Als Jan und Mila mit ihren Eltern die Wartburg besichtigen, passiert es: Jan sitzt auf der Gästetoilette – aber dann klemmt der Riegel. Er ist eingeschlossen. Mila, seine Schwester, steht vor der Toilette und weiß nicht, was sie machen soll. Jan bekommt Angst, er rüttelt an der Klotür, aber sie geht nicht auf. Dann fängt er an zu weinen: „Vielleicht muss ich mein ganzes Leben lang auf dem Klo sitzen bleiben. Und kann dich, Mama und Papa, nie mehr sehen. Ich werde verhungern, hier ist ja nur Wasser und Klopapier.“
Diese Szene bildet den Auftakt für das vierte Kapitel von Geheimversteck Wartburg. In ihm wird erzählt, wie sich Martin Luther nach dem schrecklichen Gewitter in Stotternheim 1505 entscheidet, ins Kloster zu gehen und ein Mönch zu werden. Für Luther war beides eine ungeheuerliche und existenzielle Erfahrung: Todesangst vor dem Gewitter zu haben, allein zu sein und sich dann, aus Dankbarkeit gegenüber dem rettenden Gott, einem anderen, neuen Lebensweg zuzuwenden. Doch ist das für Kinder heute nachvollziehbar? In der Klo-Szene erleben die jungen Leser*innen für einen kurzen Moment Schrecken, Angst und Alleinsein. Damit können sie affektiv nachvollziehen, in welcher bedrohlichen Situation sich Luther 500 Jahre früher befand, und was für eine Tragweite sein Beschluss hatte, ins Kloster zu ergehen und Mönch zu werden. Natürlich, für Luther war das eine Lebensentscheidung – im Buch geht dagegen kurz darauf die Tür auf, und Jan ist wieder frei.
Bisher sind drei Jan und Mila-Bände im Gabriel Imprint des Stuttgarter Thienemann Verlags erschienen: Geheimversteck Wartburg. Jan und Mila auf den Spuren Martin Luthers (2017), Geheimstadt Vatikan. Jan und Mila treffen den Papst (2018) und Geheimzeichen Jakobsmuschel. Jan und Mila entdecken den Jakobsweg (2021). Sie gehören dem Genre des Kindersachbuches an, wollen also geschichtliche Neugierde wecken, kirchengeschichtliches Wissen altersgemäß und ohne kirchlich-religiösen Kitsch vermitteln. Jeder Band enthält eine eigene Rahmengeschichte mit einzelnen Kapiteln zu Jan und Mila. Diese werden durch eingeschobene Sachtexte ergänzt und schließlich auf einer das Kapitel abschließenden Doppelseite illustrativ vertieft.
Jan und Mila sind Geschwister. Jan ist der kleinere Bruder von Mila, etwas ängstlich, er versteckt sich oft hinter seiner großen Schwester Mila. Mila prescht häufig voran und ist mutig. Jan und Milas Eltern unternehmen gern etwas mit ihren Kindern: einen Ausflug auf die Wartburg in Thüringen, eine Kurzreise nach Rom oder – zum Entsetzen von Jan und Mila – Wanderferien auf dem Jakobsweg in Spanien.
Jan, Mila und ihre Eltern sind weder konfessionell sozialisiert noch religiös. Sie stehen exemplarisch für die zahlreichen bildungsorientierten, aber längst tief säkularisierten Mittelschichtfamilien, die ihre Grundschulkinder einigermaßen behütet durch den turbulenten Alltag zu geleiten versuchen. Religion, Christentum und Kirche gehören zu diesem Alltag nicht dazu; es gibt kein Wissen, um ihre Spuren zu erschließen und in die zweitausendjährige Geschichte des Christentums einzubetten. An diesem Punkt setzen die Jan und Mila-Bände an.
Kinder im Grundschul- und unteren Sek I-Bereich entfalten oft eine spontane Neugierde für geschichtliche Themen, die mit der entwicklungspsychologisch spannenden Vermischung von Realität, Spiritualität und Magie in diesem Alter zusammenkommt. Als ich mich für den ersten Jan und Mila-Band intensiv mit Martin Luther und seiner Zeit beschäftigte, fiel mir mehr als einmal auf, dass Luthers farbige, direkte und kreative Sprache oft der von Kindergarten- und Grundschulkindern entspricht. Wenn Luther Wörter wie „Bluthund“ oder „Lästermaul“ oder Bilder wie „die Zähne zusammenbeißen“ erfindet, so kommt das den Wortschöpfungen von Kindern sehr nahe. Und so wie Luther derb und originell schimpfen und wüten konnte, überbieten sich Kinder in dieser Altersgruppe gern mit dem Erfinden und Entgegenschleudern von Schimpfwörtern.
Bilder und Erlebnisse Luthers, aber auch des Mittelalters, wie es Thema in Geheimzeichen Jakobsmuschel ist, kann man Kindern in diesem Alter originalgetreu schildern, und sie werden oft auf einer Ebene verstanden, die den Erwachsenen verschlossen bleibt. So kommt es, dass beispielsweise eine Rezension kritisierte: Geheimversteck Wartburg enthalte etwas zu viele Legenden zu Luthers Leben; es wäre doch besser gewesen, sich eher an den Fakten zu orientieren. Dabei sind sämtlich als Anekdoten wahrgenommene in den Quellen und bei den aktuellen Top-Luther-Forscher*innen überlieferte Lutherzeugnisse authentisch.
