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Gewagte Gottesrede. Überlegungen aus biblischer und religionspädagogischer Perspektive

von Axel Wiemer

Biblische Gottesrede als Wagnis

„Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht“. So reagieren nach Lukas 7,16 Menschen, die gerade erlebt haben, wie Jesus einen jungen Mann aus dem Tod erweckt und so die Not seiner verwitweten Mutter gewendet hat. In der Erzählung ist klar: Dieses Erlebnis führt sie zu diesem Staunen, diesem Lobpreis und dieser Deutung. Es ist ihr Bekenntnis, dass in diesem Geschehen Gott gehandelt hat, sie wagen diese Aussage im Glauben. Denn das ist der Glaube und die Hoffnung Israels, dass Gott seine Macht gerade so zeigt: Er nimmt sich der Menschen gnädig an und wendet ihre Not. So steht es in der Bibel.

Das Bekenntnis der Menschen in Lukas 7 kann sich auf diese Tradition berufen. Ein Wagnis aber bleibt es, wie auch der Glaube der Menschen vor uns Wagnis war und wie jede Rede über Gott Wagnis ist. Wir können Gott nicht beweisen, nicht seine Existenz und schon gar nicht seine Wesensart. „Gott“ zu sagen, von Gott etwas Bestimmtes auszusagen und sich selbst auf diesen Gott zu verlassen – das ist darum immer auch ein Wagnis. Ein Wagnis war es erst recht, erstmals zu erzählen oder aufzuschreiben, was später Teil unserer Bibel werden sollte. Die Bibel ist gewagte Gottesrede, von vorne bis hinten: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (1. Mose 1,1) ebenso wie „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Offb 21,4). Und das gilt auch, wenn wir nicht auf Aussagen über den Ursprung oder das Ziel der Welt schauen. Ein zufälliges Beispiel: Psalm 10 klagt über die Ferne Gottes zur Zeit der Not und das Triumphieren eines Gottlosen, der die Rechte der Armen und Schwachen mit Füßen tritt und Gewalt gegen sie übt. In vielen Zeilen des Gebets spiegelt, ja bündelt sich unsere Welterfahrung. Und dann steht am Ende dieses Bekenntnis (Psalm 10,17-18): „Das Verlangen der Elenden hörst du, HERR, du machst ihr Herz gewiss, dein Ohr merkt darauf, dass du Recht schaffest den Waisen und Armen, dass der Mensch nicht mehr trotze auf Erden.“ Angesichts unserer Welterfahrung ein gewagter Satz. Aber gerade gegen das erlebte Unrecht ist das Wagnis der Hoffnung lebensnot-wendig. Das zeigt nicht zuletzt Lukas 7, denn hier wird es Realität, dass die Armen und Schwachen zu ihrem Recht kommen, endlich einmal – und sofort wird das Lob Gottes gesungen.

Wagnis ist die Rede von Gott auch in erzählenden Texten der Bibel, oft schon die Art der Erzählung. Es ist ein Wagnis, Gott als Figur auftreten und das Wort ergreifen zu lassen. Die Sintflutgeschichte gewährt sogar Einblick in sein Inneres und die Gedanken, die Gott zuerst den Entschluss zur Sintflut fassen lassen (1. Mose 6,7) und nach ihrem Ende zu der Entscheidung führen, eine solche nicht noch einmal über die – nach wie vor böse – Menschheit zu bringen (1. Mose 8,21-22). Oder die Geschichte vom Goldenen Kalb: Gott gerät in Zorn über das treulose Volk, will es vernichten und mit Mose neu anfangen. Zu diesem spricht er distanzierend von „dein[em] Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast“ (2. Mose 32,7). Welch ein Wagnis, Gott sprechen zu lassen wie sonst vielleicht überforderte Eltern eines schwierigen Jugendlichen: „Kannst du dein (!) Kind nicht mal zur Vernunft bringen?“. Mose muss Gott daran erinnern, dass es im Gegenteil sein Volk ist, das er befreit hat unter Aufbietung all seiner Macht, und dass er diesem Volk ja auch so einiges verheißen hat. „Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte“ (2. Mose 32,14).

