Die Lerngruppen im evangelischen Religionsunterricht sind in den vergangenen Jahrzehnten immer gemischter geworden. Spätestens seit der EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“ (1994) weist der Religionsunterricht niemanden mehr ab, der freiwillig teilnehmen möchte. War diese Regelung ursprünglich wohl eher dafür gedacht, dass die Kinder von frisch aus der Kirche Ausgetretenen oder die interessierten Freund*innen evangelischer Jugendlicher sich auch eingeladen wissen sollten, so hat sie sich inzwischen vielerorts ziemlich verselbstständigt. Christliche Hochreligiöse, Katholik*innen und Orthodoxe, Angehöriger anderer Religionen (v.a. muslimischen Glaubens) sowie religiös mehr oder weniger interessierte Konfessionslose – sie alle tummeln sich im evangelischen Religionsunterricht, der optimistisch meint, ihnen allen ein Bildungsangebot machen zu können.
In der Literatur finden sich nur wenige Überlegungen dazu, mit welcher Themenwahl einerseits der – zukünftig auch: ‚christliche‘ – RU noch als solcher erkennbar bleibt, andererseits eine superheterogene Lerngruppe im Hinblick auf religiöse Bildung angesprochen und herausgefordert werden kann. Unser derzeitiges Kerncurriculum ist für diese Spannung nur bedingt konzipiert und vorbereitet.
Diese Ansicht sei durch einen kurzen Rückgriff auf eine christentumstheoretische Überlegung vertieft. Der Praktische Theologe Dietrich Rössler hat in seinem wichtigen „Grundriß der praktischen Theologie“ (1986) die These aufgestellt, dass das moderne Christentum nur als Zusammenspiel dreier verbundener, aber doch verschiedener Größen angemessen verstanden werden kann. Es tritt einmal auf als kirchliche Religion. Gelegentlich wird das Christentum mit dieser Form – die bis zur Aufklärung absolut dominierte – identifiziert. Aber bereits ein kurzes Nachdenken führt darauf, dass es eben auch als Summe aller außerkirchlichen Wirkungen des Christlichen, mithin als gesellschaftliche Religion existiert. Dazu zählen heute auch die tausendfachen Brechungen christlicher Motive in Literatur, Medien, Kunst, Recht und in anderen kulturellen Sphären. Über den Umfang und die Bedeutung des gesellschaftlichen Christentums kann man streiten (z.B. anlässlich von Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen), aber dass es so etwas gibt, liegt auf der Hand. Von beidem dann noch einmal zu unterscheiden ist das Vorkommen des Christentums als persönliche Religion, die zwar kirchlich und/oder gesellschaftlich beeinflusst sein kann, sich aber oft auch eine ganz eigene, strikt subjektive Auffassung vom Christlichen bildet. Auch können sich die einzelnen Menschen mehr oder weniger nah an diesen drei Größen befinden und im Laufe ihres Lebens mehr auf Abstand gehen oder sich wieder annähern.
Schaut man sich von dieser Zwischenüberlegung her nun einmal die gängigen niedersächsischen Kerncurricula an, so wird man einen uneinheitlichen Befund feststellen. Die kirchliche Religion ist über die „inhaltsbezogenen Kompetenzen“ recht gut repräsentiert. Sie sorgt dafür, dass die Bibel und zentrale Kernelemente der Glaubenslehre (Gott, Jesus Christus, Kirche, Menschenbild) in der Kommunikation gehalten werden. Auch die persönliche Religion spielt eine große Rolle: Möglichkeiten zur subjektiven Auseinandersetzung und Urteilsbildung in Bezug auf die christlichen Gehalte werden an vielen Stellen geboten, wobei das Ergebnis in keinem Fall vorgegeben wird. Die „prozessbezogenen Kompetenzen“ wie Deutungs- oder Gestaltungskompetenz richten sich vielfach an das Individuum.
Etwas anders sieht es aber hinsichtlich der gesellschaftlichen Religion aus. Die Gesellschaft ist in den Lehr- und Bildungsplänen vor allem über den Kompetenzbereich „Ethik“ präsent. Aber auch hier geht es zumeist um das didaktische Wechselspiel von ‚christlichen Positionen‘ und der subjektiven Auseinandersetzung damit. Daran ist auch nichts falsch. Aber der Bereich der gesellschaftlichen Religion ist damit noch bei weitem nicht abgedeckt. Ich möchte es eigentlich noch schärfer formulieren: Bestimmte Aspekte des Vorkommens von Religion in der Gesellschaft – und auch ihrer Strittigkeit – werden vom derzeitigen Lehr- und Bildungsplan geradezu planmäßig abgeblendet.
