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Stille studieren - Eine Klosterexkursion mit Lehramtsstudierenden

von Barbara Hanusa

„Die Menschen müssen in der Weisheit so viel wie möglich nicht aus Büchern unterwiesen werden, sondern aus dem Himmel, aus der Erde, den Eichen und Buchen, d. h. die Dinge selbst kennen lernen und erforschen, nicht nur fremde Beobachtungen und Zeugnisse über die Dinge.“
Johann Amos Comenius: Große Unterrichtslehre, 1632

Was Comenius für die Weisheit fordert, gilt umso mehr für religiöse Erfahrungen und Spiritualität. Beide sind nicht aus Büchern, fremden Beobachtungen und Bezeugungen zu lernen, sondern brauchen zuallererst wahrnehmbare Ausdrucksgestalten, benötigen eigenes Erleben und Reflektieren. Eine Exkursion zu einem Kloster als außeruniversitärem Lernort ermöglicht eine Begegnung mit einem sich vom Evangelium her konstituierenden Erfahrungsraum, um religiöse Vollzüge teilnehmend und beobachtend zu erleben. Es ist ein Aufbruch zu Gottsuchenden, ein Aufbruch zu katholischer, benediktinischer, männlich geprägter Tradition. Oder wie Henriette, eine der Teilnehmenden, formuliert: „Eine enorme Erfahrung, so greifbar und trotzdem so anders, nicht wie ein Erlebnis, das man buchen kann. Hinreisen, um da reinzuschlüpfen, allein macht man das nicht, das ist das Besondere.“
Mit Foucaults Konzept der Heterotopie lassen sich Klöster als utopische Orte, als Gegenplatzierungen begreifen, die sich den geltenden Normen entziehen und in denen andere Regeln und Rhythmen als gesellschaftlich üblich herrschen. In Klöstern wird in konzentrierter und radikaler Form gelebt, was den christlichen Glauben ausmacht: Die Gebetszeiten strukturieren den Tag. Das alltägliche Leben wird vom Aufwachen bis zur Nachtruhe unter das gehörte, gesungene, gesprochene und meditierte und Wort Gottes gestellt. Gemeinschaftliches Leben ist wichtiger als individuelle Lebensführung und -erfüllung, Konsumismus spielt keine Rolle. Digitale Aufgeregtheit ist ein Fremdwort, weil kein Zugang zum Netz hinter den dicken Klostermauern besteht. Der Fokus der Exkursion liegt auf dem Schweigen und der Stille. Die Hälfte des Tages verbringt die Gruppe komplett schweigend, von der ersten Gebetszeit am Morgen bis zum Dessert beim Mittagessen. Man kann in einem Kloster vieles beobachten und miterleben; mit einer Gruppe in die Stille zu gehen, eröffnet in der Regel Erfahrungen von besonderer Art.

Zu welchem Zweck aber studiert man Stille, wenn Sprache und Diskurs doch Kernmerkmale des Religionsunterrichts sind? Manfred Pirner spricht in diesem Zusammenhang von spirituell-religionspädagogischer Kompetenz. Er meint damit, dass Lehrkräfte in der Lage sein sollten, spirituelle Elemente theologisch und pädagogisch verantwortet situations- und adressatengemäß einzusetzen sowie dazu anzuleiten. Zudem müssen sie ihr Vorgehen gemeinsam mit Schüler*innen kritisch reflektieren können.1 Solche Kompetenz muss erworben werden, umso mehr als Studierende häufig von denselben gesellschaftlichen Säkularisierungsbedingungen geprägt sind wie ihre Schüler*innen; auch sie lassen sich religionssoziologisch als seekers oder als nones beschreiben. Die Elemente der Exkursion und deren spirituelle Lernpotenziale für Lehramtsstudierende folgen dem von Jan Woppowa ursprünglich für den Religionsunterricht entworfenen spirituellen Lernzirkel.2

Wahrnehmen und aufmerksam werden

Der Verzicht aufs Sprechen ist zunächst ungewohnt, und gleichzeitig kommt dem Hören eine neue Aufmerksamkeit zu. Stille wird so zu einer Hörschulung für sich selbst und für die Umwelt. Hartmut Rosa beschreibt resonante Weltverhältnisse als solche, die lauschende Qualität haben. Resonanz beinhalte, im Weltverhältnis unsere Orientierung mehr auf das Hören und Antworten zu lenken und weniger auf das Beherrschen und Verfügen. „Dieser Rahmen zeitlich als auch spirituell und auch räumlich, der Rahmen, der gesetzt wird, fokussiert einen … Stille macht, dass man mehr bei sich ist, sich selbst studieren, man überlegt mehr, was man sagt ... Den Rest des Tages musste man nicht aufholen, was nicht gesagt wurde. Ich habe gedacht, es wäre langweilig und ich müsste mir mehr verkneifen, war aber nicht so; ich wollte bei mir sein …“, formuliert Henriette rückblickend. Und Inga beschreibt als Erkenntnis, dass Stille nicht heißt, „sich von sämtlicher verbaler Kommunikation und Umgebungsgeräuschen zu isolieren, sondern Worte bewusst auf das Notwendige zu reduzieren und Stille als eine innere Haltung wahrzunehmen“.

