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Welches ist dein Top-Jesusfilm?

Es gibt unzählige Jesusfilme: in Schwarz-Weiß, in Farbe; mit einem nordeuropäisch-amerikanisch idealisierten blonden, blauäugigen genauso wie mit einem der historischen Person mit größerer Wahrscheinlichkeit näherkommenden Jesus. Filme, die der Dramaturgie der Evangelien weitgehend treu bleiben genauso wie solche, die der gegenwartsbezogenen interpretatorischen, künstlerischen Freiheit Raum lassen. Es gibt auch Jesusfilme, die auf den ersten und sogar zweiten Blick gar nicht als solche erkennbar sind. Dabei gibt es Flops genauso wie Tops. Das allerdings liegt in der Regel im Auge des*der Betrachters*Betrachterin.

Wir haben im Kollegium des RPI nachgefragt: Welches ist dein Top-Jesusfilm? Drei Kolleg*innen stellen ihren persönlichen Top-Jesusfilm vor.

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Andreas Behr: DAS NEUE EVANGELIUM

Gegensätzlicher könnten die beiden Jesus Filme nicht sein. Da ist DAS 1. EVANGELIUM – MATTHÄUS von Pier Paolo Pasolini 1964 in Schwarz-Weiß gedreht. Der Regisseur nahm das Matthäusevangelium als Drehbuch und erzählte die Geschichte Jesu in ruhigen Bildern nach. Und da ist DIE PASSION CHRISTI, 2004 von Mel Gibson mit viel Filmblut und Splattereffekten in Szene gesetzt. 

Die beiden Filme verbindet, dass sie in und bei Matera in Süditalien gedreht wurden. Beide Regisseure setzten Menschen aus dem Ort als Schauspieler*innen ein; manche von ihnen spielten in beiden Filmen mit, nicht unbedingt in derselben Rolle. 

Matera war 2019 Kulturhauptstadt Europas. Der Regisseur Milo Rau wurde angefragt, dort etwas zu inszenieren. Er beschloss, einen neuen Jesus-Film zu entwickeln, mit Darsteller*innen aus dem Ort, mit Reminiszenzen an die anderen Filme und mit einer aktuellen, sozialkritischen Ausrichtung. 
Dann lernt Milo Rau seinen Hauptdarsteller Yvan Sagnet kennen. Der ist 2008 aus Kamerun zum Studium nach Italien gekommen. Seit 2011 ist er gewerkschaftlich aktiv. Er setzt sich vor allem für die Geflüchteten ein, die in Lagern rund um Matera leben und für die Landwirtschaft unentbehrlich sind, nicht zuletzt, weil sie billige Arbeitskräfte mit wenigen Rechten sind. 

DAS NEUE EVANGELIUM wird zu einem besonderen Film, der verschiedene Genres mischt. Er ist Spielfilm, gerade da, wo es die christliche Überlieferung braucht, die sich nicht immer eins zu eins in die Gegenwart übertragen lässt, z.B. wenn die Kreuzigung erzählt wird. Außerdem ist der Film Making Of seiner selbst, wenn man z.B. erlebt, wie Enrique Irazoqui, der im Film Pasolinis den Jesus von Nazareth gespielt hat, dem neuen Hauptdarsteller Tipps gibt. 

Zuletzt ist der Film Dokumentation über die Situation der Geflüchteten in den Lagern rund um Matera. 

Die Genres mischen sich, so dass ich als Betrachter oft gar nicht genau weiß, was ich gerade sehe. Ist es Jesus, der da eine flammende Rede über Gerechtigkeit den Armen gegenüber hält oder ist es Yvan Sagnet in seiner Rolle als Gewerkschaftssprecher? Werden die Jünger Jesu gerade beschimpft oder sind es deren Darsteller, die in einer Drehpause noch ihre Kostüme tragen? Lernt der Darsteller gerade noch seine Rolle oder spielt er schon? Zerstören die Schauspieler einen Gemüseladen, um auf ihre schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, oder sieht man gerade die Tempelreinigung? Anspielungen auf die Jesus-Filme von Pasolini und Gibson bringen weitere Ebenen ins Spiel. 

In dieser Mischung, dem Hin und Her, bilden sich Evangelium und Realität im 21. Jahrhundert aufeinander ab und interpretieren sich gegenseitig. 
Manchmal muss ich lachen, wenn etwa der Bürgermeister Materas davon erzählt, dass er nicht den Pilatus spielen mag, sondern lieber den Simon von Cyrene, der Jesus das Kreuz trägt. Dann wieder führt der Film an die Grenzen des Erträglichen: Ein junger Mann bewirbt sich für die Rolle als Soldat, gerade weil er es als Katholik interessant findet, in die Rolle dessen zu schlüpfen, der Gottes Sohn foltert. Endlose Minuten schaue ich dann dabei zu, wie der Schauspieler in einer Kirche einen Stuhl foltert und rassistisch beschimpft. Auch hier ist nicht klar, ob dies nur die Probe oder schon die fertige Filmsequenz ist. Ebenso wenig weiß ich, ob der junge Mann hier eine gute schauspielerische Leistung hinlegt oder doch sich selbst spielt. Brutal. 

Milo Rau hat eine zeitgemäße Art gefunden, das Evangelium von Jesus Christus zu verfilmen. Vielleicht ist es momentan die einzig legitime.