pelikan

Kleine Helden, großes Kino: Kindheit und Jugend im Film

Von Simone Liedtke

 

 

Eine cineastische und theologische Spurensuche

Minutenlang schweift die Kamera über das kindliche Publikum eines Kasperletheaters. Ungestümes Lachen, verzweifeltes Rufen, stilles Staunen. Die Kleinen gehen völlig darin auf, Rotkäppchen und den bösen Wolf durch die Aufführung wirbeln zu sehen. Ein Szenenbild aus dem Film SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN von Francois Truffaut. Dem Regisseur gelingt ein filmischer Blick in das Angesicht des Menschen – ohne Ablenkung, ohne Scham, ohne Moral. Ohne Kommentar würde ich nicht sagen, da jede Inszenierung ein Kommentar ist. Von jedem dieser Kindergesichter scheint ablesbar zu sein, wozu der Mensch imstande und verführbar ist: Ecce homo.

 

Wissen sie denn nicht, was sie tun?

Das Kind1 im Film ist oft Allegorie für menschliche Charakterzüge, es steht für Fragen des Menschen an seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder für gesellschaftliche Zustände. Kinderrollen sind mitunter geradezu archetypisch: der Unschuldige, die Suchende, der kindliche Entdecker, die junge Rebellin. Daher sind Filme, in denen Kinder und Jugendliche (tragende) Rollen spielen, nicht eo ipso Kinderfilme. Vielmehr ist die Rolle des Heranwachsenden (im Film) eine ästhetisch und thematisch eigenständige Deutung von Lebenswirklichkeit. Als solche ist sie religiöser Weltbefragung und -beschreibung affin.

Am Film-Kind wird – vor allem, je jünger es ist – die existenzielle Erfahrung anschaulich, die Martin Heidegger als Geworfen-Sein bezeichnet: sich ungefragt mitten in der Welt vorzufinden. Und damit fertig werden zu müssen. Daher verwundert es kaum, dass Kinderrollen häufig Zugang zu Themen eröffnen, die man auch als lebenserfahrener Mensch nur schwer verstehen kann: Armut, Krankheit, Krieg, Sterben, Tod… Konfrontiert mit solchen Widerfahrnissen oder Problemstellungen, stolpert noch der Erwachsene wie ein Kind durch eine Welt, die ihm zu groß zu sein scheint, sucht nach Erklärungen, muss sich in Situationen einfinden, für die er weder Worte noch ein Handlungskonzept hat. In der filmanalytischen Diskussion gehen indes die Interpretationen auseinander: Manche meinen, Kinderrollen würden einen „moralfreien“ Blick auf benannte Themen erlauben, da die Kinder selbst nicht verantwortlich seien für die Szenerie, in der sie sich bewegten. So ließen sich schwer zugängliche Motive mit einer gewissen Unbekümmertheit präsentieren. Auf der anderen Seite, denke ich, lässt sich die Odyssee der Unbedarften in einer unwirtlichen Welt als zermürbend tragisch empfinden und der bloße Anblick der überforderten, schutzlosen jungen Menschen als moralischer Appell verstehen.


Schlüsselszenen

Filme wie MOONLIGHT (Barry Jenkins), DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD (Jean-Pierre und Luc Dardenne) oder BOYHOOD (Richard Linklater) verdeutlichen, dass es Verklärung ist, wenn frühe Lebensalter von Er-wachsenen zu Phasen stilisiert werden, in denen man sich ahnungs- und absichtslos durch die Welt bewege. Kindheit und Jugend sind ernst zu nehmen als Lebensphasen mit diversen Anforderungen. Bereits und besonders der junge Mensch ist hin- und hergerissen zwischen Selbstentwurf und Fremdbestimmung.

Die psychologische Erkenntnis der Prägung des erwachsenen Menschen durch Schlüsselereignisse in dessen „Kindheit hat auch das cineastische Erzählen beeinflusst. Inszenierung von Kindheitserinnerungen wie in Schlechte Erziehung” (Pedro Almodóvar) wurde eigenständiges Stilmittel. Der als Rückblende erzählte Part einer Story entzieht sich als subjektive Selbstmitteilung und unvollständige Momentaufnahme der Überprüfung auf moralische Angemessenheit oder wahrheitsgemäße Wiedergabe. Nicht selten wird ein Tabu geschildert, das man anders nicht hätte einbringen können, ohne es narrativ und diskursiv zu vertiefen. Solche Filmmomente sind sehr berührend: zum einen, weil ein sperriges Thema eingeführt wird; zum anderen, weil der*die erwachsene Darsteller*in wieder wie ein Kind anmutet – preisgegeben, hilfsbedürftig, jemand, der es (noch) nicht besser weiß.


