Das „Böse“ in der populären Kultur – darüber ist hier nachzudenken. Doch zunächst: Was ist „populäre Kultur“? Die populäre Kultur ist ein Diskurs über das Böse und das Gute, über Vernichtung und Verheißung, über das, was individuelles Leben, was Liebe, was Solidarität zerstört und ermöglicht. Was ist das „Populäre“ an der „populären Kultur“? Offenbar gibt es ein Charakteristikum, das die unterschiedlichen Genres der populären Kultur miteinander gemeinsam haben: Sie müssen „funktionieren“.
Werke der „hohen“ Kultur kann man wenig begeistert – oder aber verstört und ärgerlich – hinnehmen und dennoch durch nachträgliche Interpretation als gelungenes Kunstereignis ansehen. Bei den Werken und Manifestationen der populären Kultur ist das nicht möglich.
Populäre Kultur funktioniert nur „hier und jetzt“. Dabei nehmen populärkulturelle Inszenierungen immer wieder Symbole, Erzählungen, Rituale und Begehungen traditioneller Religion(en) auf und verarbeiten diese zugleich. Das ist eine Dimension, die, denke ich, zu ihrem „Funktionieren“ beiträgt. Populäre Kultur kann gerade existenzielle Probleme und Situationen nur erzählen, wenn sie mit religiösen Symbolen spielt. Und zugleich thematisieren Inszenierungen der populären Kultur aktuelle gesellschaftliche, aber auch individuelle Krisen, Konflikte und Probleme.
Beide Dimensionen sind für das Funktionieren der populären Kultur notwendig. Dies gilt auch dafür, wie das Böse zur Darstellung gebracht wird. Ich gehe so vor, dass ich Schwerpunkte setze:
• das Böse im Kriminalroman und die Religion,
• das Böse im Blockbuster-Film und die gesellschaftlichen Katastrophen,
• das Böse in Serien und die Auflösung gesellschaftlicher Ordnung.
Das Böse im Kriminalroman und die Religion
Es ist in Kriminalromanen selten von vornherein klar, wer die Bösen und wer die Guten sind. Es werden Beziehungsdramen entwickelt, Milieus recherchiert, gesellschaftskritische Konzepte eingearbeitet, um mit der Grenze zwischen Gut und Böse zu spielen. Es liegt nicht auf der Hand, wer Opfer und wer Täter, wer gut und wer böse ist. All dies ist oft bis zur vorletzten Seite undeutlich und unsicher.
Kriminalromane treiben das Spiel oft weiter. Aus der dualen Opposition von Gut und Böse wird Ambivalenz. Auch der ermittelnde Held hat seine Leichen im Keller, auch die Kindsmörderin hat liebenswerte Züge und lebensgeschichtlich nachvollziehbare Gründe für ihre Tat.
Hier werden religiöse Muster verarbeitet, genauer: Die Weise wird rezipiert, in der insbesondere in der jüdisch-christlichen Religionstradition diese Dinge gesehen werden. Die Bibel ist nicht trivial, genauso wenig wie der Kriminalroman.
Zunächst zur inhaltlichen Seite des Problems. Wer mordet, tut dies für Geld, für Macht, für Einfluss, aus (enttäuschter) Liebe oder aus Leidenschaft. Das ist die Macht-Sphäre des Bösen. Und genau in dieser Bestimmung verarbeiten die Kriminalromane religiöse Tradition(en).
