Morgens um neun ist das Publikum im kleinen, modernen Programmkino „Deutsches Filmhaus“ in Wiesbaden noch sehr überschaubar. Fünf Prüfer*innen sitzen im Filmsaal, vertreten ist der Jugendschutz aus den Ländern (zwei Personen), die „öffentliche Hand“ (eine Person aus der Katholischen Kirche, aus der EKD, aus dem Zentralrat der Juden oder des Bundesjugendrings) und zwei Mitarbeitende der Filmindustrie. Zwei Filme sollen geprüft werden, und zwei bis drei Trailer oder ein Kurzfilm. Gegen 15.00 Uhr ist Feierabend.
Das ist das Normalprogramm bei der FSK; freiwillig, weil Filme nicht vorgelegt werden müssen. Ein Film ohne Prüfung darf aber nur vor Erwachsenen auf eigenes rechtliches Risiko des Vorführenden öffentlich gezeigt werden.
Parallel zu der Prüfung der Kinofilme im Saal gibt es noch kleinere Dreier-Prüfungsausschüsse, die DVD-Veröffentlichungen prüfen und mittlerweile Einzelprüfungen vornehmen, wenn das entsprechende Medium schon einmal im Fernsehen lief.
Ich war vier Jahre lang als Vertreter der EKD einer von 250 Ehrenamtlichen, die dort Woche für Woche Filme für den Jugendschutz prüfen. Ein Bekannter bei der EKD wusste, dass ich für die Kinder- und Jugendarbeit der Gemeinde theologisch verantwortlich war und drei Jahre als Religionslehrer an verschiedenen Schulen gearbeitet hatte – und dass ich gerne Filme schaue. Daraufhin hat mich die EKD beauftragt; im Gemeindedienst war die Freistellung für das Ehrenamt organisatorisch kein Problem, zumal ich in der Zeit eine 50-Prozent-Stelle hatte.
In manchen Wochen waren es fünf Tage lang Vorabendserien für die DVD-Veröffentlichungen, in manchen insgesamt zehn Kinopremieren, über die man natürlich, wie über den Inhalt der Beratungen, absolutes Stillschweigen bewahren musste. Die Produktionsfirma beantragt jeweils eine Freigabe (manchmal durch einen Menschen vor Ort, meistens durch einen schriftlichen Antrag), und die Prüfungskommission entscheidet nach der Begutachtung durch einfache Mehrheit, welche Freigabe der Film bekommt.
Mancher Antrag zielt sehr bewusst auf ein möglichst großes Publikum. Für einen Film, der kommerziell sehr erfolgreich sein will, ist FSK 16 schwierig. Bei FSK 12 dürfen auch Kinder ab einem Alter von sechs Jahren in Begleitung eines Erziehungsberechtigten ins Kino. Für manchen Film, dem seine geringen Produktionskosten deutlich anzusehen sind, hoffen die Macher auf das Prädikat „keine Jugendfreigabe (also „FSK 18“), weil das vor allem im Horrorgenre in einer bestimmten Szene ein Verkaufsargument ist.
Die Firmen können dem Urteil der ersten Prüfung widersprechen, dann gibt es ein Berufungsverfahren mit weiteren zwei Instanzen. Das Urteil der dritten Instanz ist bindend.
Sind die Argumente ausgetauscht, wird abgestimmt. Die einfache Mehrheit entscheidet. Dann drehen sich die Köpfe zum*r Vertreter*in der „Öffentlichen Hand“ – Freigabe für die stillen Feiertage: ja oder nein? In diesem Moment ist man als Vertreter der Religionsgemeinschaften am deutlichsten wahrnehmbar. An dieser Stelle wird die Geschichte der FSK spür- und sichtbar, die den Schutz bürgerlich-konservativer Wertvorstellungen im westdeutschen Nachkriegsdeutschland sichern sollte, als insbesondere die großen Kirchen als Garanten dieser Werte und Normen galten.
Dieser Moment hat auf mich wie ein seltsames Ritual aus einer fernen Zeit gewirkt. Weniger gelebte Wirklichkeit als mehr „living history“, ein Zeitdokument wie die Karikaturen aus den 1950er- und 1960er-Jahren im Trakt der kleineren Vorführräume.
Ich habe selten klischeehafte Rollenverteilungen erlebt, also den*die für größtmögliche Freigabe plädierenden Filmvertreter*in oder den*die für eine für den höchsten Schutz plädierende*n Jugendschützer*in. Es ist eher die Inszenierung einer gesellschaftlichen Diskussionslage, die in Zeiten von Streaming und anderen internetbasierten Zugangsmöglichkeiten völlig andere sind als in den Zeiten, in denen Kino und lineares Fernsehen auf wenigen, öffentlich kontrollierten Kanälen die Hauptzugangswege zu Filmen waren. Ganz zu schweigen davon, dass sich mit dem Fall der Mauer auch die festgefügten Strukturen der alten Bundesrepublik aufgelöst haben, in deren Rahmen die FSK einmal entstanden ist.
Ich habe meine Rolle nicht als Garant einer bestimmten Moral verstanden. Als Vertreter der „öffentlichen Hand“ und insbesondere als Vertreter einer Religionsgemeinschaft habe ich mich eher als Repräsentant einer Öffentlichkeit in den doch sehr kleinen und nicht repräsentativ besetzten Ausschüssen verstanden. Jemand guckt gewissermaßen „von außen“ zu und ist doch gleichzeitig Teil des Prozesses; ganz sichtbar im Abstimmungsverfahren. Als Pfarrer repräsentiere ich eine andere Wirklichkeit, die sich günstigstenfalls eben nicht (mehr) auf eine bestimmte erwartbare Position festlegen lässt – um es pointiert zu sagen: kein Vertreter einer Sittlichkeit, der für eine konservative Sexualmoral und bürgerlich-preußische Werte steht.
Theologisch lässt es sich vielleicht mit Psalm 23 beschreiben. „…denn du bist bei mir“ (Psalm 23,4) ist der Mittelpunkt des Psalms und beschreibt eine deutlich wahrnehmbare Präsenz der KRAFT, die von sich sagt: „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2. Mose 3,14), eine Anwaltschaft für das LEBEN SELBST, gleichzeitig jenseits aktueller moralischer Vorstellungen und gleichzeitig mitten im Diesseits. Psalm 23 handelt schließlich von reichlich Essen, Trinken, hochwertiger Körperpflege und sicheren Orten.
Man könnte so die FSK-Kennzeichnungen als „Stecken und Stab“ deuten, als fragile und immer vorläufig errungene Orientierung; nicht als in Stein gemeißelte, objektive Gesetze. Es ist – theologisch gesagt – Weisung, ein Ringen darum, was recht ist und dem Zusammenleben dient. Die FSK betont vielleicht auch deshalb immer wieder, dass es keine pädagogischen Empfehlungen sind und jede*r erwachsene Verantwortungsträger*in den subjektiven Wirklichkeitskontext beachten sollte, in dem der Film gezeigt wird. Wo das gelingt, können Filme ihre Macht auf gute (und barmherzige) Weise entfalten.