Prädikat: Besonders wertvoll

Medien spielen einerseits eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Verständnisse und Vorstellungen von Kindheit und Jugend abzubilden. Andererseits entwerfen sie Szenarien, die in Prozesse jugendlicher Identitätsfindung einfließen, ebenso in Erziehung und Bildung. Jugendkultur ist schon immer nicht nur Ab-bild, sondern auch Treibstoff sozio-kultureller Evolution gewesen. Zahlreiche Coming-of-age-Filme gelten geradezu als ikonisch, haben Lifestyles und Looks begründet. An solchen „Modeerscheinungen“ wird deut-lich, dass „Kindheit“ und „Jugend“ historisch und kulturell geprägte und insofern wandelbare, bedeutungs-offene Begriffe sind. Insbesondere bilden sich an ihnen Wertvorstellungen ab, zu denen man erzogen wird oder erzieht: Werte, gegen die man sich als Heranwachsende*r auflehnt, die man zitiert, neu erfindet, leugnet.


Kindlich oder kindisch?

Anhand einschlägiger Exempel aus der Filmgeschichte lässt sich nachvollziehen, wie sich das Verständnis von Kindheit und Jugend auch auf der Kinoleinwand wandelt. Schon in den Anfangstagen des Films insze-nierten die Brüder Lumière Kindheitsszenen. Seitdem bildet Kino den Blick der Gesellschaft auf Kinder und Jugendliche ebenso ab, wie es ihn lenkt. Erfahrungen, Deutungen, Beurteilungen und Ideale von Kindertagen erreichen ihr Publikum durch die erzählten Geschichten und ebenso durch deren künstlerische Gestaltung.

Denn wie man ein Thema interpretiert, wird unter anderem an der Wahl des Genres deutlich, das man zur Darstellung wählt. Mitunter ergibt sich auch aus wiederholter, vergleichbarer Darstellung von Situationen, Konstellationen oder Charakteren eine Gattung. Beispiel für ein solches Genre, dem eine bestimmte Interpretation von Kindheit zugrunde liegt, ist der Slapstick.2 Diese Komödiengattung behauptet sich seit der Stummfilmzeit als eigenständiges Filmgenre. Die körperbetonte Komik der Situationen beruht auf Imitation des Kindlichen durch erwachsene Akteure, die unerwartet hemmungslos ihren Bedürfnissen folgen und sich gegen alle gesellschaftlichen Konventionen benehmen. Das spiegelt ein spezifisches Verständnis von Kindheit als Entwicklungsstufe, in welcher der Mensch seiner Triebe noch nicht Herr geworden ist. Im Slapstick wird das Kindliche zum lächerlichen Kindischen, indem es durch einen Erwachsenen überspitzt dargestellt wird. Verzerrte Verhältnismäßigkeit ist ein Stilmittel komischer Inszenierung, sie wirkt belustigend – auch dann, wenn Kinder wie Erwachsene agieren. Insgesamt jedoch gibt es kaum Beispiele für kindliche Protagonisten in Slapsticks. Charles Chaplins Stummfilm DER VAGABUND UND DAS KIND von 1921 bildet eine Ausnahme, er war bahnbrechend in Bezug auf Leinwandpräsenz von Kindern: Der „Vagabund“, Chaplins berühmtes filmisches Alter Ego, findet ein ausgesetztes Baby und zieht es wie seinen eigenen Sohn groß. Chaplins erster abendfüllender Kinoerfolg gilt zugleich als der erste Film, in dem das Gefühlsleben eines Kindes so differenziert und bedeutsam erscheint wie das eines Erwachsenen.


