Eine kurze Geschichte der Theologie des Kreuzes 1

von Matthias Hülsmann

Ein Blick in das Neue Testament

Das Kreuz ist das Logo der Christen. Wie man an einem angebissenen Apfel eine Computer-Marke und an drei parallelen Streifen einen Sportartikelhersteller erkennen kann, so kann man am Kreuz die christliche Kirche erkennen.
Das ist keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil! Denn das Kreuz ist ein römisches Hinrichtungs- und Folterwerkzeug, das dazu diente, einen Menschen möglichst langsam und qualvoll zu Tode zu bringen. Auf das Schamgefühl des Verbrechers wurde keine Rücksicht genommen. Das heißt, dass er ganz nackt war. An diesem Punkt gibt fast keine Kreuzesdarstellung Jesu die historische Wirklichkeit wieder.

Eine der ältesten Kreuzesdarstellungen ist eine heidnische Karikatur. Vermutlich war es ein römischer Soldat, der den Gekreuzigten mit einem Eselskopf als Ritzzeichnung, also als ein antikes Graffito, dargestellt hat, um seinen christlichen Kameraden namens Alexamenos zu verspotten. Deshalb schrieb er unter seine Zeichnung den verächtlichen Satz: „Alexamenos betet seinen Gott an“. In den Augen der Nichtchristen war der Glaube an einen Gekreuzigten so viel wert wie der Glaube an einen dummen Esel.

Von den ersten Christen sind uns keine Kreuzesdarstellungen überliefert, denn während der Christenverfolgungen wurde die Kreuzigung immer noch praktiziert. So soll Kaiser Nero nach dem Brand Roms Christen verfolgt, gekreuzigt und nachts angezündet haben, um seine Gärten zu erleuchten. Die ältesten überlieferten Darstellungen von christlicher Hand zeigen Jesus als den guten Hirten. Das Kreuz, „den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit“, wie Paulus in 1. Kor 1,23 zugibt, war wenig werbewirksam für die neue Religion und wurde deshalb erst nach Jahrhunderten zum Logo der Christen.

Für die ersten Christen war die Kreuzigung Jesu schlicht eine Katastrophe, denn damit schienen alle ihre Hoffnungen auf einen Messias zerstört. Erst durch die Begegnung mit dem Auferstandenen erlebten die Jünger, dass die Sache Jesu doch weiterging. Plötzlich erschien alles, was die Jünger mit Jesus erlebt hatten, im neuen Licht der Auferstehung. Damit stellte sich aber auch die Frage nach der Kreuzigung Jesu neu. Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben? Die ersten Christen haben um Antworten gerungen; deshalb enthält das Neue Testament eine Vielzahl von unterschiedlichen Interpretationen. Das wird zum Beispiel an den Einsetzungsworten zum Abendmahl in Matthäus 26,27 deutlich. Während Jesus seinen Jüngern den Kelch gibt, sagt er: „Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“

Dass Jesus für unsere Sünden starb, ist eine von mehreren möglichen Deutungen. Sie kann sich auf Jesaja 53,4-5 berufen: „Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.“ Einige Christen verstanden Jesus als den angekündigten Knecht Gottes, der stellvertretend für die Sünden des Volkes bestraft wird.

Dass Jesus für unsere Sünden starb, schlossen die ersten Christen auch aus 3. Mose 16,15-21. Hier wird erzählt, dass der Priester am Versöhnungstag einen Ziegenbock schlachten soll, der als Sühneopfer für die Schuld des Volkes Israel bestimmt ist. Einem zweiten Ziegenbock legt der Priester die Hände auf, spricht die Sünden des Volkes Israel aus und legt sie damit dem Bock auf. Dieser Bock wird dann in die Wüste gejagt und trägt so die Sünde weg vom Volk. Einige Christen verstanden Jesus als Sündenbock; das wird zum Beispiel in Johannes 1,29 deutlich: „Das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt.“

Andere Christen verstanden die Kreuzigung Jesu als Besiegelung eines neuen Bundes. Denn im Alten Testament war jeder Bund zwischen Gott und Mensch mit Blut besiegelt worden. Noah und Abraham opferten beim Bundesschluss Tiere. Und Mose besiegelte den Bundesschluss am Sinai, indem er mehrere junge Stiere opferte, einen Teil des Blutes in ein Becken goss und mit diesem „Blut des Bundes“ das Volk Israel besprengte. Aber von Vergebung der Sünden ist in diesem Zusammenhang keine Rede.

