Ein Gesicht bekommt Konturen – Gott und Religion
Aus archäologischen Befunden wissen wir, dass unsere Vorfahren sehr früh in der Geschichte der Menschheit begonnen haben, Kräfte und Mächte jenseits der sichtbaren Welt zu verehren. Vermutlich versuchten sie damit, sich in einer Welt zurechtzufinden, die ihnen überwiegend feindlich gesonnen erschien. Vermutlich versuchten sie aber vor allem den Tod zu bewältigen.1 Religion ist geboren aus dem Geist des Trostes. Darin liegt seit alters her ihre Schwäche und ihre Stärke. Es steht der Verdacht im Raum, dass im Trost der Religion der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Andererseits lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit ausschließen, dass im Trost der Religion nicht doch etwas aus dem Welterleben der Menschen einen Widerhall findet, was den Menschen wirklich Trost spendet. Der Verdacht, dass das Göttliche eine Erfindung der Menschen sein könnte, ist im Lebensgefühl der westlichen Moderne fest verankert. Aus dem Verdacht allein folgt jedoch noch nicht zwingend, dass er wahr ist. Der Philosoph Robert Spaemann nannte Gott darum das „unsterbliche Gerücht“2.
Jahrtausende nach den ersten Anzeichen menschlicher Religion nimmt der Weltgrund konkretere Formen an. Genauer muss man sagen: Wir können heute diese konkreteren Formen studieren, weil uns durch die Erfindung der Schrift Zeugnisse und Dokumente zugänglich sind, die wir von den davorliegenden Anfängen der Religion unter den Menschen nicht haben. In den antiken Kulturen entstehen Mythen, die die höheren Kräfte und Mächte personifizieren und von ihnen in Menschengestalt erzählen. Die griechische Philosophie hingegen sucht Wege, über die Anstrengung der Vernunft den Grund der Welt als die in der Wirklichkeit wirkenden Prinzipien auszumachen.
Einen besonderen Weg gehen die Texte des Alten Testamentes. Sie geben dem Weltgrund ein Gesicht. Die Religionsgeschichte Israels lehrt uns, wie dieses Gesicht seine Formen annimmt.3 Aus den Texten ist zu erfahren, wie Menschen das große Geheimnis der Welt und ihres eigenen Daseins immer weniger auf Kräfte in der Natur oder eine Vielzahl von Göttern zurückführen, sondern auf ein einziges Wesen. Dieses Wesen ragt mit Kraft in ihr Leben hinein, es spricht sie an, es nimmt sie in die Pflicht. Um das Unbeschreibliche beschreiben zu können, verwenden die Texte Bilder und Motive aus der sozialen Welt ihrer Verfasser*innen. Der Gott des Alten Testaments bekommt menschliche Züge. Das geschieht in den antiken Mythen auch, im Alten Testament bekommt Gott jedoch ein Gesicht, das die Welt und die Menschen anblickt. Gott erschafft die Welt und die Menschen, Gott kümmert sich um seine Schöpfung in Fürsorge, Gott hat einen Namen, Gott spricht zu Menschen in Worten, Gott schließt mit ihnen einen Bund, Gott gerät aber auch in Zorn. All das sind seit geraumer Zeit vertraute Redeweisen über Gott, sie sind hervorgegangen aus den Erfahrungen von Menschen. Die Bilder und Symbole stellen dar, wie sich Menschen von dem Gesicht des Weltgrundes angegangen, angesprochen, aber auch aufgehoben fühlen.
Der christliche Gott
Die frühen Christ*innen haben die Gottesvorstellungen der alttestamentlichen Welt ganz selbstverständlich übernommen. Sie haben sie in einem Punkt allerdings entscheidend zugespitzt. Alles, was das Alte Testament von Gott auszusagen weiß, leuchtet für die frühe Christenheit in einem einzigen Menschen in Helligkeit auf. Niemand, das weiß auch das Neue Testament, hat Gott je gesehen (Joh 1,18). Dennoch zeigt sich Gott in besonderer Weise in Jesus Christus. Es ist das Rätselhafteste am Christentum. Aus dem Leben und Sterben eines einzigen Menschen blickt uns das Gesicht des Weltgrundes an. Darum verehrt das Christentum diesen Menschen als Gott, metaphorisch gesprochen als Gottes Sohn, um damit auszudrücken, dass das Göttliche, das in Jesus Christus sichtbar wird, noch einmal zu unterscheiden ist von dem geheimnisvollen Grund, der sich in ihm zeigt.
Das Christentum verehrt Jesus Christus überdies als Auferstandenen. Was in ihm sichtbar wurde, ist mit seinem irdischen Leben nicht vergangen. Das Neue Testament, die wichtigste Quelle, die wir zum Wirken Jesu haben, hat selbst einige geradezu waghalsige Vorschläge unterbreitet, das Göttliche, das sich durch Jesus Christus zeigt, auf einen Punkt zu bringen. Der kühnste besteht aus drei Worten: Gott ist Liebe (1. Joh 4,16). Gott ist nicht nur der Grund allen Daseins, er ist ein der Welt in all ihren Rätseln und Dunkelheiten dennoch freundlich zugewandtes Gesicht. Gott trägt die Welt mit und in seinem Wohlwollen.
