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Der Mensch und andere Tiere – Schöpfungstheologische Zugänge für die Jahrgangsstufen 10-13

von Kirsten Rabe

Die Möglichkeiten, mit Schüler*innen über Schöpfung und den Bewahrungsauftrag nachzudenken, sind so vielfältig wie die Herausforderungen, vor die sich der Mensch im Blick auf seine soziale und natürliche Umwelt gestellt sieht: Klimawandel, Pandemie, Krieg und Flucht, Armut und Reichtum. Längst ist offensichtlich, dass es bei ethischen Fragen zur Bewahrung der Schöpfung immer um komplexe Zusammenhänge geht. Ebenso offensichtlich ist auch, dass die Rolle des Menschen dabei nicht ausschließlich die des Täters ist, sondern auch er auf Bewahrung und Schutz angewiesen ist. Schließlich ist in den vergangenen Jahren auch der Blick auf das Tier als bewahrungswürdiges Geschöpf und Gegenüber des Menschen selbstverständlicher geworden. Vor allem katholische Theologen haben diese Diskussion vorangebracht. Insgesamt, so vermitteln es aktuelle Diskussionen, sind die Beziehungsgefüge von Gott, Mensch, sozialer und natürlicher Umwelt wieder neu in den Blick gerückt. Christliche Theologien haben aus Fehlern der Vergangenheit gelernt.


Animal Utopia

Der zeitgenössische Leipziger Künstler Hartmut Kiewert (*1980) beschäftigt sich in seinen Bildern intensiv mit dem Verhältnis von Mensch und Tier. Dabei entwirft er die Utopie einer Geschwisterschaft und relativiert damit nicht nur die Grenzen zwischen Haus-, Wild- und Nutztier, sondern auch die zwischen menschlichem und tierischem Sein und sogar Lebensraum. Auch wenn er sich und seine Arbeit ausdrücklich nicht als christlich oder religiös versteht1, ließe sich mit theologischem Blick und Vokabular davon sprechen, dass es in Kiewerts Bildern um die Achtung vor dem Geschöpf geht. Kreatürliche Verwandtschaft und das selbstverständliche Teilen des Raumes entwerfen bei ihm Bilder von Frieden. Dabei sind sie nicht ungebrochen idyllisch. Das überwundene Böse, das eben noch Bedrohliche, bleibt als Ruine oder geteerte Straße sichtbar. Viele seiner Szenen wirken wie die lang ersehnte Ruhe nach der Katastrophe.

Kiewerts Bild „Hügel“ (M 1a) zeigt das vertraute und friedliche Beisammensein von Mensch und Tier bei einem Picknick. Die zerfallene Ruine des Tönnies-Betriebes im Hintergrund und das Entstehungsjahr des Bildes, 2020, vereinen zwei schöpfungstheologisch relevante Aspekte: Die Tiere sind dem Schlachthof entkommen. Schweine, Hühner, Rind und Kalb liegen oder stehen ganz nah bei den Menschen, die Schweine lassen sich Melonenstücke schmecken. Der Unterschied zu Katze und Hund, die als typische Haustiere ebenfalls ihren Platz bei den Menschen haben, ist aufgehoben. Ganz angstfrei dürfen die Tiere, die möglicherweise kurz zuvor noch in Todesangst waren, hier sein. Auch die Menschen wirken unbeschwert und aufgehoben in dieser Gemeinschaft. Hier liegt der zweite für den schöpfungstheologischn Blick relevante Aspekt des Bildes: Möglicherweise sind es genau die Menschen, die kurz zuvor noch unter menschenunwürdigen Umständen bei Tönnies beschäftigt waren. Kiewerts „Hügel“ würde dann die geschundenen Geschöpfe in einer Utopie des friedlichen Zusammenlebens vereinen. Aus der Gegenüberstellung von bedrohlichem Menschen und bedrohtem Tier wird die von Fleischindustrie und bedrohtem Geschöpf.

Die Auseinandersetzung mit Kiewerts Bild lässt die Schüler*innen in mehrfacher Hinsicht in diese Unterrichtssequenz einsteigen. Sie lernen den Künstler und sein Thema kennen und erfahren Hintergründe zum Entstehungskontext sowie die damit verbundenen ethischen Konfliktfelder. Über den Titel des Bilderzyklus, Animal Utopia, können sie sich außerdem dem Begriff der Utopie nähern.

Kiewert selbst sagt, er habe sich bei seinem Bild „Hügel“ von Manets „Frühstück im Grünen“ inspirieren lassen (vgl. M 3). Gleichzeitig fallen Parallelen zu künstlerischen Darstellungen des messianischen Friedensreiches, von dem Jes 11,1-10 (M 1b) erzählt, auf. Auch die biblische Verheißung erzählt von einem friedlichen Miteinander aller Geschöpfe und der Aufhebung alter Feindschaften. Sogar Vers 4: „Er ist gerecht und sorgt dafür, dass die Schwachen zu ihrem Recht kommen“ ließe sich angesichts der Ruine des Tönnies-Betriebes wiederentdecken.