Ich gebe ein Beispiel aus der großen ersten Zeit des Kriminalromans. Raymond Chandlers Klassiker DER GROßE SCHLAF (1939) ist vor allem durch die Verfilmung mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall bekannt geworden (TOTE SCHLAFEN FEST, 1946). Es beginnt mit einem Auftrag: Der alte General Sternwood wird erpresst. Philip Marlowe soll diese Geschichte aufklären. Die ekstatische Zeit der Ermittlungen ist eröffnet. Sie führen schnell über den eigentlichen Auftrag hinaus, in immer weiteren Kreisen. Da ist der verschwundene Ehemann der älteren Sternwood-Tochter Vivian, der dem mittlerweile blutleeren General so am Herzen lag. Dann die Begegnung Marlowes mit der vollständig durchgedrehten, drogen- und tablettenabhängigen zweiten Tochter Carmen, mit deren Nacktfotos der General erpresst wird. Ein Pornografie-Ring kommt in den Blick. Aber all diese Dinge sind nur gewissermaßen die äußeren Schalen der Macht des Bösen, die Marlowe nach und nach aufblättert. In ihrem Mittelpunkt steht Eddie Mars, Besitzer einer Spielhölle und Geliebter der weniger durchgeknallten Sternwood-Tochter. Eddie Mars ist Mittelpunkt und Anstifter der Macht-Sphäre des Bösen. Sie ist genau dadurch charakterisiert, dass Geld, Macht, Einfluss und Ansehen, vermischt mit einem Schuss sexueller Attraktion, die ausschließlichen Triebfedern für alle Handlungen der beteiligten Personen darstellen. Die Vertreter*innen des Gesetzes sind als Charaktermasken selbst in den Machtbereich des Bösen verwickelt und bieten weder Schutz noch Alternative.
Die Gestalten, die eine Alternative anbieten, sind schwach und peripher. Kleine Ganoven mit seltsamen Kosenamen wie Silberperückchen. Oder der kleine Harry, der von Schergen des Bösen hingemordet wird. Diese Gestalten des Guten zeichnen sich dadurch aus, dass sie Liebe zeigen können, wenn auch nur für einen Moment; dass sie Solidarität und Schutz anbieten, wie hilflos auch immer. Im Zentrum dieser Macht des Guten, nicht identisch mit dem offiziellen Gesetz, steht Philip Marlowe selbst: Von ihm hat der Autor Chandler einmal bemerkt, er müsse aufpassen, dass ihm Marlowe nicht wie eine Christus-Figur gerate.
Diese dualistische Opposition – Macht, Geld und Ehre gegen Liebe, Solidarität, Empathie und Bereitschaft zur Selbstpreisgabe – findet sich in der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte immer wieder, in alttestamentlichen prophetischen Texten oder auch im Neuen Testament bei Jesus oder Paulus.
Die ganze Welt der Beziehungen und der Dinge, vor allem die faszinierenden und gefährdenden Lebensbereiche von Macht, Geld, Einfluss bzw. Ehre und sexueller Leidenschaft, werden „böse“, dann und insoweit, wie die Menschen, die sich ihnen gegenüber verpflichten, die entscheidende Distanz nicht wahren. Und dass diese Distanz und Selbstdistanz fehlen, zeigt sich an der positiven Antwort auf die Frage: Bist du fähig, für Geld, für Macht, für Einfluss, für sexuelle Leidenschaft zu morden? Darum geht es im Kriminalroman.
Soweit zur inhaltlichen Seite des Dualismus. Sie wird in Raymond Chandlers DER GROßE SCHLAF in exemplarischer Deutlichkeit vorgeführt, kommt aber in nahezu allen Kriminalromanen vor. Diejenigen, die morden, sind schon vorher, und sie sind in dieser Tat, erst recht in ihrer zentralen Lebensorientierung, dem Machtbereich des Geldes, der Macht, der Sucht nach sozialem Ansehen und der grenzenlosen Attraktivität sexueller Begierde verfallen. In diesem die Handlung strukturierenden Dualismus nehmen die Kriminalromane ein uraltes religiöses Muster auf, sie erzählen es neu, verändern es, basteln damit, aber: Sie erfinden es nicht erst.
Aber es ist eben nicht klar erkennbar, wer die Guten und wer die Bösen sind. Es macht Mühe, das herauszufinden, und bisweilen gelingt es nicht. Die duale Opposition wird zur Ambivalenz, vielleicht gerät sie sogar zur Umkehrung.