Die Leinwand ist (k)ein Spielplatz

Nach diesem visionären Auftakt kümmert das Kind im Kino lange vor sich hin, bis es sich emanzipieren, das heißt: Kind sein darf. Kinder in Filmen dienen zunächst und zumeist als Statisten dem Arrangement des Erwachsenenalltags. Oder sie treten als Imitatoren erwachsener Klischeetypen auf. Das wirkt karikierend, altklug oder auch tragisch. Die meist holzschnittartige Überzeichnung von Charakteren und Handlungen im kindlichen Schauspiel ermöglicht den betrachtenden Erwachsenen, eine Beobachterdistanz einzunehmen, in welcher sie aufgefordert sind, sich zu reflektieren. Im kindlichen Akteur vermischen sich gezielte Darstellung und infantiles Spiel. Imitation und Kommentation des Dargestellten fallen zusammen, wobei die Kommentation vorthematisch und unabsichtlich bleibt. Daher wirkt sie so authentisch wie entlarvend und kann als ethischer Appell gelten, gerade weil sie nicht Formulierung eines expliziten Imperatives ist, sondern (nach)erzählte Geschichte. Angelehnt an Paul Ricœur und Emmanuel Lévinas mag man sagen: Solche Darstellung ist direkte Konfrontation mit dem Menschlichen, das Menschlichkeit einfordert.


Phantombild: Das Kind im Kino

Dies gilt vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Kino weniger unterhaltsame als vereinsamte Kinder zeigt: Während zu Anfang des 20. Jahrhunderts Kinderstars wie Shirley Temple ihr (zumeist adultes) Publi-kum mit Parodien des Erwachsenenalltags amüsierten, agieren die Jungdarsteller nach 1945 eher als Indikatoren einer ratlosen Gesellschaft, die nicht weiß, wie sie mit der Generation von Trümmerkindern umgehen soll. Fortan bleibt Trauerkultur ein Motiv vieler Filme, in denen Kinder Rollen spielen. Thematisch wird zumeist die – unversöhnte – Erfahrung, dass Kinder und Eltern in Bezug auf Trauerarbeit unvereinbare Bedürfnisse haben oder zumindest verschieden mit Trauer umgehen. Obwohl dem Kind nicht viel zugetraut wird, ist es meist auf sich gestellt. Lauter verlorene Söhne und Töchter sind auf der Leinwand zu sehen.

Wie Kinder und Erwachsene jeweils die Welt wahrnehmen, deuten und gestalten, steht sich auch bezüglich anderer Lebensthemen (wohl nicht nur) auf der Leinwand häufig diametral gegenüber. Das (Film-)Kind-Verhalten ist für die (Film-)Erwachsenen oft nicht nachvollziehbar, bestenfalls überraschend. Zumeist bleibt das Kind im Kino der ersten Nachkriegsjahrzehnte für seine Film-Umwelt das unbekannte Wesen und für das Publikum ein Gleichnis für Verlorenheit. Die Filmkinder sind auf der Suche nach Gefährten und finden sie weniger in Mitmenschen als in Spielzeugen, Tieren oder in Geistern von Verstorbenen.3

Die Hilflosigkeit des sich suchenden Ich trifft im Leben wie im Film auf Hilflosigkeit der Begleitenden. Sie haben diese Lebensphase bereits durchlaufen und scheinen ihr doch wie zum ersten Mal zu begegnen. Die Konfrontation mit dem eigenen Selbst ist so wuchtig wie die Konfrontation der Generationen. Auf der Leinwand laden sich Konflikte häufig derart auf, dass sie eskalieren. „Happy End“ bedeutet in solchen Filmen meistens: Wenigstens hat das Kind aus seinen Fehlern gelernt.


„Kleiner Mann – ganz groß“

Abgesehen von wenigen Ausnahmen bilden erst im zeitgenössischen Kino die von den Erwachsenen übersehenen Kinder öfter Allianzen: einen Club oder eine Gang von Sportler*innen, Detektiv*innen, Tänzer*innen, Fashion-Victims oder Nerds. Sie werden in den letzten Jahren selbstbewusster, unabhängiger und erfolgreicher. Die Film-Erwachsenen lernen von den „lieben Kleinen“, die zum Vorbild für „die Großen“ werden – mitunter mit (ethisch) mahnender Funktion. Dann wirken sie allerdings kaum wie Kinder, sondern wie eine bessere Ausgabe der am Leben scheiternden Erwachsenen. Stärke dürfen Kinder im Film besonders dann zeigen, wenn sie eine Lebenskrise besser meistern, als ein Erwachsener es ihnen hätte vorma-chen können. Das Kind wird motivisch auf die Reise des*der Held*in geschickt, Kleinste werden zu Größten. Wie Verteidiger*innen des eigentlich Menschlichen stehen sie dafür, unverdorben und unverbildet zu sein; man ist versucht, an das von Rousseau beschriebene Motiv des *der edlen Wilden zu denken.