Studierende halten inne, durchbrechen ihren antrainierten stetigen Rhythmus der Erledigung, hören auf die gesungenen Psalmen, auf die alten Texte der biblischen Tradition. Und sie hören die eigenen, mitunter auch widerstreitenden Stimmen, werden für eine Zeitlang Teil der Gemeinschaft der Gottsuchenden. Diese Bewegung beschreibt Helge Burggrabe in einem aus dem Koptischen übersetzten Liedtext: „Lass deinen Mund stille sein, dann spricht dein Herz. Lass dein Herz stille sein, dann spricht Gott.“

Neben der Stille galt das benediktinische ora et labora: Unsere Aufgabe war es, einen Waldweg freizuschneiden mit Sägen und großen Astscheren. Das war etwas anderes als die von uns im Vorfeld erwartete friedliche Gartenarbeit, ein bisschen Unkraut zu zupfen oder Büsche zu stutzen. Mit all unseren Kräften rodeten wir (uns durch) den Weg, begleitet vom Prior des Klosters, Bruder Johannes. Einen Weg freilegen, ein stärkeres Sinnbild konnte die Arbeit kaum darstellen. Studierende merkten später an, dass sie dachten, wir würden bei der Gartenarbeit „quatschen“; dem war nicht so. Das gemeinsame Projekt wurde schweigend bewältigt. Man zieht an einem Strang, und dabei darf man schweigen; man muss keinen Smalltalk betreiben, sondern ist „gemeinsam bei sich“. Das ist ein anderes Schweigen, als wenn man allein bei sich in der Wohnung ist und niemand da ist, mit dem man sprechen kann, so die Beobachtung einiger Teilnehmer*innen.

Erlebnisse deuten und Erfahrungen gewinnen

Der Weg des (religiösen) Lernens geht vom Eindruck zum Ausdruck. Diese Bewegung braucht Einübung. „Wahrnehmen will gelernt sein; unsere Wahrnehmung ist alles andere als selbstverständlich, sie hängt ab von der Sprache, die wir dafür finden.“3 Jeden Abend kam die Gruppe zum Erfahrungsaustausch zusammen. In der ersten Runde lag der Fokus auf dem Erlebten und den vielfältigen Wahrnehmungen. In einer zweiten Runde wurde gedeutet, erste Hypothesen wurden gebildet, Bezüge zum eigenen Glauben tastend formuliert. Eine Beobachtung lautete, hier sei es wie in einer „Jugendherberge mit Gebetszeiten“. Umgeben vom Raum der Psalmen fingen diese an, zu den Einzelnen zu sprechen, und es zeigte sich, dass die alten Worte zu Deutungen des Lebens mit, ohne und vor Gott wurden. Die Psalmen als narrative Gebetstheologie, als überlieferter Ausdruck von Gottesbeziehungen thematisieren den Menschen in seinem Geworfen-Sein. Studierende leihen sich die alten Psalmworte, um Erfahrungen wahrzunehmen und in Sprache fassen zu können. Sie entdecken auch das Sperrige, das differente Andere, das diese Gebete verkörpern. Manchmal sind es nur Versteile oder einzelne Worte, die mit ihnen durch den Tag gehen.

Sich selbst und sein Leben neu entdecken

Eine Studentin resümiert in ihrem Abschlussbericht: „Ich kann nicht behaupten, dass in der Stille die großen Dinge geschehen. Zumindest nicht im Sinne einer bedeutungsvollen Erkenntnis über Gott, die Welt oder mich. Nicht im Sinne eines radikalen Sinneswandels oder einer erhellenden Erkenntnis. Aber ich durfte von mir selbst lernen. Von der Stimme in mir drin.“ Sich ansprechen zu lassen von einer klar konturierten Spiritualität im Kloster, birgt die Frage nach spezifisch christlicher Identität in sich. Wie gestaltet sich mein Glauben im Alltag? Wie sieht meine Beziehung zu Gott aus? Wie und wie stark kommt Glaube in meinem Alltag vor? In der Stille und vor allem in dem Freiraum der Exkursion können diese Fragen vorkommen. Dabei geht es weniger darum, was die christliche Religion sagt oder gar vorschreibt, sondern um das, was Religion im eigenen Leben tut – oder viel mehr mich tun lässt.