Das Böse im Blockbuster-Film und die gesellschaftlichen Katastrophen
Das Kino ist heute ein wichtiger Ort, Geschichten zu begegnen. Wer einen Kinofilm besucht, begibt sich auf eine Reise. Er bzw. sie nimmt an der Reise der Film-Held*innen teil. Die „Reise des Helden“ ist das Erzählrezept des massenwirksamen Filmes. Es beinhaltet eine Reihe von Stationen und ein Arsenal von Protagonist*innen:
• Die gewohnte Welt. Familie, Freundschaft, Arbeitsplatz, Freunde, Wohnsituation müssen in irgendeiner Weise gezeigt werden, die Welt des Alltäglich-Normalen.
• Der Ruf des Abenteuers. Der*die Held*in begegnet einem Menschen, einem Konflikt, einem Problem, er*sie macht eine erschütternde Erfahrung, er findet ein Buch, sieht einen aufrüttelnden Film: Etwas geschieht, was ihn aus dem alltäglichen Trott hinausruft.
• Die Weigerung. Es folgt die Phase des inneren Konfliktes. Der*die Held*in will am Gewohnten festhalten, will sich dem Ruf nicht stellen.
• Der Mentor. Der*die Held*in begegnet einer Person, die die Weigerung durchschaut und sie*ihn konfrontiert, zwingt, sich zu stellen, auch Kraft gibt, dies zu tun.
• Überschreiten der ersten Schwelle. Bewährungsproben, Verbündete, Feind*innen. Der *die Held*in hat mit Gegner*innen zu kämpfen, die ihn*sie vom Weg abbringen wollen, den „Schwellenhütern”: Das können äußere Feinde sein oder auch innere Schranken. Weitere Gestalten werden spätestens in dieser Phase der Handlung auftauchen: Der „Trickster“, eine komische Figur, die die Ernsthaftigkeit der Handlung immer wieder durch ihr skurriles Verhalten auflockern wird.
Sodann der „Gestaltwandler“. Oft ist es eine Frau, in die sich der Held verliebt. Oft spielt diese Gestalt auf der Seite der Bösen mit.
• Vordringen zur tiefsten Höhle. Der*die Held *in kommt zum Kern seines*ihres inneren Konfliktes, er*sie findet das Zentrum der bösen Macht. Filme funktionieren in der Regel nur dann, wenn zugleich ein innerer und ein äußerer Konflikt gezeigt werden.
• Die entscheidende Prüfung. Der*die Held*in kann erst siegen, als er*sie seinen*ihren inneren Konflikt löst.
• Belohnung. Der*die Held*in gewinnt die Liebe seines*ihres Herzens, findet den Schatz, befreit seine*ihre Liebste aus den Fängen der Mafia, löst sich von seinem*ihrem Vater, kann die Firma übernehmen, wird gegen alle Widerstände zum*r Chefsekretär*in usw.
• Rückweg, Auferstehung. Der*die Held*in kehrt in sein*ihr alltägliches Leben zurück, er*sie ist gewandelt, ist erwachsen geworden.
• Rückkehr mit einem Elixier. Der*die Held*in ist von seiner*ihrer Reise aus der anderen, der wilden, konfliktreichen Welt nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. Er*sie hat etwas mitgebracht: eine neue Lebenshaltung, innere Stärke, eine innere Landkarte für alle weiteren Konflikte, eine erfüllende Beziehung, die Chance für ein glücklicheres Leben.
Es geht in den Erzählungen der Blockbuster-Filme um zentrale
Lebensthemen: Geburt und Tod, Sich-Verlieben und Sterben-Müssen, um Beziehungsanbahnung, um Scheitern und Trennung in Beziehungen, um die gefährdenden und gefährlichen Bereiche von Sexualität und Gewalt, aber auch um die großen gesellschaftlichen Konflikte wie beispielsweise die Zerstörung der natürlichen Lebensumwelt.
In all diesen Erzählungen steht im Zentrum niemals bloße Information. Was sich im Spiel zwischen Filmerzählung und den Geschichten der Zuschauer*innen ereignet, ist viel mehr: eine Welt von Konflikt und Gefahr, Verausgabung und Bei-sich-Sein, drohender Zerstörung des Lebens durch das Böse und Entrinnen, ja, Erlösung.