Wieder andere Christen verstanden Jesus als das wahre Passahlamm, denn Jesus wurde in der Passahwoche gekreuzigt. Beim Auszug aus Ägypten wurde das Blut des Passahlammes an die Türpfosten gestrichen. Dieses Blut bewahrte den ältesten Sohn im Haus vor dem Tod, aber es diente nicht der Sündenvergebung.
Das Neue Testament enthält also keine einheitliche Deutung des Kreuzestodes Jesu, sondern eine Vielzahl von Interpretationen.


Ein Blick in die Alte Kirche

Durch Kaiser Konstantin änderte sich die Lage der Christen grundlegend. In seinem „Leben Konstantins“ beschreibt der christliche Geschichtsschreiber Eusebius, dass Konstantin im Jahr 312 vor der Schlacht an der milvischen Brücke eine Lichtvision am Himmel gesehen habe mit einem Kreuz und der griechischen Inschrift: „In diesem Zeichen siege!“ Daraufhin habe Konstantin seine Soldaten das Kreuz auf ihre Schilde malen lassen. Am 28. Oktober 312 besiegte Konstantin in dieser Schlacht seinen Rivalen Maxentius. Damit habe sich, so Eusebius, der christliche Gott als unbesiegbar erwiesen. Das Christentum erhielt eine grundlegend neue Stellung im römischen Reich. Im Mailänder Toleranzedikt von 313 wurde jedem Bürger des Imperiums freigestellt, welcher Religion er angehören wollte. Damit wurde das Christentum den anderen Kulten gleichgestellt.

Es ist offensichtlich, dass in dieser Darstellung des Eusebius historische Tatsachen und Legendenbildung verschwimmen. Aber gleichzeitig schreibt er ganz unverblümt, dass Konstantin sich aus machtpolitischen und militärtaktischen Gründen für das Christentum entschieden habe.

Konstantin schaffte die Kreuzigung als Strafe ab. Das Kreuz war damit nicht mehr das Hinrichtungsinstrument, sondern das heilsgeschichtliche Symbol für den Triumph Christi über den Tod. Die Rede vom „unbesiegbaren Siegeszeichen des Kreuzes“ wurde zur gängigen Redewendung. Damit wurde es von einem Symbol der Ohnmacht zu einem Symbol der Macht.


Ein Blick in das Mittelalter

Schon in den Tagen der ersten Christen hingen Kreuz und Mission unauflöslich zusammen. Durch Konstantin trat nun die Macht hinzu. Auf der einen Seite befeuerte sie die Verbreitung des christlichen Glaubens; auf der anderen Seite führte sie später zu unchristlichen Auswüchsen wie der sogenannten Schwertmission. Das brutale Vorgehen Kaiser Karls des Großen gegen Taufverweigerer brachte ihm bei seinen Zeitgenossen den unrühmlichen Titel „der Apostel mit der eisernen Zunge“ ein.
Genau wie Konstantin ging es auch Karl um die machtvolle Einigung eines großen Reiches, nun wirklich im Zeichen des Kreuzes.

Das Kreuz auf den Mänteln der Kreuzritter wurde auch zum militärischen Erkennungszeichen. Zur Macht gesellte sich im Mittelalter der Prunk. Während Franz von Assisi die Besitzlosigkeit Jesu lebte und predigte, gewann die Kirche an Macht und Reichtum.

