellungen sensibilisiert;7  z. B. anhand gegensätzlicher Äußerungen bezüglich eines Sachverhalts (bspw. aus Sicht von Bischof, Königin und Untertanen).

Globalgeschichtliche Perspektiven aufgreifen

Herausfordernd für die Thematisierung von Kirchengeschichte im Religionsunterricht ist der Befund, dass dabei ein europäischer oder gar deutscher Fokus dominiert, aber die Geschichte des Christlichen weltweit greifbar ist. Hinzu kommt, dass immer mehr Schüler*innen aufgrund ihrer globalen familiären Wurzeln ihr Geschichtsbewusstsein in einem heterogen aufgespannten Geschichtsnetz ausprägen. Biografische Zugänge können diese Anforderungssituation aufgreifen, indem sie „historische Phänomene und Prozesse aus dem Blickwinkel verschiedener Akteure“ ins Lerngeschehen einbringen und „den Aufbau eines globalgeschichtlichen Denkstils“ ermöglichen,8  der einerseits verschiedene Geschichtsstränge integriert und damit für die globale Dimension (christlich-)religiöser Weltdeutung sensibilisiert sowie andererseits zu Kritik gegenüber hegemonialen Denkstilen anleitet. In letztgenannter Hinsicht arbeitet dies einer postkolonialen Kirchengeschichtsdidaktik zu, die eurozentrische Narrative aufbricht, religiöse Verflechtungen der Kolonialisierung und ihrer heutigen Folgen aufarbeitet und rassismuskritisch ist.9  Unter anderem können in biografiebezogener Hinsicht globale Religionsgeschichten der Familien von Schüler*innen, der Umgang mit kolonialzeitlichen Relikten in den Kirchengemeinden vor Ort (z. B. sog. „Nickneger“-Spendendosen bei Weihnachtskrippen) oder Geschichten hinter kolonialen Raubgütern10  in den Blick genommen werden.

Religionskulturelle Verortungen und Teilhabe ermöglichen

Biografisch präsentierte Kirchengeschichte bringt Schüler*innen in einen bildenden Austausch mit religiös geprägten Geschichtskulturen: Denkmäler für historische Personen oder Kriegsopfer, Formen individueller Frömmigkeitspraxis wie Erinnerungskreuze oder Pilgerwege, religiöse Gegenstände wie Wandkreuzen oder Familienbibeln.11  So genannte „Egodokumente sind dabei ein geschichtskulturelles Medium, in dem sich – in unterschiedlichen medialen Vermittlungsformen – in einer spezifischen Verknüpfung von Lebensgeschichte und Zeitgeschichte die Wahrnehmung von Historischem als Subjektivität der Betroffenen darstellt und sich historische Erkenntnis in differenzierten Darstellungsweisen formiert“12 . Im Religionsunterricht können die Schüler*innen motiviert werden, über derartige Medien Religionskulturen sowie die dahinterstehenden Lebensgeschichten zu erforschen.
Dabei macht es einen Unterschied, ob Religionskulturen lediglich aus einer Außenperspektive oder auch aus einer Innenperspektive zugänglich werden. Für letztere stehen kirchengeschichtsdidaktische „Lern- und Bildungsprozesse ein, die nicht bei einer historischen Einordnung kultureller Phänomene verweilen, sondern zugleich Fragen nach damit verknüpften Lebensrelevanzen wachhalten“13 . Eine lediglich kunsthistorische Einordnung von Bildstöcken beispielsweise, die ohne damit einhergehende religiöse Motivation, diese zu stiften, oder ohne eine bis in die Gegenwart beobachtbare Frömmigkeitspraxis auskommt, würde in religionsunterrichtlicher Hinsicht zu kurz greifen. Werden zugehörige biografisch-historische Verortungen jedoch integriert und damit einhergehende Lebensgestaltungsfragen thematisiert, können die Schüler*innen selbst „zu einer kompetenten, subjektiv gestalteten Teilhabe an der gegenwärtigen Religionskultur“14  befähigt werden.


Biografisches im Religionsunterricht. Ausgewählte Gestaltungsoptionen

Biografische Zugänge zur Kirchengeschichte können mittels vielfältiger Lernwege im Religionsunterricht fokussiert werden. Neben der Suche autobiografischer Zeugnisse aus dem religiösen Leben von Menschen (z. B. von Familienmitgliedern der Schüler*innen oder in kirchlichen Archiven) und deren quellenkritischer Erschließung zu bestimmten Themen bieten sich Formen von Geschichtserzählungen an. Bei Letzteren präsentieren entweder die Lehrkräfte in freier Sprache unter Einsatz von Erzähltechniken Lebensgeschichten oder die Lernenden erschließen sich über Graphic Novels Knotenpunkte im Leben prägender Christ*innen.15  Mittels „Oral History“, sog. Zeitzeug*innengesprächen, wiederum können Schüler*innen der jüngsten Kirchengeschichte selbst auf die Spur kommen: Im Austausch (bzw. ausgewerteten Interviews) mit verschiedenen Personen z. B. über deren Erlebnisse im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) oder über ihre Erfahrungen als Christ*in im DDR-Regime wird einerseits das Schüler*inneninteresse an „authentischen“ Erfahrungen gestillt sowie andererseits ein mehrperspektivischer Blick auf Kirchengeschichte garantiert.16  Diese Option forschenden Lernens kann auch durch die Integration von persönlich gehaltenen, online verfügbaren Erklärfilmen zu (kirchen-)historischen Sachverhalten unterstützt werden, wie bspw. durch Filme von MrWissen2go.17  Auch die Potenziale von Virtuell Reality in Bezug auf eine biografisch angelegte Thematisierung von Kirchengeschichte gilt es im Blick zu halten.