In Blockbuster-Kinofilmen wird immer wieder neu erzählt, wie das Opfer als Gewalt, als zerstörerische Reziprozität, durch das Opfer als Gabe, als Hingabe des*der Held*in gebannt werden kann – auf dem Höhepunkt seiner*ihrer Reise in die Welt des gegenüber dem Alltag gefahrvollen Anderen. In der populären Kultur werden heute viele Rituale inszeniert und Geschichten erzählt, die trotz aller Vielfalt eine Erzählung immer wieder aufführen: Das Leben ist nur zu gewinnen, wenn sich eine*r rückhaltlos für den*die anderen einsetzt.
Hier sind biblische Geschichten, vor allem die Christusgeschichte, die Vorlage, die immer wieder erzählt, abgewandelt, neu zusammengesetzt werden. Das Leben kann nur erhalten, das Heil nur erworben, das Böse kann nur entmachtet werden, wenn eine*r sein*ihr Leben für die vielen dahingibt.
In Blockbuster-Filmen werden in diese Grunderzählung immer wieder neu zentrale aktuelle gesellschaftliche Konflikte eingearbeitet. Das Böse erscheint immer wieder als menschengemachte Zerstörung der natürlichen Lebensumwelt und der Möglichkeit menschlichen Lebens. In James Camerons berühmten Blockbuster TERMINATOR 2 (USA 1991) ist es eine atomare Katastrophe, in verschiedenen Filmen der Ausbruch von Viren als Eröffnung einer Pandemie, die (fast) alles menschliche Leben zunichtemacht (z.B. TWELVE MONKEYS USA 1995). Immer ist es die grenzlose menschliche Naturbeherrschung – aus den Antrieben von Macht, Geld, Einfluss und grenzenlosem Begehren, die in der einen oder anderen Weise das Böse befeuert und die Möglichkeit von Leben vernichtet.
In James Camerons AVATAR (2009, mit Sam Worthington, Zoe Saldana und Sigourney Weaver) verwickelt das 3D-Format die Zuschauenden in die Handlung, aber auch in die fremde Pflanzen- und Tierwelt des Saturn-Mondes Pandora, dem Ort der Handlung im Jahr 2154.
Ökonomisch-politischer Hintergrund des Plots ist eine imperialistische Ausbeutungssituation: Die Menschen, mit einer Militär- und Forschungsstation auf Pandora vertreten, sind an den Rohstoffen interessiert. Die hier lebenden Ureinwohner*innen, drei Meter große, schlanke bläuliche Na’vi, die in enger Verbundenheit mit ihrer natürlichen Lebensumwelt leben, sollen aus ihren Wohngebieten vertrieben werden. Kulturelle und religiöse Traditionen werden missachtet. In diesen Erzählfaden fließt eine Fülle an Informationen aus aktuellen ökonomisch-politischen Konflikten ein, aber auch aus ethnologischem und religionswissenschaftlichem Wissen. Die Raumstruktur wird auf Heilige Orte hin zentriert. Sie wirken als Offenstelle zu dem Energiefluss, der alle Pflanzen und Lebewesen dieser Welt miteinander verbindet, aber auch den Kontakt zu den Ahn*innen und zu den kulturell-religiösen Traditionen ermöglicht. Die fremde Welt der Na’vi ist damit konzipiert nach den Informationen über kulturelle und religiöse Traditionen, die vor allem von christlichen Missionar*innen im Prozess der militärischen Unterwerfung, ökonomischen Ausbeutung und kulturellen Zerstörung traditioneller Gesellschaften z.B. in Afrika oder Melanesien zusammengetragen wurden.
Die Menschen – in der Sprache der Na’vi die „Himmelswesen“ – sind auf diesem Planeten nicht lebensfähig. Sie können mit Atemmasken oder in den abgeschirmten Räumen ihrer Kampfmaschinen in Kontakt treten – oder durch Avatare. Das sind Wesen, die in ihrer biologisch-genetischen Konstitution den Na’vi angepasst sind. Sie sind aber von den Forscher*innen der Menschen konstruiert. Sie werden über biologisch-elektronische Übertragungssysteme durch einen Kontakt mit menschlichen Gehirnen gesteuert. Die schlafenden und träumenden Menschen steuern die biologisch-genetischen Na’vi-Nachbauten, die zeitgleich in der Welt Pandoras agieren.
