Dass Menschen mit der Natur nicht mehr zurechtkommen, dass ökologische Krisen von globalem Ausmaß Mensch und Natur plagen, bedarf am Beginn des 21. Jahrhunderts keiner weiteren Belege.
Welchen Beitrag christliche Religion zu diesen Krisen geliefert hat, das wird seit gut 50 Jahren kontrovers diskutiert. Die Initialzündung zu der Wissenschaft, die heute „Ökotheologie“ genannt wird, lieferte im Jahre 1966 ein US-amerikanischer Historiker namens Lynn White jr.1 Er fragte seine Zuhörer: Was hat das Christentum den Menschen über ihr Verhältnis zur Umwelt gesagt? Und seine Antworten fielen außerordentlich provozierend aus. Auskünfte wie „Es ist Gottes Wille, dass der Mensch die Erde nutzt für seine eigenen Zwecke“ im Gefolge des biblischen Gebots „Macht Euch die Erde untertan“ (Gen 1,28) dienten White als Argumente für die weitreichende These, dass die ökologischen Krisen des ausgehenden 20. Jahrhunderts mittelbar auf religiöse Wurzeln in Judentum und Christentum zurückzuführen seien.
White bezweifelte, dass das Potenzial zur Lösung ökologischer Krisen primär in Naturwissenschaft und einer diese nutzende Technik liege. Stattdessen empfahl er, neue Wege zu suchen, um verlorengegangene Sakralität der Welt wiederzugewinnen.
Whites historische Argumente haben sich in den Folgedebatten im Einzelnen nicht ohne Abstriche halten lassen. Aber sie führten aufs Ganze dazu, dass gerade auch Theolog*innen über Jahrhunderte geltende Anschauungen über das Verhältnis von Mensch und Natur einer kritischen Revision unterzogen. Das gilt für die lange Zeit reformatorischen Impulsen zugeschriebene „Entzauberung der modernen Welt“ ebenso wie für den erkenntnistheoretischen Grundsatz von Roger Bacon „Wissen ist Macht“ und den darauf aufbauenden Cartesianischen Dualismus, der Natur zu einer bloßen Sache („res extensa“) herabstufte. Gegen solche verobjektivierende Naturbetrachtung sind Theolog*innen zu Felde gezogen. In Deutschland war es der Alttestamentler Gerhard Liedke, der 1972 die Folgen eines anthropozentrisch verstandenen Herrschaftsauftrages kritisierte.2 Die Umweltkrise, so Liedke, ist Ausdruck einer religiösen Krise. Und die kann vor allem dadurch überwunden werden, dass Theologie sich neu an den eschatologischen Visionen von Jesaja und Paulus orientiert, um sie so zu einem kooperativen Umgang mit der Natur zu ermutigen.
Es waren dann vor allem Philosoph*innen, die für eine grundlegende „Wende der Wahrnehmung“ eintraten. „Wir werden die heute weltweit aufbrechende humanökologische Herausforderung nur bestehen können, wenn wir in neue Dimensionen der Wahrnehmung eintreten… Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma radikal zu entgehen, wäre, Leben wahrzunehmen, nicht indem man beschreibt und damit kausal zu erklären trachtet, sondern indem man verstehend mitlebt.“3
Phänomenologie und die subjektive Seite der Wahrnehmung
Theoretische Hilfestellung für eine fällige veränderte Naturwahrnehmung hat u.a. philosophische Phänomenologie mit einer ganzen Reihe von wichtigen Ansätzen erbracht. Wahrnehmung erschlossen im Kontext eines erlebenden Ich unterscheidet sich von naivem Begreifen wie von entwickelten empirischen Erfahrungswissenschaften gerade darin, dass es hier nicht auf das Registrieren von „Tatsachen” im Sinne eines automatenhaften fotografischen Scanners hinausläuft. Phänomenologie reflektiert vielmehr auf die subjektgebundene Seite der Wahrnehmung, einschließlich ihrer Vorprägungen und Einschränkungen. Und dabei macht der menschliche Leib, räumlich situiert und naturgebunden mit Atem, Herzschlag und Stoffwechsel, die Grundbedingung aller sinnlichen Wahrnehmungen aus. In dieser Richtung wagten wichtige Vertreter*innen der Phänomenologie nach Husserl den Schritt von der reinen Bewusstseinsphilosophie hin zu einer Anthropologie der Naturverwobenheit. Im Wachen und Schlafen, im Hören und Sehen spielt sich die permanente wechselseitige Verwobenheit des erlebenden Ich mit dem ab, was ich da gerade erlebe. Dieses Erleben und Wahrnehmen der Dinge ist außen und doch in mir, wir sind in ihm ko-präsent.