Das scheint mir insgesamt kein günstiger Zustand. Denn wie auch immer die Lerngruppen zusammengesetzt sind, alle Schüler*innen haben dies gemeinsam, dass sie gesellschaftliche Wesen sind. Und wie auch immer die Lust auf Kirche und persönliche religiöse Auseinandersetzung ist – allen Schüler*innen begegnet Religion als soziale Tatsache. Deswegen spricht in meinen Augen alles dafür, bei künftigen Curriculums-Revisionen diesen Bereich deutlich aufzuwerten.
Mit diesem Vorschlag verbindet sich kein Plädoyer für eine weitere „Versachkundlichung“ (Rudolf Englert) des Religionsunterrichts. Es soll im Gegenteil deutlich werden, dass auch dieser Anfahrtsweg viel Stoff für eine persönliche Auseinandersetzung bietet und dass die Kirchen hier auch noch einmal, wenn auch anders in den Blick kommen: nicht vor allem als Gemeinschaft der Gläubigen (die natürlich im RU auch behandelt werden soll), sondern als gesellschaftlicher Player. Ich möchte diesen Punkt noch an einigen exemplarischen Themenbereichen verdeutlichen.
• Der Komplex „Diakonie“: Das bisherige KC stellt Diakonie als vorbildliche Realisierung christlicher Ethik vor. Ausgeblendet bleiben dabei die zentralen und lebensnahen (Diakonie und Caritas sind zusammen der zweitgrößte Arbeitgeber Deutschlands!) gesellschaftlichen Fragen nach dem kirchlichen Arbeitsrecht (Stichworte: „Dienstgemeinschaft“ und „Dritter Weg“, deren Herkunft und Sinn im RU zunächst zu erarbeiten wären) und die Diskussion darüber, ob die Kirchenmitgliedschaft der Mitarbeiter*innen notwendig sein sollte.
• Das Schicksal repräsentativer Gebäude:
Hier kann es zum einen um die – auch mit Steuermitteln realisierte – Restaurierung oder den Wiederaufbau christlich imprägnierter Gebäude aus vordemokratischen Zeiten gehen, z.B. des Berliner Stadtschlosses oder der Potsdamer Garnisonskirche. Zum anderen kann die Frage, was mit entwidmeten Kirchen geschehen soll (Umwandlung in Clubs? Altenheime? Moscheen?), in den Blick genommen werden. Und schließlich wäre da noch das Thema, ob auch heutzutage Gotteshäuser für Neubaugebiete geplant werden sollen. Persönliche, kirchliche und gesellschaftliche Aspekte verbinden sich hier sehr organisch.
• Feiertage: Diese kommen im Curriculum unter dem Gesichtspunkt von Brauchtum und Zusammenhang mit den Glaubensgrundlagen vor und sind darüber hinaus ein beliebtes Thema bei der Einführung in andere Religionen. Unterbelichtet bliebt dabei ihre gesellschaftliche Dimension: Ist es unserer Gesellschaft angemessen, dass es religiöse Feiertage gibt oder sollten diese einfach in frei verfügbare Urlaubstage umgewandelt werden? Was würde passieren, wenn Weihnachten und Ostern keine staatlichen Feiertage mehr wären? Sollten jüdische und muslimische Feiertage nicht auch berücksichtigt werden? Welche christlichen Feiertage könnte oder wollte man dafür aufgeben?
In vielen solcher Themenbereiche steht der Reizpunkt „Religionsfreiheit“ im Hintergrund. Deren Bedeutung – wie überhaupt eine stärkere Berücksichtigung des deutschen Religionsrechts – sollte meiner Meinung nach geradezu einen Brennpunkt aller künftigen Curricula darstellen. Der große Vorteil dieser Themenbereiche ist, dass kirchliche und persönliche Gesichtspunkte eine große Rolle spielen können, dass sie aber dennoch auch für solche Schüler*innen ein Stück Welt erschließen, die sich nicht mit der Kirche identifizieren und auf höchstpersönliche Auseinandersetzung mit der Religion keine große Lust haben.
Didaktisch dürfte es hier weder um eine bloße Verteidigung noch um eine bloße Kritik kirchlicher Positionen gehen, sondern vor allem darum, diese Problemfelder als vielfältige Lernchance zu nutzen. Das allgemeine Lernziel ist, dass Schüler*innen wohlinformiert am gesellschaftlichen Gespräch über diese Dinge teilnehmen können, wozu sie sich Hintergrundwissen aneignen und sozial positionieren müssen.