In diesem Kontaktfeld zur fremden Kultur wird eine zur ökonomisch-militärischen Unterwerfung alternative, im Fortgang der Filmhandlung sogar zunehmend entgegengesetzte Haltung gegenüber der fremden Welt am Gegenstand einer Gruppe von Wissenschaftler*innen gezeigt. Sie wollen lernen, wollen erkennen, wollen nicht ausbeuten und unterwerfen. In diese Gruppe wird der zentrale Protagonist des Filmes aufgenommen: Jake, ein durch frühere Kampfhandlungen auf der Erde an den Beinen gelähmter Ex-Soldat, soll im Auftrag der Militärs als personalisierte siebte Kolonne in die Welt der Na’vi eingeschleust werden. Die Kontaktaufnahme gelingt, Jake wird nach einer Phase des Lernens und der Unterwerfung unter die kulturellen Regeln in die Na’vi-Gesellschaft initiiert, verliebt sich in seine junge Lehrerin, erkennt die Unhaltbarkeit der irdisch-menschlichen Ausbeutungsperspektive, wechselt zunehmend die Fronten und wird zum Anführer des schließlich erfolgreichen Na’vi-Widerstandes.
Die Erzählung von AVATAR bastelt mit einer Fülle von Erzählfiguren aus mehr oder weniger aktuellen Blockbuster-Filmen (z.B. MATRIX, DER MIT DEM WOLF TANZt u.a.), aber auch aus mythischen und religiösen Traditionen: Das Öffnen der Büchse der Pandora (so der Name des Mondes, des Ortes der Filmhandlung) gegen das Gebot des obersten Gottes Zeus bringt nach Hesiods Fassung des altgriechischen Mythos alles Übel auf die Welt, ihr erneutes Öffnen allerdings auch elpis, die Hoffnung. Sodann die energetische Verbundenheit alles Lebendigen in vielen traditionellen, z.B. altindianischen Mythen. Oder: der Heilige Baum von Eridu, dessen Wurzeln nach sumerischer Tradition bis in die Unterwelt reichen und dessen Krone den Himmel trägt. Fruchtbarkeits-Gottheiten wie die babylonische Ischtar und die phönizische Astarte, deren Verehrung und Macht als Gottheiten aus Sicht einer Erzählebene in der Hebräischen Bibel, dem sogenannten deuteronomistischen Geschichtswerk, Grund allen Übels für die Geschichte Israels darstellt. Im Zentrum der Handlung werden zugleich Traditionen aufgenommen, die die Großerzählung der gesamten Bibel tragen. So die Vertreibung aus dem Paradies im Beginn und die erhoffte Rückkehr und Wiederaufnahme allen Lebens. Und auch: die Kraft der Liebe, die stärker ist als der Tod (1. Kor. 13 u.ö.). Schließlich, im Zentrum: die Verbindung von Opfer als Selbsthingabe des Erlösers mit der Erlösung von der zerstörerischen Gewalt.
Das Böse in Blockbuster-Filmen ist die Vernichtung menschlichen und tendenziell allen Lebens durch die Hybris grenzenloser Naturbeherrschung durch menschliche, und zwar ökonomische und politische, Interessen. Dieses Böse wird in Blockbuster-Filmen immer wieder auch – und das scheint in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage besonders brisant – in Pandemie-Erzählungen inszeniert. Ich gebe ein besonders massenwirksames Beispiel:
Francis Lawrence’ I AM LEGEND (USA 2007) folgt dem Erzählmuster, wie wir es in weiteren amerikanischen Apokalypse-Blockbustern seit den neunziger Jahren immer wieder vorgeführt bekommen. Es geht so: Die Welt ist bereits untergegangen, als absolut zerstörerische Folge größenwahnsinniger technologischer Naturbeherrschungsprojekte wie Atomkraft oder Gentechnologie mit dadurch provoziertem Virenausbruch oder durch die Folgen der Klimaerwärmung. Es sind nur noch wenige Menschen übriggeblieben. Sie sind in Kämpfe verstrickt, vor allem mit leblosen Maschinen-Armeen. Sie versuchen, beispielsweise durch Zeitreisen in die noch nicht zerstörte Erdgesellschaft, den Punkt aufzufinden und die entscheidenden Augenblicke jetzt noch einmal neu, diesmal mit heilsamerem Ausgang durchzuspielen, an denen die Weichen damals in Richtung Vernichtung endgültig gestellt worden sind.