Sich selbst mitteilen und sich ausdrücken lernen

Nach der Austauschrunde hat die Gruppe sich abends noch zu einer Schreibwerkstatt zusammengefunden. Die Werkstatt ist ein für ästhetische Aneignungsprozesse reservierter Bereich; sie leitet an, den Weg vom Eindruck zum Ausdruck zu gehen. Mit der Hand schön zu schreiben und zu gestalten, ist ein verlangsamender Prozess, eine andere Bewegung als der schnell agierende Daumen auf der Tastatur eines Smartphones. Es handelt sich um eine Form der aktiven Meditation, in der sich religiöse Gedanken, Fragen und Perspektiven aus dem Erleben im Kloster gestaltend angeeignet werden. Dabei werden sie geprüft, variiert und mit dem eigenen Leben verbunden. Die Kommunikation des Evangeliums formt sich in Schrift und Gestaltung. Geschrieben wird mit einem Brush-Pen, einem Fasermaler mit einer pinselähnlichen Spitze. Durch Druckausübung und eine veränderte Führung des Stiftes erzeugt man variable Strichstärken, die durch den Wechselstrich ein schönes, kontrastreiches Schriftbild ergeben. Die Studierenden gestalten einzelne Worte und auch Wortcollagen. Sie pointieren die vielen Psalmworte und sichern, was ihnen wichtig geworden ist. So formen sie die studierte Stille.

Anders leben und anders handeln wollen

Viele der Plenumsgespräche zum Ende der Exkursion drehten sich darum, wie man „ein Stück Nütschau“ mit nach Hause nehmen und in den eigenen Alltag retten könnte. Bewusste Zeiten der Stille, konsequenter Verzicht aufs Handy, persönliche Auseinandersetzung mit Worten aus den Psalmen, Fokussierung, durch einen von außen geregelten Alltag, das waren Strukturen, die als wohltuend und darum des Behaltens wert erfahren wurden. Einige Studierende hatten die Idee, eine derartige Zeit noch einmal, vielleicht sogar allein und einmal in einem evangelischen Frauenkloster zu machen. In Bezug auf die Rolle als zukünftige Religionslehrer*in steht am Ende der Exkursion die Einsicht: „Es ist nicht egal, was ich glaube. Dass ich mich mal damit auseinandergesetzt habe, bestimmt meine Argumentationen, wie ich unterrichte.“
Was mich beeindruckt hat nach diesen Tagen, war die große Wirkung, die die Stille verbunden mit den Psalmgesängen auf die einzelnen Teilnehmenden hatte. Obwohl wir nur Zaungäste für kurze Zeit waren, entfaltete die benediktinisch geprägte Spiritualität ihre Wirkung. Ducantur ad orationem. Sie sollen zum Gebet geführt werden, so heißt es in der Regel Benedikts über die Gastaufnahme. Damit ist die Absicht verbunden, dass der Aufenthalt des Gastes im Kloster ins Gebet eingebettet ist, dass er sich in einem Raum der Gebetsschulung bewegt. Gebet und Stille konfrontieren Studierende mit gelebter Religion und mit sich selbst. Ich bin überzeugt, dass eine solche Erfahrungsdimension christlichen Glaubens vorrangig notwendig ist für seine diskursive Begehung, „denn nur wer den Glauben als existentiell bedeutsam erfahren hat, wird vermutlich auch nach Gründen für ihn fragen. Diese Situation ist radikal anders als eine volkskirchlich und kulturell ererbte Religiosität, welche geradezu notwendig danach rief, in emanzipatorischer Manier hinterfragt zu werden“.4

 

Anmerkungen

  1. Pirner, Wie religiös müssen Religionslehrkräfte sein?, 119.
  2. Vgl. Woppowa, Ein besonderer Modus der Weltbegegnung?, 21.
  3. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik,19.
  4. Loffeld, Schöne Grüße aus der Zukunft, 892.

Literatur

  • Baldermann, Ingo: Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 1996
  • Loffeld, Jan: Schöne Grüße aus der Zukunft: Säkularisierungs- und Desäkularisierungsprozesse im Trendland Niederlande, in: Stimmen der Zeit 144 (2019), 883-892
  • Pirner, Manfred: Wie religiös müssen Religionslehrkräfte sein? Zur religiösen Kompetenz, Reflexionskompetenz und spirituell-religionspädagogischen Kompetenz, in: Rita Burrichter u. a. (Hg.), Professionell Religion unterrichten. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2012,107-125
  • Woppowa, Jan: Ein besonderer Modus der Weltbegegnung? Spirituelle Bildung und spirituelles Lernen in der Schule, in: RelliS Nr.16 (2015) 2, 21