Mit Kindesaugen sehen

In wenigen filmischen Ausnahmen wird Jugendlichen und Kindern auf Augenhöhe begegnet. Zu den raren Kostbarkeiten gehört FRIDAS SOMMER (Carla Simón)4, das thematische und ästhetische Porträt eines verwaisten Mädchens. Die Regisseurin kommentiert die erzählte Geschichte vornehmlich durch zwei Stilmittel, Bildausschnitt und Lichtgebung. Konzentrierte Close-Ups erzählen aus der Sicht eines Kindes. Stimmen aus dem Off erklären eine Welt, in der Frida verobjektiviert erscheint, wenn die Erwachsenen über „das Kind“ reden.
Dieser Film konterkariert sein vorrangiges Genremerkmal: etwas vor Augen zu stellen. Indem er vieles nicht sehen lässt, macht er auf die Unschärfe aufmerksam, die das Verhältnis des erwachsenen Menschen zum Kind, das Verhältnis des Kindes zum Erwachsenen sowie das Verhältnis des Kindes zu sich selbst charakterisiert: beständiges Ausloten der Grenze zwischen Abhängigkeit und Freiheit, Schutzbedürfnis und Selbständigkeit.
Über die Lichtmetaphorik starker Hell-Dunkel-Kontraste wird die Dimension der Religion in den Plot eingeführt. Oft sitzt Frida allein im Finstern. Die Konturen ihrer Welt und der Welt, in der sie sich nicht zurechtfindet, fließen ineinander. Ein Moment der Transzendenz. Das Diffuse gibt Raum fürs Gebet. Die Großmutter lehrt Frida das Vaterunser, ein Einüben von Worten, die nicht die eigenen sind und sich doch aneignen lassen wollen. Tradierung und Übergabe von Erbstücken sind vielgenutzte Motive auf der Kinoleinwand, die eine bestimmte Funktion von Kinderrollen im Film vorführen: Die Erziehung des Kindes ist Aufhänger für manche Lebensbeichte Erwachsener. Ungläubige, unbequeme Fragen des Kindes bieten die Vorlage für Erklärung und Verteidigung von Lebensstrategien – argumentativ oder als intuitive Erkenntnis dessen, worauf es im Leben ankomme.


Küsse und Schläge

Ein epochemachender cineastischer Einschnitt ist François Truffauts Langfilmdebüt SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN von 1959. Der halbwüchsige Protagonist Antoine findet im Leben keinen Platz – selbst zuhause schläft er im Flur. Er ist Störfaktor für beinahe jeden in seiner Umwelt und versucht, sich diesem trostlosen System zu entziehen, indem er schnell erwachsen wird und sich selbst durchschlägt. Als Antoine sich einmal auf einem Rummelplatz in einem Rotor vergnügt, schwebt er mit ausgebreiteten Armen wie Christus am Kreuz zwischen Himmel und Erde. Gotteskind und Menschensohn zugleich, für Vieles zum Sündenbock gemacht. Doch endlich einmal ohne (Boden-)Haftung entspannen sich Antoines Gesichtszüge und lassen einen lachenden Gekreuzigten sehen.
In der gezeigten Intensität sind die Nöte eines Jugendlichen nie zuvor Filmstoff gewesen. Truffaut erzählt hier auch von seiner eigenen Kindheit, an der er sich (filmisch) sein Leben lang abgearbeitet hat. Kindlichen Darstellenden traute er übrigens zu, als „Mitarbeitende“ ihre Filmrollen aktiv zu gestalten.