Denn das ist für mich selbstverständlich: Ich bin Kirchenhistorikerin und Wissenschaftlerin. Für jedes Buch mache ich gründliche Recherchen in der neuesten akademischen Forschungsliteratur. Ich lese zurück in die Quellen, fahre an die Orte, an denen die Bücher spielen, suche neue Kontakte. Augen, Ohren und Sinne offenhaltend, spähe ich nach dem, was meine Altersgruppe interessieren könnte. Erst in dieser Phase werde ich dann zur Kinderbuchautorin und schnüffele überall herum.
Für Geheimstadt Vatikan zum Beispiel erhielt ich unter anderem Einlass in den Apostolischen Palast, der sonst Tourist*innen verschlossen bleibt. In ihm befinden sich auch die oberen päpstlichen Büro- und Empfangsräume – und ja, als ich fragte, durfte ich kurz auf den Balkon treten, und mir den Petersplatz von oben anschauen. Keine Fotos, klar. Aber eine ganz kleine Ahnung davon, was Weltkirche, Macht und Glaubensvolk über die Jahrhunderte hinweg bedeutet haben. Und ich erfuhr im Gespräch mit einem sehr freundlichen Mitarbeiter, der selbst außerhalb der Vatikanmauern wohnt und Kinder hat: Manchmal geht der Papst spontan (und zum Leidwesen seiner Verwaltungsmitarbeiter) ins vatikaneigene Restaurant Hotel Santa Maria und nimmt sein Essen nicht in der Papstwohnung ein. Natürlich wollte ich wissen, was er dann isst, und erfuhr: Pizza Margherita. Aus dieser Information ist dann im sechsten Kapitel von Geheimstadt Vatikan die Szene im Buch entstanden, in der Jan und Mila ins Vatikanrestaurant kommen und neben einem freundlichen älteren Herrn in Weiß gekleidet Platz nehmen.
Jan und Mila leben von dem, was sie unterwegs sehen und entdecken. Sie stolpern über Kirchengeschichte auf dem Weg, lernen, sie zu erschließen, gehen damit weiter und reifen. Sie erleben kleine Abenteuer, stoßen auf Hindernisse, aber am Ende der Reise und des Bandes richtet es sich und sie kommen sicher an. Beim Schreiben denke ich dabei verschiedene Situationen und Leserschaften mit: Kindern im Grundschulalter werden die Bücher oft vorgelesen – in der Schule oder zuhause. Eltern, aber auch Großeltern sind jedoch selbst ebenfalls oft nicht mehr vertraut mit den christlichen Traditionen und den kirchengeschichtlichen Themen. Also müssen die Texte der Bücher auch für die Vorlesenden stimmen. Sie sollen gut vorlesbar sein und dürfen nicht zu lang sein. Und weil es ein Sachbuch ist, muss auch etwas Neues und Lernbares für die erwachsenen Leser*innen dabei sein.
Jan und Mila wären jedoch längst nicht so lebendig, wenn es nicht die wunderbaren Illustrationen von Evi Gasser gäbe. Ich „entdeckte“ ihre Zeichnungen bei einem Urlaub in Südtirol in einer Buchhandlung und sofort verschmolzen sie mit meiner Idee für ein Luther-Kinderbuch. Als ich wieder zuhause war, nahm ich Kontakt mit Evi Gasser auf. Wir trafen uns zum Kennenlernen in München und es klickte. Seitdem haben Jan und Mila ihr unverwechselbares Gesicht und ihre eigenen Körper bekommen, und die Bücher ihre fröhlichen und bunten Illustrationen.
Manchmal gibt es Kinderbuchrezensenten, die die Bilder von Jan und Mila zu kindlich oder zu comicartig für die Texte finden, die gern mehr Kirchenkritik in den Büchern hätten, die Erzählstränge für zu wenig literarisch oder den großen deutschen Martin Luther für unangemessen reduziert halten. Das geht an meinem Verständnis eines Kindersachbuches vorbei. Von den lesenden Kindern habe ich diese Kritik auch noch nie gehört; sie mögen Jan und Mila aufrichtig und ärgern sich meistens über die Unterbrechungen durch die Sachtexte. Nicht alle erwachsenen Rezensenten kommen auch damit klar, dass die Bücher offen gestaltet sind: Kinder können sich auf die Jan und Mila-Rahmenerzählung konzentrieren, auf die historischen Sachverhalte oder sich nur einem Kapitel widmen. Oder sie nähern sich dem Thema allein über die illustrierten Doppelseiten. Das alles geht. Es gibt keine „richtigen“ historiografischen Deutungen in den Jan und Mila-Bänden. Ich vertrete ein offenes Verständnis von Kirchengeschichte und setze auf die Selbstständigkeit meiner Leser*innen, sich ihren eigenen Sinn auf die Geschichte zu machen, sie weiterzudenken und mit in Gegenwart und Zukunft zu nehmen. Das ist für mich lebendige Kirchengeschichte.
Hinweise für den Religionsunterricht
Zu den drei Bänden sind mit der Evangelischen Hoffnungsgemeinde in Frankfurt drei Videos entstanden, die gut als Einstieg in entsprechende Unterrichtsstunden genutzt werden können. Die Videos sind auf YouTube verfügbar:
- Geheimversteck Wartburg: https://youtu.be/DeQh_6LlwLo
- Geheimstadt Vatikan: https://youtu.be/7aVi63a3bqg
- Geheimzeichen Jakobsmuschel: https://youtu.be/1aYamANGeUA
Außerdem gibt es zu den Büchern auch verschiedene Antolin Quiz (für alle Kinder, die Lesepunkte in der Schule sammeln): https://antolin.westermann.de (w Buchtitel ins Suchfeld eingeben)