Eintreten für Gerechtigkeit

Beide Aspekte, die in Kiewerts Bild angesprochen werden, sollen im Folgenden mit den Schüler*innen weiter nachvollzogen werden, die veränderte Perspektive sowohl auf den Menschen als auch auf das Tier.

M 2 bietet einen exemplarischen Bericht über die skandalösen Zustände in den großen fleischverarbeitenden Betrieben, die mit der Corona-Pandemie noch offensichtlicher wurden als sie es ohnehin schon hätten sein können. Der Journalist Manfred Götzke berichtet von persönlichen Begegnungen mit Menschen, die für Tönnies arbeiten und gearbeitet haben.2 Sie erzählen von zu geringem Lohn, einer entwürdigenden Unterbringung in überteuerten Massenunterkünften, vom Ausnutzen der existenziellen Nöte der Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die sich unter Vortäuschung angeblich lukrativer Arbeitsbedingungen nach Deutschland haben locken lassen. In den Gesprächen, die Götzke führt, wird ebenso deutlich, dass die seit Januar 2021 veränderte Gesetzgebung zu Werkverträgen und Mindestlöhnen im konkreten Alltag nicht greift.

Schüler*innen erkennen hier die Bedingungen, unter denen in Deutschland Fleischprodukte entstehen. Dass diese Bedingungen das Tier zur Ware herabwürdigen, wird vielen bewusst sein. Dass auch zahlreiche Menschen einen hohen Preis für unseren Fleischkonsum bezahlen, wir auch auf Kosten dieser Menschen leben und essen, ist möglicherweise weniger im Bewusstsein.

Am Ende seines Textes berichtet Götzke von seinem Treffen mit Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich. Lässt man die Schüler*innen hier recherchieren, werden sie einem katholischen Theologen begegnen, der sich seit vielen Jahren intensiv für faire Arbeitsbedingungen insbesondere der Arbeitenden in der Fleischindustrie einsetzt. 2019 hat er den Verein „Würde und Gerechtigkeit“ gegründet und ist überzeugt, dass eine christliche Grundhaltung dazu verpflichte, sich für diese Menschen einzusetzen. Er prangert eine Wegwerf-Menschen-Mentalität an, und die ZEIT betitelte ihn im April 2021 mit „Der heilige Peter der Schlachthöfe“.3


Grenzen überschreiten

MDR Kultur hat am 27.05.2021 einen sechsminütigen Bericht über Hartmut Kiewert und seine Kunstwerke ausgestrahlt. Der Beitrag mit dem Titel „Vegane Kunst: So würde eine Welt ohne Tierleid aussehen“ ist auf YouTube einsehbar (vgl. M 3). Es lohnt sich, die Schüler*innen diesen Bericht anschauen zu lassen, denn er zeigt nicht nur zahlreiche der Bilder; der Künstler selbst erklärt auch sehr authentisch und nachvollziehbar, was ihn beschäftigt und wie er das in seiner Kunst auszudrücken versucht.

M 44 ist ein Auszug aus einem Text von Hilal Sezgin, den die inzwischen auch in theologischen Kontexten bekannte Tierschützerin für den Ausstellungskatalog zu Kiewerts „Animal Utopia“ verfasst hat. Sezgin ist der Überzeugung, dass Situationen des Unrechts letztlich immer in Grenzen begründet liegen – in geografischen, vor allem aber in begrifflichen Grenzen. So grenze unsere Sprache schützenswerte Individuen von denen ab, denen wir ein Dasein aufzwängen, „in dem sie weder Unversehrtheit noch Schutz vor Gewalt noch basale Freuden wie freie Bewegung oder Beisammensein mit der Familie je kennenlernen“.5

In Kiewerts Bildern sieht Sezgin eine Überschreitung und Durchbrechung dieser Grenzen – in unterschiedlicher Hinsicht: So genannte Nutztiere, gezeichnet von ihrem vorherigen Schicksal, liegen zufrieden in menschlichen Wohnräumen, gesellen sich in der Natur oder in Stadtszenen selbstverständlich zu den Menschen, bewegen sich frei vor den Ruinen der Fleischindustrie. Auch die Grenze zwischen „Fleisch“ und „Tier“, so Sezgin, falle in Kiewerts Bildern. Was zuvor als psychologischer Schutz fungiert habe (dem Fleisch sieht man das Tier nicht mehr an), werde bei Kiewert enttarnt. Insbesondere die Kinder seien es, die hier in den Bildern zu Hoffnungsträger*innen werden, diese Grenzen einzureißen und einen geschwisterlichen Blick auf das Tier zu haben.