In einer sehr weitreichenden phänomenologischen Konzeption hat der Dänische Philosoph und Theologe Knud Eiler Løgstrup (1905-1981) in seinem Spätwerk Beiträge zur Entfaltung einer solchen Beschreibung des Menschen im Kontext der Natur vorgelegt. Im Unterschied zu Heideggers auf die menschliche Existenz gerichteter „Daseinsanalyse“ griff er weiter aus, thematisierte den universalen Rahmen des menschlichen Verhältnisses zur Welt und prägte dafür den Begriff der „Kosmo-Phänomenologie“4 . Løgstrup kann als Ökotheologe „inkognito“ gelten; dieser Begriff kommt zwar in seinen posthum edierten Texten gar nicht vor, der Sache nach finden wir aber uns heute ökologisch sehr geläufige Einsichten.
Natur wird nicht interpretiert als materiale Umgebung für den Menschen, als bloßes „Drumherum“, sondern als Quelle seiner Existenz. „Wir sind geneigt, naturwissenschaftliche Berichte über die Natur und über das Universum als Informationen über etwas zu betrachten, was uns lediglich als unsere Umwelt berührt. Als was sollte es uns sonst berühren? Als unseren Ursprung! Das menschliche Dasein ist nicht nur seiner Herkunft nach in der Vergangenheit und im Zuge eines langen Entwicklungsprozesses der Natur und dem Universum entsprungen, sondern es entspringt ihnen in jedem Augenblick aufs Neue und dies auf greifbarste Weise. Mit Atem und Stoffwechsel sind wir in den Kreislauf der Natur hineingenommen, mit unseren Sinnen sind wir ins Universum einbezogen.“5
Im Unterschied zu einer naturwissenschaftlichen Analyse geht es hier aber um eine Beschreibung des Menschen als eines Ich, das sich, seinen Leib und die Welt erlebt und die Dinge im Außen mit seinen Sinnen wahrnimmt. Damit wird die Grenze von innen und außen verflüssigt. „Das Schiff ist weit weg draußen auf dem Meer, aber mein Sehen des Schiffes ist nahe, ist in mir.“6 Als mit Bewusstsein begabt, kann sich der Mensch von der unbelebten Natur distanzieren, als leib-gebundenes Wesen ist er eben dieser Natur jedoch bleibend verhaftet.