Seit der Antike hat sich das Christentum bemüht, die religiöse Gründungserfahrung gedanklich zu fassen. Die Glut des eigenen Erlebens wird in der Begriffssprache der Dogmatik abgekühlt. Dieses Verfahren ist weit besser als sein Ruf. Es eröffnet die Möglichkeit, auf Distanz zur Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens zu gehen, nachdenklich zu werden und das Gespräch mit anderen Wirklichkeitszugängen zu suchen. Die christliche Theologie hat sich dabei vor allem an der antiken Philosophie orientiert. Das Resultat ist eine lange und komplexe Geschichte der Lehre von Gott. Einige Grundlinien durchziehen die christliche Gotteslehre durch den Lauf der Jahrhunderte bis heute.
Gott ist eine Person. Damit ist ausgedrückt, dass uns der Weltgrund in einem Willen und in einer Absicht begegnet, die uns in Anspruch nimmt, uns zugleich aber auch mit einem grundlosen und unfassbaren Wohlwollen trägt. Gott handelt. Das ist ein symbolischer Ausdruck, um die geheimnisvolle Präsenz Gottes in der Welt darzustellen. Gott hat Eigenschaften wie Heiligkeit und Ewigkeit, Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, Liebe und Gerechtigkeit. Unter verschiedenen Perspektiven wird damit Licht in das Geheimnis des Weltgrundes gebracht. Gott ist seinem Wesen nach unfassbar, aber er zeigt sich in der Welt – und darum können wir trotz aller Unfassbarkeit auch mehr als nichts über Gott aussagen. Über die Jahrhunderte errichtete die christliche Theologie großartige Denkgebäude. Sie beschäftigen sich mit Möglichkeiten, die Existenz Gottes zu beweisen, ihn in seiner Unfassbarkeit zu beschreiben und sein Wirken in dieser Welt zu erklären. Die Theologie von Gott zählt zu dem großartigsten, was das Christentum hervorgebracht hat. Sie gleicht einer Kathedrale von geheimnisvoller Schönheit. Die Aufgabe in Theologie, kirchlicher Verkündigung und religionspädagogischer Vermittlung ist stets die gleiche: Die Kathedralen des christlichen Gottesverständnisses sind keine Museen der Vergangenheit, sie haben mit uns, unserer Welt und unserem Leben zu tun. Es gilt, die Kathedralen begehbar zu halten, begehbar zu machen. Sie sind gebaut aus den Gotteserfahrungen von Menschen und darum leihen sie uns Bilder, Symbole und Worte, um mit ihnen unsere je eigenen Erfahrungen verstehen und aussprechen zu können.
Gott und Lebenserfahrung heute
Die Zweifel an den Verfahren, was Menschen über Gott aussagen können, sind so alt wie die Erfahrungen Gottes. Dem großen Theologen und Philosophen aus dem Zeitalter der Renaissance, Nikolaus von Kues, wird ein weises Wort zugesprochen. Würden Affen Gott verehren, würden sie ihn als einen Affen verehren, Löwen als einen Löwen, Menschen als einen Menschen. Alles, was Menschen über das Gesicht des Weltgrundes sagen können, ist gebunden an die Grenzen menschlicher Darstellungskraft. Es sind Bilder und Symbole, mit denen wir das Geheimnis des Daseins zu erfassen versuchen. Die Symbole unterliegen dem Fluss der Zeiten und dem Wandel der Kultur. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass sie auch in den verschiedenen Phasen des menschlichen Lebenslaufes unterschiedliche Gestalt annehmen. Ein Kind stellt sich Gott anders vor als eine Jugendliche und diese wiederum anders als ein Mensch im reifen Lebensalter. Erstaunlich ist, dass wir die Gottesbilder unserer früheren Lebensphasen nicht einfach abstreifen. Ein Mensch kann es zu seinem Beruf machen, sich in Theologie und Philosophie über die abstraktesten Aspekte des Gottesbegriffs Gedanken zu machen, und doch kann er in Momenten des Nachdenkens oder im Gebet im Gottesbild seiner Kindertage Trost und Halt finden. Wer die Kathedrale des christlichen Gottesverständnisses begehbar machen will, muss wissen, dass es viele Eingänge gibt. Jeder ist zu seiner Zeit der richtige.