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Biblische Gottesrede mag im Gespräch mit früheren Texten und Glaubensüberzeugungen stehen – aber ist doch immer Wagnis, wie jede Aussage, in der Menschen die eigene Geschichte und Situation in einem Atemzug mit Gott nennen. Im Grunde gehört immer das Bekenntnis Hiobs dazu (Hiob 42,5): Ich habe „ohne Einsicht geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe“.

Kinderfragen

Viele dieser Beobachtungen machen Kinder intuitiv. Wer in der Grundschule unterrichtet, kennt die Nachfrage, ob Gott denn überhaupt sprechen kann, kennt auch das Erstaunen über wunderhafte, unerwartete oder als unangemessen empfundene Züge biblischer Erzählungen: „War das echt so?“ Nicht selten wird diese Frage schlicht bejaht, etwa weil ich meine Geschichte fortsetzen und jetzt nicht in eine Diskussion eintreten will. Das ist ein Problem, weil der Religionsunterricht auf diese Weise implizit die biblizistische Sichtweise vermittelt, dass alles in der Bibel genau so geschehen sei, wie sie es berichtet – auch wenn die Lehrkräfte selbst das gar nicht so sehen.1 Das ist aber mehr noch deshalb ein Problem, weil Religionsunterricht dadurch die Chance verpasst, über das zu reden, was die Kinderfrage eben auch wahrnimmt: Ja, es ist gewagt, so von Gott zu reden. Da habt ihr etwas Wichtiges gemerkt. Lasst uns doch einmal miteinander überlegen, warum das wohl so erzählt wird. Lasst uns entdecken, warum das zum Glauben dazugehört. Und lasst uns fragen, wie wir wohl von Gott reden könnten. Wenn wir die Fragen der Kinder so aufnehmen, können die Erzählungen ermutigen, selbst Hoffnung zu wagen und Sprache zu finden für eine Deutung unserer Situation, in der Gott eine Rolle spielt. Das ist gerade dann wichtig, wenn die Realität eine andere Sprache spricht.

Gottesrede heute wagen?

Ich gehöre zu den Menschen, die den Fall der Mauer 1989 intensiv miterlebt haben; noch heute jagen mir die Ton- und Bilddokumente dieser Zeit einen Schauer über den Rücken. Es war ganz und gar nicht selbstverständlich, dass die deutsche Wiedervereinigung auf friedlichem Wege gelungen ist. Wie lässt sich das erklären, wie deuten wir das? Ein christlicher Verlag hatte eine Zeitlang eine Postkarte im Programm, sie zeigte das offene Brandenburger Tor und darüber die Liedzeile „Nun danket alle Gott“. Auch das ist gewagte Gottesrede. War das echt so, hat Gott hier seine Finger im Spiel gehabt? Wir werden das ebenso wenig beweisen können wie die Menschen in Lukas 7, wir werden uns wohl auch gar nicht einig werden, ob und inwieweit wir diese Deutung für angemessen halten bzw. wofür genau wir Gott in diesem Zusammenhang danken. Und selbstverständlich lässt sich alles das auch ganz ohne Gott erklären. Was 1989 unter Gorbatschow möglich war, wäre 2023 unter Putin wohl nicht Realität geworden. War die „Wende“ also lediglich ein glücklicher Zufall der Geschichte?

Stellen wir diese Frage einmal an die heutige Realität, ist sofort klar: Wenn der Krieg in der Ukraine ein Zufall der Geschichte wäre, dann gewiss kein glücklicher. Verbietet es sich in einem solchen Fall dann ganz, von Gott zu reden? Aber wie antworten wir den Kindern, die genau danach fragen, wie Gott eigentlich zu diesem Krieg steht, auch das ja schon in der Grundschule? Ein Student im Schulpraktikum fand diese Lösung: „Ich glaube nicht, dass Gott Krieg möchte – aber er zwingt uns Menschen auch nicht, nach seinem Willen zu leben.“ Gewagte Gottesrede. Hier aber nicht so, dass sie Gottes Wirken in einem geschichtlichen Ereignis erkennt, sondern so, dass sie Gottes Willen gegen die von Menschen geprägte Realität stellt. Wir sind wieder bei Psalm 10: Der*die Gewalttäter*in schert sich nicht um Schicksale und Rechte seiner Opfer. Nur wie sicher können wir das Bekenntnis vom Schluss aufnehmen: Gott sieht ihre Not und wird für sie eintreten? Andererseits: Welchen Wert hätte die Aussage, dass Gott den Krieg nicht will, ohne diese Hoffnung?