Auch theologisch rückt das Kreuz in der lateinisch-sprachigen Kirche des Westens in den Mittelpunkt. Dies lag unter anderem an einem Werk des Theologen und Erzbischofs Anselm von Canterbury. In seiner Schrift „Warum wurde Gott Mensch?“ beantwortete er die Frage nach der theologischen Bedeutung des Kreuzestodes Jesu folgendermaßen: Weil die Menschen gegen Gott gesündigt haben, musste Jesus sterben. Wie ein Lehnsherr, der in seiner Ehre beleidigt worden ist, fordert Gott Genugtuung – lateinisch: satisfactio. Seine Untertanen haben Wiedergutmachung zu leisten. Diese Satisfaktion muss einerseits ein Mensch leisten, denn die Schuld liegt beim Menschen – sie kann aber andererseits nur Gott leisten, weil die Genugtuung mindestens so groß sein muss wie die begangene Schuld. Da aber der Mensch nichts geben kann, was er nicht vorher von Gott empfangen hat, muss es ein Gott-Mensch sein, der diese Genugtuung leistet. Sie besteht in dem größtmöglichen Opfer, nämlich dem Tod am Kreuz. Da Jesus sündlos ist, ist er auf dieses Opfer nicht angewiesen. Deshalb kann sein Opfer stellvertretend denen angerechnet werden, die an ihn glauben.
Diese sogenannte Satisfaktionslehre entfaltete eine ungeheure Wirkungsgeschichte und wurde zur maßgeblichen Deutung des Kreuzestodes Jesu zunächst im gesamten westlichen Europa und später auch weltweit.


Ein Blick in die Reformationszeit

Luthers fundamentale Einsicht bestand darin, dass Gott nicht in seiner Macht und Herrlichkeit angemessen erkannt wird, sondern allein im Blick auf den Gekreuzigten. Das Kreuz Christi wird für Luther zum Schlüssel, der das gesamte Evangelium erschließt. Luther erweist sich hier als treuer Schüler des Paulus, der in 1. Korinther 1,18 schrieb: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft.“ Die erwähnte Karikatur mit dem Eselskopf des Gekreuzigten ist gewissermaßen eine folgerichtige kreative Umsetzung dieses Satzes.
Paulus fährt in 1. Korinther 2,1f. fort: „Als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu predigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten.“

Luthers Kreuzestheologie nimmt diese Worte des Paulus ernst und macht sie zum theologischen Erkenntnisprinzip. Gott ist und bleibt ein Geheimnis, in das wir Menschen mit unserer Vernunft und unserer Weisheit niemals eindringen werden. Gott hat seinen eigenen Weg gewählt, um sich den Menschen zu offenbaren, und zwar im Gekreuzigten. Gott wird nicht in seiner Majestät und Herrlichkeit erkannt, sondern ausschließlich in Jesus Christus am Kreuz. In der Ohnmacht des Gekreuzigten offenbart der allmächtige Gott sich selbst, sein Innerstes. So zeigt sich Gott unter dem Gegenteil dessen, was wir uns gemeinhin unter Gott vorstellen: Unsere Weisheit wird zur Torheit und unsere Vernunft führt uns in den Irrtum.


Ein Blick in die Gegenwart

„Jesu Kreuzestod ist nicht eine zwangsläufig geschuldete Sühneleistung zur Besänftigung eines zornigen Gottes, sondern eine aus Freiheit um der Liebe Gottes willen vollzogene Selbsthingabe.“ Diese Worte des Theologieprofessors Wolfgang Huber stammen aus seinem 2008 erschienenen Buch „Der christliche Glaube“. Huber war von 2003 bis 2009 Ratsvorsitzender der EKD und damit der ranghöchste Repräsentant der gesamten Evangelischen Kirche in Deutschland. Das Zitat bezeichnet nicht weniger als den Abschied von einer Jahrhunderte währenden Vormachtstellung der Satisfaktionstheorie des Anselm von Canterbury.