Das Wort GOTT ist ein Sammelbegriff. Gott ist die Antwort auf die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen. In dem Begriff finden all die Bilder und Symbole zusammen, mit denen das Christentum das Geheimnis und den letzten Grund des Daseins bezeichnet. Es sind Bilder, die aus einer in weiter Ferne liegenden Vorzeit zu uns kommen. Wir sind in unserem Nachdenken über Gott Teil einer Tradition, die größer ist als wir. Zwei große Theologen unserer protestantischen Tradition geben Bedenkenswertes mit auf den Weg. Der junge Schleiermacher ermunterte in seinen Reden dazu, es beim Reden von Gott dogmatisch nicht zu übertreiben. Was wir über Gott sagen können, sei ein Produkt unserer Phantasie.4 Schleiermacher meinte damit nicht, dass die Bilder frei erfunden seien. Der Hallenser Systematiker Ulrich Barth merkt dazu an: „Religiöse Symbole sind gleichermaßen Ausdruck innerer Ergriffenheit wie gedanklicher Verlegenheit.“5 Wir können das, was wir als das Geheimnis unseres Daseins erfahren, eben nicht anders als in Bildern sagen. Das ermutigt zu einer großen Offenheit im theologischen und kirchlichen Reden von Gott. Rudolf Bultmann hat in einem zum Klassiker gewordenen Text gefragt, welchen Sinn es hat, von Gott zu reden.6 Spricht man über Gott wie über ein Objekt oder gar ein Ding, ist nichts gewonnen. Über Gott lässt sich letztlich nur sagen, wie er in unsere Existenz hineinwirkt.
Vor einigen Jahren hat der Film American Beauty einige theologische Aufmerksamkeit gefunden. Es geht um eine einzige Szene. Ein jugendliches Liebespaar – im Film nur einer von mehreren Handlungssträngen – betrachtet auf einer Leinwand Videoclips, die der junge Mann bei seinen Wanderungen durch die Stadt aufgenommen hat. Zu sehen ist der Tanz einer Plastiktüte im Wind vor einer roten Ziegelsteinwand. Der junge Mann erläutert, wie ihn diese tanzende Plastiktüte in Bann genommen hat. An seine Freundin gerichtet sagt er:
„An dem Tag ist mir klargeworden, dass hinter allen Dingen Leben steckt. Und diese unglaublich gütige Kraft, die mich wissen lassen wollte, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben, nie wieder. [...] Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie fast nicht ertragen kann, und mein Herz droht dann daran zu zerbrechen.“7
Die Worte kommen ohne Bezüge zur christlichen Tradition aus, und doch wird man kaum bestreiten können, dass dem Regisseur Sam Mendes eine der treffendsten und auch schönsten Beschreibungen von dem gelungen ist, was Christ*innen meinen, wenn sie Gott sagen. Die Kathedrale unseres Gottesverständnisses begehbar zu machen, meint: die großen Begriffe des christlichen Gottesverständnisses dorthin zurückzuführen, wo sie herkommen. Sie entstammen aus der Lebenserfahrung von Menschen, in die Lebenserfahrung von Menschen fließen sie wieder zurück. Von Gott zu reden heißt, die Bilder und Symbole des christlichen Gottesbegriffs in der angemessenen Sprache des Lebensalters, der Bildung und der kulturellen Herkunft in die Lebenserfahrung von Menschen hineinzubringen. Gott kann das Bild sein für die Stimme eines Gewissens, die Menschen sagt, was sie tun sollen und wann sie Schuld auf sich geladen haben. Gott kann das Symbol für Erfahrungen der Natur sein, in denen das Geheimnis der Welt in seiner unfassbaren Schönheit und Erhabenheit aufleuchtet. Gott kann der Name sein für das, was Menschen in der Begegnung mit Musik, mit einem Bild, mit anderen Menschen zutiefst berührt und sie hinüberführt zu etwas, das unsere Welt übersteigt. Von dort blickt sie ein freundliches Gesicht als Grund des Daseins an.
Anmerkungen
- Vgl. dazu die großartige Religionsgeschichte von Bellah, Der Ursprung der Religionen; vgl. auch Maier, Die Ordnung des Himmels.
- Spaemann, Die unsterbliche Gerücht.
- Vgl. Hartenstein, Personalität Gottes im Alten Testament.
- Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 129.
- Barth, Symbole des Christentums, 35.
- Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?
- Vgl. zur Szene: www.youtube.com/watch?v= grS-MuHcsng (06.03.23)
Literatur
- Barth, Ulrich: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hg. von Friedemann Steck, Tübingen 2021
- Bellah, Robert: Der Ursprung der Religionen. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit, mit einer Einführung von Hans Joas (Hg.), aus dem Englischen von Christine Pries, Freiburg/Basel/Wien 2020
- Bultmann, Rudolf: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: ders.: Glauben und Verstehen I, Tübingen 91993, 26-37
- Hartenstein, Friedhelm: Personalität Gottes im Alten Testament, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.): Personalität Gottes, Marburger Jahrbuch für Theologie XIX, Leipzig 2007, 19-46
- Maier, Bernhard: Die Ordnung des Himmels. Eine Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute, München 2018
- Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Rudolf Otto (Hg.), Göttingen 61967
- Spaemann, Robert: Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 42007