Halbstark

Wie werden wir, was wir sind? Religion und Film stellen diese Frage auf je eigene Weise und finden darüber in den Dialog. Im Kino wird anhand jugendlicher Charaktere zunehmend vielfältig das Thema Identitätsfindung durchgespielt: individuell, sozial, politisch, beruflich, sexuell. Das entsprechende Genre sind Coming-of-age-Filme. Halbstarke (ein Ausdruck, der viel über die Einschätzung Adoleszenter aussagt) bevölkern spätestens seit Mitte der 1950er-Jahre die Leinwand. Dann kommt DIE REIFEPRÜFUNG (Mike Nichols, 1967). Ab den 1980ern startet das lukrative Genre durch, von LA BOUM (Claude Pinoteau) bis THE BREAKFAST CLUB (John Hughes), und wird zunehmend in niveaulosen Produktionen ausgeschlach-tet, die Heranwachsende ausschließlich durch blamables Fehlverhalten charakterisieren. Es dauert, bis Filme entstehen, die das Bemühen um Selbstbehauptung und Rollenfindung ernst nehmen (wie Truffaut es vorgemacht hatte). Weil der Mensch sich darin nicht vertreten lassen kann und auf sich zurückgeworfen ist, ist die Zeit der Selbstfindung eine der einsamsten inmitten einer Gemeinschaft. Die Diskrepanz von Lebensentwurf und Handlungsspielraum; die Erfahrung des Unverfügbaren und Übernahme erster Eigenverantwortlichkeit; das Erleben, sich selbst nur in Relation zum Anderen zu empfangen; das Ich in Selbstent-sprechung und Widerspruch: All das sind auch Sujets religiöser Erfahrung und reflektierter Religion. Das Thema der Identitätsbildung als Verhältnisbestimmung von Abgrenzung und Hingabe – seelisch wie leiblich – trifft theologisch auf die Frage nach Selbstakzeptanz als Konsequenz der unverdienten Gnade.


Die Vertreibung aus dem Paradies

Filme wie ALASKA.DE (Esther Gronenborn) inszenieren den „Sündenfall“ junger Menschen, die zum ersten Mal Verantwortlichkeit erfahren. Heranwachsende erscheinen als Sinnbild des Menschen am moralischen Scheideweg. Was ist noch Kinderspiel oder Jugendsünde, was dagegen Bewusstsein von Handlungs-macht? Dem Publikum wird die Komplexität der Unterscheidung zwischen Unschuld und Schuld vorgeführt, nicht nur in Bezug auf kindliches Verhalten. Jede Zuweisung von Schuld beruht rechtlich auf der Vermutung, der Mensch, dessen Handeln in Frage steht, hätte hinreichende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, geistige und soziale Reife, um Verantwortung zu übernehmen. Wie aber geht man theologisch mit dieser Vermutung um? Filme wie DAS WEIßE BAND (Michael Haneke) stellen geradezu verstörend die mit einem biblischen Wort zu formulierende Frage: Ist das „Trachten des menschlichen Herzens böse von Jugend auf“ (Gen 8,21)? Oder ist alles eine Frage der Erziehung? Handelt es sich um anthropologische Grundverfasstheit oder um Imitation vorgelebten Lebens, wenn der Mensch Böses schafft? Das Kino hat nicht die Aufgabe, solche Fragen zu beantworten, aber es stellt sie durchaus.


Bigger than life

Die Filmwissenschaftlerin Bettina Henzler hat eindrücklich erörtert, inwiefern Kinderfiguren im Kino als Mittler*innen oder Grenzgänger*innen fungieren.5 Sie überbrücken unvoreingenommen kulturelle Differenzen, Vorurteile und Gewohnheiten. Damit stehen sie in vielerlei Hinsicht für eine individuelle wie auch für eine gesellschaftliche Realität, die in den Kinderschuhen steckt. Henzler nennt Kinder auf der Leinwand „utopisch“, ohne angestammten Platz; Alice im Wunderland oder die Kinder um den Außerirdischen E.T. nähmen ihr Publikum in fantastische Welten mit, in denen sie sich selbstverständlicher bewegten als in der realen Welt. Ich schließe mich der Beobachtung an, dass Kinder und Jugendliche (im Film) das, was Erwachsene als Realität anzuerkennen fordern, oft in Entwürfen von Imaginationen kommentieren, in denen das Leben, das Erwachsene als „echt“ ansehen, kontrastiert, überspitzt oder in einer unerschöpflichen – göttlichen – Bandbreite von Gelegenheiten gefeiert wird. Die Überwindung und Versöhnung von Widersprüchen in einer Unendlichkeit an Möglichkeiten; die Präsenz einer Wirklichkeit, die in der alltäglichen Le-benswelt Platz nimmt, ohne in ihr aufzugehen; eine Flucht in eine solche alternative Wirklichkeit als Ausdruck einer Erlösungssehnsucht (und Erlösungsrealität) – Motive dieser Art dürfen auch als Anfrage an religiöse Weltdeutung bedacht werden.