Wenn wir Gott und unsere Welt zusammen denken wollen, stehen wir offenbar vor ganz ähnlichen Herausforderungen wie die Texte der Bibel. Aus meiner Sicht ist das einer der entscheidenden Gründe dafür, dass diese Texte Heilige Schrift geworden sind: Die Gottesrede, die sie gewagt haben, hat Menschen durch die Zeiten hindurch immer wieder ermutigt, selbst so oder ähnlich von Gott zu reden und auf ihn zu vertrauen, sei ihre Situation erfreulich (Mauerfall), sei sie existenzbedrohend (Ukraine) oder irgendwas dazwischen. Wir können uns in den Texten der Bibel verstanden fühlen, bergen, Mut und Kraft schöpfen. Und wenn hier und da die alten Hoffnungen, endlich einmal, Realität werden, können wir uns wie die Menschen in Lukas 7 freuen: „Gott hat sein Volk besucht.“

Die Wahrheit der gewagten Gottesrede

Das Verständnis der Bibel als gewagte Gottesrede kann als problematisch empfunden werden. Wird mit einer solchen Sicht nicht die Überzeugung preisgegeben, dass die Bibel Wahrheit formuliert? Geht es dann nur um Autosuggestion, d.h. wir machen uns vor, dass alles nicht so schlimm ist, weil wir noch einen Gott dazu erfinden, von dem niemand weiß, ob es ihn wirklich gibt? Verteilen wir gar Opium fürs Volk, indem wir an dieser gewagten Gottesrede festhalten?

Um es klar zu sagen: Ausschließen kann ich das nicht. Gewagte Gottesrede heißt: Es kann sein, dass das nicht stimmt. Zugleich aber und mit gleichem Ernst wird unsere Gottesrede nur Aussagen wagen, von denen wir als Glaubende und Hoffende überzeugt sind. Gewagte Gottesrede will also etwas zum Ausdruck bringen, was wir – wenn wir so reden – für Wahrheit halten. Aber was heißt hier dann „Wahrheit“?

Fragen wir nach der Wahrheit biblischer Gottesrede und nehmen als Beispiel die Erzählung vom Auszug aus Ägypten. War das echt so? In historischer Perspektive müssen wir diese Frage verneinen. Nein, Gott hat nicht das ganze Volk Israel aus Ägypten gerettet; wir können kaum einen Einzelzug der Erzählung historisch verifizieren. Möglich scheint, dass eine kleine Gruppe von Menschen die Erfahrung einer gelungenen Flucht aus ägyptischer Knechtschaft gemacht hat, die dann in einer gewagten Deutung mit Gott in Verbindung gebracht wurde und nach und nach zu einer Erzählung über die Rettung des ganzen Volkes wird. Widerlegt die Historie also das, was die Erzählungen behaupten? Ist dann das ganze Vertrauen auf Gott, ist die Hoffnung des Glaubens ein Selbstbetrug?

Das wäre in zwei Richtungen ein Fehlschluss. Zum einen suggeriert diese Art zu fragen, dass die Wahrheit über Gott historisch gesichert werden könnte. Schon am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung wurde aber deutlich, dass sich eine Deutung der Geschichte in Bezug auf Gott unmöglich historisch beweisen lässt – das gilt für die Geschichten, die die Bibel erzählt, nicht anders. Selbst wenn es unstrittig wäre, dass das ganze Volk Israel aus Ägypten ausgezogen ist, ließe sich nicht historisch klären, ob das nun ein Wirken Gottes gewesen ist oder nicht – es könnte ja wirklich Mose gewesen sein, der das Volk befreit hat, wie Gott in seinem Zorn 2. Mose 32,7 sagt.