Anmerkungen

  1. Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche, 222.
  2. Die folgenden Ausführungen habe ich mit z.T. gleichem Wortlaut in umfänglicherer Weise bereits publiziert unter: Lindner, Biografische Zugänge.
  3. Vgl. Boch u.a., Von bierbrauenden Mönchen.
  4. Vgl. Mendl, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren, 21-26.
  5. Vgl. Kuhn, An fremden Biografien lernen, 252-254 u. 284f.
  6. Vgl. Witten, Diakonisches Lernen an Biographien.
  7. Vgl. Pandel, Geschichtsdidaktik, 350-352.
  8. Reiter, Geschichtskultur und Globalisierung, 268f.
  9. Konz, Postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik, 279f.
  10. Vgl. Reiter, Geschichtskultur und Globalisierung, 265, zur sog. „Witbooi-Bibel“, die 2019 aus Baden-Württemberg zurück nach Namibia gebracht worden ist.
  11. Vgl. Bauer, Art. Geschichtskultur; Köster, Art. Gegenstände.
  12. Bühl-Gramer, Geschichtslernen in biografischer Perspektive, 32.
  13. Lindner, Kirchengeschichtsdidaktik, 311.
  14. König, Mehr Religion, 109.
  15. Z. B. Sabisch, Ingrid / Lünstedt, Heiner: Sophie Scholl; Stetter, Moritz: Luther.
  16. In methodischer Hinsicht vgl. Dam, Kirchengeschichte kompetenzorientiert, 114-116.
  17. Vgl. Käbisch / Lindner, Kirchengeschichtsdidaktik.


Literatur

  • Bauer, Benjamin: Art. Geschichtskultur, kirchengeschichtsdidaktisch, in: WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet 5 (2019); DOI: https://doi.org/10.23768/wirelex.Geschichtskultur_kirchengeschichtsdidaktisch.200589
  • Boch, Lukas u.a.: Von bierbrauenden Mönchen und kriegerischen Nonnen. Klöster und Klerus in analogen und digitalen Spielen, Stuttgart 2024
  • Bühl-Gramer, Charlotte: Geschichtslernen in biografischer Perspektive – Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz, in: Sauer, Michael u.a. (Hg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive, Göttingen 2014, 23-35
  • Calmbach, Marc u.a.: Wie ticken Jugendliche? 2020, Bonn 2020
  • Dam, Harmjan: Kirchengeschichte kompetenzorientiert unterrichten. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2023
  • Käbisch, David / Lindner, Konstantin: Kirchengeschichtsdidaktik ‚up to date‘. Grundlegungen und Perspektiven am Beispiel von MrWissen2go, in: ZPT 74 (2022) 3, 326-340; DOI: https://doi.org/10.1515/zpt-2022-0036
  • Kuhn, Karoline: An fremden Biografien lernen! Ein religionspädagogischer Beitrag zur Unterrichtsforschung, Münster 2010, 252-254
  • König, Klaus: Mehr Religion. Die Bedeutung der Religionskultur für den Religionsunterricht, in: Kropač, Ulrich / Langenhorst, Georg (Hg.): Religionsunterricht und der Bildungsauftrag der öffentlichen Schulen, Babenhausen 2012, 98-112
  • Konz, Britta: Postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik im Horizont der Lebenswelten Heranwachsender, in: ZPT 74 (2022) 3, 272-284; DOI: https://doi.org/10.1515/zpt-2022-0032
  • Köster, Norbert: Art. Gegenstände, kirchengeschichtsdidaktisch, in: WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet 7 (2021); DOI: https://doi.org/10.23768/wirelex.Gegenstnde_kirchengeschichtsdidaktisch.200864
  • Lindner, Konstantin: Biografische Zugänge zur Kirchengeschichte. Religionsdidaktische Auslotungen, in: Bork, Stefan / Gärtner, Claudia (Hg.): Kirchengeschichtsdidaktik. Verortungen zwischen Religionspädagogik, Kirchengeschichte und Geschichtsdidaktik, Stuttgart 2016, 204-219
  • Lindner, Konstantin: Lernen an Kirchengeschichte, in: Kropač, Ulrich / Riegel, Ulrich (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 309-316
  • Mendl, Hans: Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2015, 21-26
  • Pandel Hans-Jürgen: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/Ts. 2017
  • Reiter, Benjamin: Geschichtskultur und Globalisierung. Anregungen aus der Geschichtsdidaktik für kirchengeschichtliche Themen im Religionsunterricht, in: ZPT 74 (2022) 3, 260-271; DOI: https://doi.org/10.1515/zpt-2022-0031
  • Witten, Ulrike: Diakonisches Lernen an Biographien. Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa, Leipzig 2014