Kontingenzbewältigung als Selbstbehauptung in der Deutung und Gestaltung eines Weltverhältnisses betrifft den Menschen in jedem Augenblick seines Daseins. Kinder und Jugendliche beschäftigt diese Identitätsbildung mit Nachdruck. Vielleicht kann auch deshalb gesagt werden: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht zum Himmelreich kommen – in dem Sinne, dass das Kind einen unmittelbaren Zugang zu religiösem Erleben hat, den Erwachsene mit einer notwendig zu nennenden Disposition von Welt überschreiben. Das Kind ist (auch, noch) seinem Erleben hingegeben (manche meinen: ausgeliefert) – wie man an der Kasperle-Szene von Truffaut sehen kann.

Es eröffnet sich ein filmanalytischer Nebenaspekt, der ebenso über religiöse Kommunikation nachdenken lässt. Spielt Kino als audiovisuelles Kunstkonzept seine Möglichkeit aus, Stereotype von Weltdarstellung zu überschreiten, wird es zu einem Widerfahrnis, das seine Zuschauenden zu Fragen herausfordert, die eine religiöse Dimension eröffnen können: Weil es um die Konstruktion und Dekonstruktion von Weltdeutung geht, um die Erfahrung von Heteronomie (jemand lenkt meinen Blick, lenkt die Story) und Autonomie (der Deutung des Gesehenen). Kino involviert und braucht seine Zuschauenden, um Geschichten zu erzählen; und doch bleiben die Leinwandereignisse den Zuschauenden letztlich unverfügbar.

Mit kindlicher Fantasie hat das Kino gemeinsam, bigger than life zu sein. In gewissem Sinne entwickelt es übernatürliche Kräfte, weil es als Kunstform die Grenzen von Raum und Zeit überwindet. Dieses Entwerfen von Visionen tangiert eine religiöse Dimension, sofern es den Menschen im Nachvollzug eines Transzendierens seiner Grenzen sich selbst in einem Weltzusammenhang betrachten lässt.

 

Anmerkungen

  1. Im Folgenden ist vom „Kind“, vom „Jugendlichen“ oder von „Kindern und Jugendlichen“ die Rede. Gemäß gängigen entwicklungspsychologischen Definitionen verstehe ich unter „Kindheit“ den Zeitraum nach dem Kleinkindalter bis zur Pubertät, also etwa 4. bis 14. Lebensjahr; unter „Jugendalter“ verstehe ich Heranwachsende ab 14 Jahren bis Anfang 20. Mit Rücksicht auf die Lesbarkeit des Textes ist lediglich vom „Kind im Film/Kino“ die Rede, wenn filmische Inszenierung Heranwachsender im Allgemeinen gemeint ist.
  2.      Vgl. Henzler, Die Fee, 100-116.
  3.      Vgl. Midding, Kinder im Film, 26-31.
  4.      Eine ausführliche Filmbesprechung mit filmpädagogischem Material findet sich unter https://www.kunstinfo.net/damfiles/default/kunstinfo/film/kirche_und_kino/staffel_2019_2020/filmmaterial/8a---Fridas-Sommer.pdf-79b6dcd2e06b30688e3ef85536016299.pdf.
  5.      Vgl. Henzler, Bettina, https://www.kinofenster.de/filme/archiv-film-des-monats/kf1803/kf1803-the-florida-project-hg2-kino-der-kindheit/ (Zugriff: 08.03.2021, 16 Uhr).

 

Literatur

  • Henzler, Bettina: Die Fee, der Nachtportier und das Baby. Das Slapstick-Märchen LA FÉE als Kommentar zu Körperkomik und Gender, in: Rabbit Eye –Zeitschrift für Filmforschung, Nr. 10 (2016), 100-116
  • Midding, Gerhard: Kinder im Film. Magic Kingdom, epd-film 3/2018, 26-31