Ungleich wichtiger ist der zweite Grund. Die Bibel erzählt ihre Geschichten nicht (jedenfalls nicht in erster Linie), um vergangene Zeiten zu erklären. Es geht vielmehr darum, dass Menschen im Licht dieser Erzählungen ihre Gegenwart verstehen und bestehen. Die Bibel will Glauben wecken und Hoffnung stärken: Wir haben einen Gott, dem wir und unsere Welt am Herzen liegen, einen Gott, der Unrecht und Not wenden kann und will. Um diese Wahrheit geht es der Erzählung. Ob dieser Glaube und diese Hoffnung wahr sind oder nicht, das lehrt aber nicht die Geschichte, das muss vielmehr die Gegenwart und die Zukunft erweisen. So birgt sich das Volk Israel in der Geschichte von der Befreiung aus Ägypten und versteht sie als Ausdruck der eigenen Identität und Begründung des Vertrauens auf Gott – auch und gerade in schwerer Zeit. Es erzählt sie nach dem Untergang der Staaten Israel und Juda, nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, im babylonischen Exil. Die Erzählung beansprucht Wahrheit gerade darin, dass sie gegen die erfahrbare Realität steht.2 Für den Wahrheitsanspruch biblischer Texte ist die Kernfrage daher nicht „War das echt so?“, sondern: Ist das echt so? Gilt das heute? Ist Gott so? Es ist ein Wagnis, die Geschichte als Eingreifen Gottes zugunsten seines Volkes zu erzählen. Das Wagnis besteht aber vor allem in dem Versprechen, dass Gott also auch heute und alle Tage so ist, wie diese Erzählungen ihn bezeugen. Und für dieses Versprechen ist es schlicht notwendig, dass die Geschichte vom Auszug aus Ägypten gegen den historischen Befund vom ganzen Volk erzählt: Jede*r einzelne ist dabei, Eltern, Kinder, Vieh, allen gilt Gottes Rettungstat. Das ist die Wahrheit, die erzählt werden soll.

Gewagte Gottesrede und der Religionsunterricht

Friedhelm Kraft und Hanna Roose haben eine hilfreiche Differenzierung von drei Wahrheitsebenen im Umgang mit biblischen Texten vorgeschlagen.3 Die erste ist die Frage nach historischer Faktizität, also die „War das echt so?“-Frage in einem ganz konkreten Verständnis. Daneben steht zweitens die Frage nach den Glaubensaussagen in den Texten, also das, was die „War das echt so?“-Frage in ihrem Staunen über die hier gewagte Gottesrede eben auch wahrnimmt. Es ist schon in der Grundschule möglich, diese Differenzierung ins Gespräch zu bringen.4 Dazu können wir die Frage nach der Erzählabsicht einspielen: „Warum wird das so erzählt?“ Sie öffnet den Kindern den Blick auf die Wahrheitsebene der Glaubensaussagen. Und von hier aus lässt sich schließlich die dritte Ebene in den Blick nehmen, die Wahrheit als individuelle Glaubensaussage, also als eigene Überzeugung versteht. Diese entsteht nicht aufgrund einer historischen Re- bzw. Dekonstruktion der biblischen Erzählung, sondern hängt daran, was diese an Aussagen über Gott wagt. „Was ist dir an der Geschichte wichtig?“ Gerade ein Religionsunterricht, der biblische Texte als gewagte Gottesrede versteht, kann Kindern und Jugendliche Impulse dafür geben, auf ihrer Suche nach Wahrheit eigene Aussagen über Gott zu wagen – und so den Glauben und die Hoffnung stärken, dass Gott auch heute sein Volk besucht.

Anmerkungen

  1. Vgl. Roose, Biblizismus und evangelischer Religionsunterricht in der Grundschule.
  2. Vgl. Wengst, Geschichte(n) und Wahrheit, 183: „Gerade im Erzählen des Wunderbaren wird der Realität die Totalität bestritten.“
  3. Vgl. Vgl. zum Folgenden Kraft/Roose, Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht, 75-78.
  4. Dass dies nur wenig geschieht, zeigt z.B. Keiser, Zwischen Märchen, Tatsachenbericht und Glaubenszeugnis.

Literatur

  • Keiser, Juliane: Zwischen Märchen, Tatsachenbericht und Glaubenszeugnis. Biblische Geschichten im Religionsunterricht der Grundschule (Arbeiten zur Religionspädagogik 70), Göttingen 2020
  • Kraft, Friedhelm / Roose, Hanna: Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht. Christologie als Abenteuer entdecken, Göttingen 2011
  • Roose, Hanna: Biblizismus und evangelischer Religionsunterricht in der Grundschule, in: Loccumer Pelikan, 4/2013, 160-163
  • Wengst, Klaus: Geschichte(n) und Wahrheit. Anmerkungen zum biblischen Wirklichkeitsverständnis, in: Evangelische Theologie (68) 2008, 178-192