Neu und bemerkenswert an I AM LEGEND ist nicht dieses vertraute Erzählmuster, sondern die Weise, wie es inszeniert wird. Der von Will Smith dargestellte Protagonist, der Ex-Militärarzt Dr. Robert Neville, durchkämmt auf einem bürgerkriegsmäßig ausgestatteten Geländefahrzeug gemeinsam mit seinem Hund Samantha Tag für Tag die vollständig menschenleeren Straßen New Yorks – solange die Sonne scheint. Nahezu alles Leben ist ausgelöscht, nachdem ein angebliches Wunder-Heilmittel gegen Krebs zu einem tödlichen Virus mutiert ist. Der größte Teil der Erdbevölkerung ist vernichtet. Ein kleinerer Teil ist ebenfalls mutiert: zu enthaarten, grenzenlos hungrigen, grenzenlos aggressionsbereiten, vollkommen schmerzunempfindlichen und der Einfühlung in menschliches Erleben unfähigen menschenähnlichen Wesen, die nur nachts auf Jagd gehen können, weil sie kein Licht vertragen. Das traditionelle Motiv der blutsüchtigen Vampire ist hier totalisiert in grenzenlosen suchtartigen Hunger auf alles Fleisch, was die wenigen noch existierenden, gegen das Virus immunen Menschen auf den Knochen tragen.
Diese zerstörerischen Wesen sind aber nicht das eigentlich Böse. Dr. Nevilles Haltung gegenüber diesen Untoten ist vielschichtig. Tagsüber tötet er gnadenlos jedes Exemplar der Untoten, das halb paralysiert trotz Sonnenlichts draußen herumhängt. Eigentlich aber ist er als Forscher aktiv: Er versucht, ein Serum zu entwickeln und an von ihm eingefangenen Exemplaren der Untoten zu testen. Ein Serum, das die Wirkungen des Virus zurücknimmt und den Untoten ins menschliche Leben zurückverhilft. Er wird am Schluss zugleich erfolgreich sein und untergehen. Schließlich findet er das rettende Gegenmittel, aber im selben Moment wird seine Bleibe von den Untoten aufgefunden und angegriffen. In einem letzten Kampf gibt er sein Leben dahin, um das rettende Serum an eine bei ihm untergetauchte Mutter-Kind-Familie und damit perspektivisch an alle übrig gebliebenen Menschen weiterzugeben.
Die zur Rettung allen Lebens notwendige Selbsthingabe des Helden ist das schon benannte immer wieder inszenierte Motiv amerikanischer Blockbuster, nicht nur mit apokalyptischer Perspektive. Interessant und neu ist allerdings, wie das Böse gezeigt wird. Der Film übernimmt in kurzen Augenblicken quasi den Blick des Forschers und Wissenschaftlers Dr. Neville auf die Untoten. Ganz knapp, wie nebenbei, gelingt immer wieder ein Einblick in deren soziale Lebensformen. Sie sind nicht bloß degenerierte Menschen. Sie entwickeln Formen von Intimität, wenn sie sich wie Trauben im Dunklen zusammendrängen und schlafen. Sie kooperieren präzise bei der Jagd. Und sie sind liebesfähig auf eine totale Weise – der Anführer der Angreifer auf das Haus von Dr. Neville will nicht nur und vor allem fressen, er will seine Partnerin wiederfinden und befreien, die von Dr. Neville zu medizinischen Experimenten aus der schlafenden Gruppe der Untoten entführt wurde.