Hinzuweisen ist darauf, dass auch hier phänomenologische Beschreibung der Welt nicht im harmlosen Konstatieren der Verhältnisse steckenbleibt. Das Beieinander von Mensch und Natur wird schon gar nicht harmonistisch verklärt. Die Analyse der Relationen dringt vielmehr vor zu schmerzhafter Wahrnehmung auch der Ambivalenzen und Grenzen in diesem Verhältnis, erspart es sich nicht, gerade auch die Brüche, Störungen und Entfremdungen im Erleben von Umwelt und Natur sensibel wahrzunehmen. Eine der zentralen Thesen Løgstrups lautet nämlich: „…am Rande der Natur kommen wir nicht zu Rande mit der Natur. “7 Diese These erinnert an eine anthropologische Grundeinsicht von Helmuth Plessner, der den Menschen in „exzentrischer Positionalität“8 beschrieb, nimmt aber eine andere Kurve in der Verbindung von ästhetischer und ethischer Perspektive. Und auch dabei spielt sinnliche Wahrnehmung eine zentrale Rolle. Es gilt zwar: Menschen sind zum Überleben sehr wohl darauf angewiesen, zur Befriedigung eigener Bedürfnisse (Nahrung, Schutz) in die Natur einzugreifen. „Gewiß, wir wissen alle, wäre das Universum in der Natur, wo sie uns am nächsten zugänglich ist, nicht brauchbar, so könnten wir als die Bedürfniswesen, die wir nun einmal sind, nicht überleben.“9
Daneben ist aber ein anderes Verhältnis zur Natur für menschliches Leben als humanes Leben von Belang. Løgstrup nennt dies ein „seh-ästhetisches“ Verhalten. Natur ist für den Menschen nicht einfach amorphe Materie, nicht allein als das Stoffliche zu registrieren und zu vermessen. Menschen reagieren mit ihren sinnenhaften Zugängen zur Welt zuweilen auch in ganz spontaner und unwillkürlicher Freude über die geschaffene Natur, so wie wir sie sehen.
Der Philosoph, der von den unmittelbaren Lebensäußerungen ausgeht, rückt hier an schöpfungstheologische Gedanken heran, verweist auf die „Herrlichkeit und Aura“ des Wunderbaren.
Das „seh-ästhetische“ Verhalten, der nicht utilitaristische Blick auf die Welt entpuppt sich paradoxerweise als höchst hilfreich: „Doch wäre das Universum nicht seh-ästhetisch unbrauchbar, könnten wir uns selbst nicht in den vielerlei Variationen von Zurückhaltung, ohne die unsere Menschlichkeit unterginge, bewahren. Lehnen wir die Anwesenheit des Universums in seiner Unbrauchbarkeit im Sinnesempfinden ab, versuchen wir unmenschlich zu überleben.“10 Deshalb gilt beides: „Für unsere Menschlichkeit ist das Universum ebenso bedeutungsvoll in seiner Unbrauchbarkeit wie in seiner Brauchbarkeit.“11
Damit läuft die phänomenologische Beschreibung der menschlichen Erfahrung mit der Natur auf ein erweitertes Verständnis menschlicher Lebenspraxis hinaus. Dabei geht es gegenüber einer einseitig verobjektivierenden Betrachtung von Natur und Leben um die positive Funktion einer nicht-manipulativen Lebenspraxis. Leben wird nicht vorrangig vom Machen betrachtet, sondern als Begegnungsgeschehen beschrieben.12 Mit dem niederländischen Biologen und Anthropologen Frederik Buytendijk gesprochen, geht es um ein pathisches Verhältnis zur Wirklichkeit.13
In prägnante Sprache gefasst hat dies der deutsch-jüdische Philosoph Martin Buber, der ebenfalls phänomenologische Ansätze mit aufgenommen hat. In einer eindringlichen Formulierung findet sich in Bubers „Ich und Du“ am konkreten Beispiel, wie Menschen unterschiedliches Naturerleben und distanzierende Betrachtung von Naturobjekten miteinander vereinen:
„Ich betrachte einen Baum.
Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts, oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen.
Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft – und das dunkle Wachsen selber.
Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise. Ich kann seine Diesmaligkeit und Geformtheit so hart überwinden, daß ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne – der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet, oder der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen.
Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen und verewigen. In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffenheit …”14
Wende der Wahrnehmung durch ökologische Naturästhetik
Wie kommen wir besser zurecht mit den globalen Herausforderungen ökologischer Krisen im 21. Jahrhundert? Ökonomisch hoch entwickelte westliche Konsumgesellschaften werden es sich in Zukunft nicht mehr leisten können, den Umgang mit Plastikverpackung, die ungebremste Produktion von Autos mit Verbrennungsmotor und die für die Umwelt ruinösen Formen des Massentourismus fortzusetzen.