Das Umdenken begann im Jahre 2004 mit dem Buch „Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum“ des Berliner Theologieprofessors Klaus-Peter Jörns. Er nennt zwei Gründe, warum die Deutung des Kreuzestodes Jesu als Sühnopfer theologisch unangemessen ist.
Zum einen macht er deutlich, dass im Johannesevangelium die Hinrichtung Jesu nicht als Sühnopfer gedeutet wird und auch beim letzten Abendmahl keine Rolle mehr spielt. An dieser Stelle unterscheidet sich das Johannesevangelium ganz auffällig von den drei anderen Evangelien, denn bei ihm fehlen die Einsetzungsworte zum Abendmahl mit der Opfertoddeutung. Es spricht alles dafür, dass der Verfasser des Johannesevangeliums diese Einsetzungsworte ganz bewusst weggelassen hat. Stattdessen führt er als einziger der vier Evangelisten in Johannes 13,1-11 die Fußwaschung ein. An die Stelle des stellvertretenden Sühnetodes tritt im Johannesevangelium die dienende Liebe Jesu.

Als zweiten Grund für seine Auffassung nennt Jörns die Botschaft Jesu, der allen Menschen die vorbehaltlose Liebe Gottes verkündigt hat. Der entscheidende Punkt ist hier, dass die Liebe Gottes an keine Bedingung geknüpft ist. Der heimkehrende verlorene Sohn wird bedingungslos und freudig vom Vater aufgenommen. Jesus setzt sich mit Zöllnern und Prostituierten an einen Tisch und isst mit ihnen. In Jesu Verhalten kann man Gottes bedingungslose Liebe erkennen. Wenn Gottes Liebe vorbehaltlos ist, dann ist sie auch nicht an eine blutige Sühneleistung als Bedingung geknüpft. Die Deutung das Todes Jesu als Sühnopfer widerspricht der Botschaft Jesu von der bedingungslosen Liebe Gottes.

In der neutestamentlichen Wissenschaft mehren sich die Stimmen von Theologen, die der Auffassung sind, dass Jesu Tod sich unausweichlich aus dem Konflikt mit den Schriftgelehrten, Pharisäern und Priestern ergab und dass Jesus nicht deshalb gewaltsam sterben musste, weil Gott das durch seinen ewigen Plan so vorherbestimmt hätte, sondern weil sein Tod durch Menschen herbeigeführt wurde.

Jesu Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes, seine Mahlzeiten mit Sündern und Ausgestoßenen und seine Botschaft, dass er nicht zu den Gesunden, sondern zu den Kranken gesandt ist – alles das war ein Schlag ins Gesicht der Frommen.
Jesus hat seinen Tod sicher nicht gewollt. Das macht sein Ringen mit Gott in Gethsemane deutlich. Aber er ist nicht weggelaufen, als es schwierig wurde; er blieb seiner Botschaft treu und nahm als letzte Konsequenz den Tod dafür in Kauf. Aber diesen Tod haben die Menschen zu verantworten und nicht Gott.


Ein Blick in die Zukunft


Im Blick auf die Zukunft scheinen sich zwei Tendenzen abzuzeichnen.
Einerseits wird die kulturelle Bedeutung des Kreuzes in der Gesellschaft wohl weiter abnehmen. In Traueranzeigen tauchen zum Beispiel immer häufiger Symbole auf, die zwar einen spirituellen Hintergrund andeuten wie Sonnenuntergänge oder fallende Blätter, aber keine spezifischen Hinweise auf den christlichen Glauben enthalten.

Andererseits könnte sich die Institution Kirche in Deutschland und weiten Teilen Europas der Theologie des Kreuzes weiter annähern, denn die Kirche wird kleiner werden, über weniger Geld verfügen und an Einfluss verlieren. Dadurch wird sie den damaligen ersten Gemeinden ähnlicher werden. Und vielleicht wird sie sich noch mehr den gesellschaftlich Gescheiterten zuwenden und ihnen die frohe Botschaft von der Menschenliebe Gottes weitersagen, die Jesus den Menschen verkündigt hat.

 

Anmerkungen

  1. Wiederabdruck des Textes aus Matthias Hülsmann: Theologisches Aufbauwissen. Bd. 2. Loccumer Perspektiven 4, Rehburg-Loccum 2021, 21-29.