Das Böse liegt nicht hier. Das Böse ist dort aufzufinden, wo durch menschliche Hybris ein Medikament entwickelt und in Umlauf gebracht wurde, das in letzter Konsequenz zur Zerstörung der menschlichen Zivilisation geführt hat.
Anders der Blick auf die Untoten. Es ist der gebrochene Blick auf das zugleich als absolut gefährliche, aggressiv tötende und zu vernichtende Andere, das die Untoten gegenüber der menschlichen Zivilisation repräsentieren, das I AM LEGEND gegenüber anderen Filmen des Genres auszeichnet.
Das Andere der Untoten-Gesellschaft kommt
zugleich auch so in den Blick, dass das Andere in seiner Andersheit wahrgenommen und respektiert werden kann.
Das Böse in Serien und die Auflösung gesellschaftlicher Ordnung
Serien brauchen keine Reise in nicht-alltägliche Welten. Sie schmiegen sich in die Alltagswelten ein. Sie sind zerstückelt in ihrer Darbietungsform und spiegeln so die Zerstückelung alltäglichen Lebens unter den Bedingungen einer neoliberalen globalisierten Gesellschaftlichkeit.
Dies spiegelt sich in der Erzählform. In der Regel wird in der ersten Staffel nach und nach ein Personal aus Protagonist*innen aufgebaut: Der*die Heldin und ihre Unterstützer*innen, Gegner*innen und Feind*innen, auch Gestaltwandler- und Trixerpersönlichkeiten, von denen man nicht weiß, was von ihnen zu halten ist. In der Regel wird in der ersten Folge auch ein Thema oder ein Ziel des*der Held*in etabliert (GAME OF THRONES beispielsweise zeigt bereits in der ersten Folge Untote, die als eigentliche Gefahr erst viel später deutlich werden. TRUE BLOOD macht das Thema sofort klar: Sobald Vampire synthetisches Blut kriegen und niemanden mehr umbringen müssen, werden an ihnen trotzdem sämtliche Muster des Fremdenhasses durchgespielt.)
In jedem Blockbuster wäre damit die klassische „Reise des Helden“ eröffnet. Bloß: Das passiert in den Serien nicht. Die Held*innen machen sich auf den Weg, aber sie gehen nicht geradeaus. Rückblicke und Nebengeschichten tun sich auf. Manchmal wird (fast) das gesamte Ursprungspersonal massakriert. Mit welchem Held*innen soll man sich da identifizieren?
Überhaupt: Es gibt den*die „gute*n Held*in“ nicht mehr. Die Held*innen sind mindestens hoch ambivalente Persönlichkeiten. Dabei geht es nicht um das Erzählmuster, dass der*die Held*in eine „Fallhöhe“ haben muss: Sie sind einfach mindestens so böse, wie sie positive Anteile haben. Es werden jede Menge Nebengeschichten und Rückblenden in den Erzählfluss montiert. Was es niemals gibt: die eine tiefste Krise, die der*die Held*in entweder durch Selbstopfer oder durch gelingendes Massaker an den Gegner*innen lösen muss. Es gibt viele kleine, eigentlich unlösbare Teilkrisen, die der*die Held*in in jeder Folge neu durchstehen muss.
Die Serien erzählen realistisch, dass es nicht die eine große Krise gibt, nach deren Lösung der*die Held*in als neuer Mensch aufersteht. Serien erzählen den Weg der Held*innen durch den vielfältig zersplitterten und chaotischen Alltag in der neoliberalen globalisierten Kultur.
Und auch das Böse wird in populären Serien nicht im Sinne der einen zerstörerischen, durch Sucht nach Geld, Macht, sozialem Einfluss und Leidenschaft besetzten zerstörerischen Macht erzählt. Auch das Böse ist zerstückelt, chaotisch, bisweilen unauffindbar, bisweilen direkt mit dem Leben der eigentlich positiven Held*innen verbunden.