Den Gedanken unterschiedlicher Grenzen, die durchbrochen werden, können Schüler*innen sehr gut an den konkreten Bildern nachvollziehen. Sie sind online auf der Homepage des Künstlers verfügbar.


Perspektiven wechseln

Mit M 5 bekommen die Schüler*innen einen theologischen Text, der die Beziehungsgefüge, die Kiewert in seinen Bildern zeigt, zusätzlich mit einer religiösen Perspektive deuten lässt. Simone Horstmann (*1984), katholische Theologin an der TU Dortmund, regt ein neues Verständnis des Begriffes der Seele an, das auch Mensch und Tier theologisch in ein neues Verhältnis setzt.

Schaue man, so Simone Horstmann, auf die hebräischen und später griechischen Begriffe für die Seele, müsse man sich von der Vorstellung verabschieden, die Seele sei ein Besitz, der dem Menschen mit seiner Erschaffung einmalig verliehen worden sei. „Nefesch“, „Ruach“ und „Pneuma“ bezeichneten vielmehr etwas sehr Dynamisches und „eine Erfahrungswirklichkeit“ zwischen verschiedenen Geschöpfen. Die Seele als „Lebenskraft der lebendigen Wesen“, die man „an den Atem gekoppelt dachte“, verbinde Menschen und Tiere.

Horstmann spricht daher auch nicht von „eine Seele haben“, sondern verwendet die Bezeichnung „beseelt werden“, sie steigert das hin zur Überzeugung, „die Erfahrung des Beseeltwerdens [ist] die eigentliche Gotteserfahrung“. Momente „schlichten Angesprochen- und Berührtseins“, jede Erfahrung unerwarteter Resonanz seien „Erfahrungen der Gnade“, in denen man die Verbindung der (menschlichen wie tierischen) Seelen spüre.

Kiewerts „Brothers From Different Mothers“ (M 6) bietet schließlich die Möglichkeit, unterschiedliche Gedanken der Unterrichtssequenz noch einmal zu verbinden. Die Schüler*innen entdecken in der Darstellung der zwei Kinder, die in einer Fußgängerzone zwei Schweine mit einem Eimer voller Äpfel füttern, die Auflösung der Grenzen von Haus- und Nutztier, von Mensch und Tier, die Auflösung der Grenzen von Lebensräumen, und ein friedliches und wohlwollendes Miteinander. Der Titel des Bildes betont die Utopie der Geschwisterlichkeit der Geschöpfe und schließlich sind es wieder die Kinder, die diese Grenzen selbstverständlich und hoffnungsvoll überschreiten. Wer nun mit demselben Vater bei „different mothers“ gemeint ist, sei dahingestellt.



Anmerkungen

  1. Der Künstler Hartmut Kiewert hat sich ausdrücklich von religiösen und religionspädagogischen Kontextualisierungen seiner Bilder distanziert. Es sei daher an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die im Folgenden aufgezeigten Lesarten seiner Bilder aus einem subjektiven, von einer theologischen Ethik, die das Tier als Geschöpf wertschätzt, überzeugten Blick inter-pretiert werden.
  2. www.deutschlandfunkkultur.de/toennies-und-ein-jahr-fleischskandal-das-ende-der-ausbeutung-100.html
  3. www.zeit.de/2021/15/peter-kossen-pfarrer-fleischindustrie-arbeitsbedingungen-aktivismus
  4. Der Künstler Hartmut Kiewert hat die Abdruckerlaubnis für den Text von Hilal Sezgin nicht erteilt. Zum besseren Verständnis des Artikels bleibt er hier erwähnt. Abgedruckt ist der Text im Ausstellungskatalog, den man käuflich erwerben kann.
  5. Hartmut Kiewert, Animal Utopia, 11ff.

 

Literatur

  • Das Tier und Wir. Auf der Suche nach einer neuen Theologie der Schöpfung, Herder Korrespondenz 3 (2020)
  • Das Tier und Wir. Publik Forum 14 (2021)
  • Götzke, Manfred: Tönnies und ein Jahr Fleischskandal – Das Ende der Ausbeutung?, www.deutschlandfunkkultur.de/toennies-und-ein-jahr-fleischskandal-das-ende-der-ausbeutung-100.html
  • Horstmann, Simone: Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? Eine theologische Spurensuche, Regensburg 2020
  • Kiewert, Hartmut: Animal Utopia. Perspektiven eines neuen Mensch-Tier-Verhältnisses, Ausstellungskatalog, Münster 2017
  • Romanowsky, Hanna: Hartmut Kiewert malt eine Welt ohne Massentierhaltung, Beitrag auf MDR KULTUR, www.mdr.de/kultur/ausstellungen/leipzighartmut-kiewert-welt-ohne-massentierhaltung100.html
  • MDR Kultur: Vegane Kunst: So würde eine Welt ohne Tierleid aussehen (27.05.2021, 6:11 min), www.youtube.com/watch?v=TZI25chrtVc