Neben dem ökologischen, informierten Umsteuern der Ökonomie, neben einer erneuerten umweltethischen Praxis ist zugleich auch eine „Wende der Wahrnehmung“ fällig. Diese zielt darauf, Natur nicht mehr allein oder vorrangig in utilitaristischer Perspektive als Nutzobjekt für den Menschen anzusehen. Der Gedanke, dass die Natur um ihrer selbst zu achten und zu schützen sei, dieser Gedanke ist ungewöhnlich in der westlichen Kultur, weil er vom anthropozentrischen und utilitaristischen Mainstream abweicht. Er ist aber um unseres Überlebens willen ein notwendiger Gedanke.
Man findet ihn weiter entfaltet in der ökologischen Ästhetik der Natur des deutsch-schwedischen Theologen Sigurd Bergmann:15
„Im Ansatz einer ‚ökologischen Naturästhetik‘ … befinden sich die Menschen nicht mehr in der Distanz zur Natur, sondern nehmen an den natürlichen Lebenskreisen aller Arten teil. Die ökologische Naturästhetik stellt daher gleichzeitig eine subjektive Selbstreflexion über das Menschsein und eine Reflexion über das, was uns umgibt, dar, und darüber hinaus reflektiert sie auch über die Differenz zwischen der Menschheit und ihrer sich entwickelnden Umgebung… Die Ethik muss notwendigerweise in der Ästhetik verankert werden, da keine Reflexion und Lösung von moralischen Problemen ohne ihre Wahrnehmung möglich ist. Die Ethik sollte deshalb von der Ästhetik umfasst werden. Um das Elend meines Nächsten zu sehen und die Frage Kains, ob ich meinen Bruder lieben soll, zu beantworten, bedarf es der Fähigkeit, das Leid des Nächsten sinnlich wahrzunehmen.”
Anmerkungen
- White Jr., Die historischen Ursachen unserer ökologischen Krise.
- Liedke, Von der Ausbeutung zur Kooperation.
- Müller, Wende der Wahrnehmung, 78.
- Vgl. die posthum herausgebrachten Überlegungen Knud E. Løgstrup Ursprung und Umgebung.
- Løgstrup, Ursprung und Umgebung, 1.
- Ebd.
- Løgstrup, Ursprung und Umgebung, 9.
- Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch.
- Løgstrup, Ursprung und Umgebung, 53.
- Ebd.
- Ebd.
- Vgl. Buber, Ich und Du, 10.
- Buytendijk, Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung.
- Buber, Ich und Du, 10f.
- Bergmann, Raum und Geist.
Literatur
- Bergmann, Sigurd: Raum und Geist. Zur Erdung und Beheimatung der Religion – Eine theologische Ästh/Ethik des Raums, Göttingen 2010
- Buber, Martin: Buber, Ich und Du (1923), Darmstadt 1983
- Buytendijk, Frederik: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, Berlin 1956
- Liedke, Gerhard: Von der Ausbeutung zur Kooperation. Theologisch-philosophische Überlegungen zum Problem des Umweltschutzes, in: von Weizsäcker, Ernst Ulrich (Hg.): Humanökologie und Umweltschutz. Stuttgart / München 1972 (Studien zur Friedensforschung 8), 36-45
- Løgstrup, Knud E.: Ursprung und Umgebung. Betrachtungen über Geschichte und Natur (1984) (Metaphysik III), Tübingen 1994
- Müller, A.M. Klaus: Wende der Wahrnehmung. Erwägungen zur Grundlagenkrise in Physik, Medizin, Pädagogik, Theologie, München 1978
- Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin 1975
- White Jr., Lynn: Die historischen Ursachen unserer ökologischen Krise, in: Lohmann, Michael (Hg.): Gefährdete Zukunft- Prognosen angloamerikanischer Wissenschaftler, München 1970, 20-29