Ein gegenwärtig sehr populäres Beispiel: Die US-amerikanische Serie The UMBRELLA ACADEMY (Netflix, seit 2019) erzählt auf der einen Seite eine Superheld*innen-Geschichte ähnlich der vertrauten MARVEL-Blockbuster im Kino. Wie bei MARVEL verarbeitet UMBRELLA ACADEMY eine Comic-Serie, wie bei Marvel ist es die Aufgabe der Superheld*innen, die endgültige Zerstörung des Universums und der durch Menschen bewohnten Zivilisation zu verhindern.
Allerdings ist die Klarheit bei UMBRELLA ACADEMY vollkommen flöten gegangen. Die sieben Superheld*innen, alle mit einer besonderen übernatürlichen Kraft ausgestattet, sind als Geschwister in einer komplett zerstörten und dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Sie sind selbst am Rande des Zerstörtseins lebende Persönlichkeiten.
Die „Guten“ sind komplett gebrochene Gestalten. Und ausgerechnet sie sollen die Macht des Bösen aufhalten, die auf die irdische Zivilisation zurast und alles Leben vernichten wird.
Bloß: Nach und nach stellt sich heraus, dass diese böse, zerstörerische Macht die besondere Begabung, die zerstörerische Kompetenz und nicht kontrollierte Kraft einer jungen Frau aus dieser Geschwistergruppe ist. Ihr Leben lang vom Vater und den übrigen Geschwistern missachtet, über ihre eigenen Kompetenten im Unklaren, verarmt und verunsichert, wird sie durch einen bösen „Mentor“ mit ihrer Macht konfrontiert. Und sie setzt sie auf eine Weise ein, dass der Planet Erde vollkommen zerstört wird.
Ende der ersten Staffel.
Ende von allem, wenn nicht die anderen Geschwister auch ihre besondere Macht hätten, u.a. die Inszenierung von ein wenig aus dem Ruder gelaufenen Zeitreisen, die die Geschwisterschar in den Bürgerrechtskämpfen in US-amerikanischen Städten der 1960er-Jahre wieder auferstehen lässt – und der Kampf gegen die Vernichtung der gesamten Zivilisation geht von vorne los.
Soweit dieses gegenwärtig besonders populäre Beispiel, Ende 2020 auf der Beliebtheitsskala von Netflix-Serien auf Platz 1.
Das Böse ist vielgestaltig, ist chaotisch, ist unidentifizierbar, ist mit den Perspektiven und Kompetenzen der eigentlich „Guten“ unrettbar vermischt – ich denke, dass die aktuell besonders populären Serien das Lebensgefühl zahlloser Menschen in der aktuellen Moderne in gelungener Weise widerspiegeln. Mehr allerdings auch nicht.
Stimmt die hier vorgeführte Analyse der aktuellen populären Kultur, so zeigt sie keinen Weg aus der gegenwärtig vom realen Bösen umfassend bedrohten menschlichen Zivilisation und Lebensumwelt. Gewalt, Krieg, Flucht, Umweltvernichtung tauchen als Erzählinhalt und/oder Randprobleme in den aktuellen populärkulturellen Werken immer wieder auf. Ohne dies würden sie angesichts des realen Elends auch kaum „funktionieren“. Allerdings weist die aktuelle populäre Kultur keinen Weg zur Aufdeckung der Ursachen des realen Bösen, erst recht keinen Weg zur Befreiung.
Warum nicht? Populäre Kultur will zerstreuen und unterhalten, oft auf hohem Niveau. Wäre sie ein – in meinen Augen ebenfalls notwendig gefordertes – Bildungsprogramm, wäre sie nicht mehr populäre Kultur. Beides ist aber notwendig, beides wird in unserer Kultur offensichtlich gebraucht. Gut wäre, wenn mehr Formate entwickelt, auf hohem Niveau inszeniert und massenwirksam platziert würden, die – im Sinne von Bert Brecht – politisch befreiende Bildungsarbeit mit dem Vergnüglichen verbinden.
Literatur
- Chandler, Raymond: Der große Schlaf (1939). Neu übersetzt von Gunar Ortlepp, Zürich 1974
- Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos, Frankfurt a. M. 2001