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KIRSCHBLÜTEN – HANAMI

Von Andreas Behr und Henrike Müller

Meditatives Filmwochenende: Geistliches Arbeiten mit einem Film als gemeindepädagogisches Projekt 


Filmexerzitien

Aus der katholischen Praxis der Exerzitien, der geistlichen Übungen also, ist das Konzept der Filmexerzitien erwachsen. Über das Medium Film werden persönliche, biografisch gewachsene Spiritualität und spirituelle Tradition miteinander verbunden. Es geht also nicht in erster Linie darum, einen Film zu interpretieren. Ebenso wenig wird der Film als Interpretation z.B. eines Bibeltextes verstanden. Film und geistliche Tradition treten in eine Spannung. Hier wie da können Menschen eintreten wie in einen Raum. Sie können sich mit den Figuren eines Films identifizieren, so wie sie auch geistliche Texte und Übungen probehalber auf ihr Leben beziehen können. In der Spannung zwischen Film und geistlichem Angebot kann so eigene Spiritualität erkundet werden. 


Der Film: KIRSCHBLÜTEN – HANAMI

Hanami ist das traditionelle Kirschblütenfest in Japan. Danach ist der Film von Doris Dörrie aus dem Jahr 2008 benannt. 

Kaum etwas könnte zu Beginn des Films ferner sein als Japan. Wir befinden uns in der ländlichen Idylle eines süddeutschen Dorfes. Dort leben Trudi und Rudi Angermeier. Schon die Namen erzählen viel über das Paar. Die Vornamen unterscheiden sich nur durch einen Buchstaben und sind auch in ihrer Bedeutung ähnlich: Trudi ist die Kraft, Rudi die Ehre. Der Nachname deutet an, dass man die beiden nicht zu schnell in eine Schublade stecken sollte. Anger ist öffentliches Land, Allmende. Meier dagegen deutet auf einen Verwalter oder einen Bauern mit Landbesitz hin, jedenfalls nicht auf Allgemeingut. Im Laufe des Films werden wir sehr unterschiedliche Seiten an den beiden kennenlernen. 

Trudi ist Hausfrau, Rudi fährt täglich zur Arbeit ins Büro. Eines Tages erfährt sie, dass er unheilbar krank ist. Sie entscheidet sich, ihm dies zu verschweigen. Gleichzeitig beginnt sie aber, ihm seine letzten Lebensmonate zu gestalten. Sie beschließt, ihre Kinder in Berlin zu besuchen. Dort leben Sohn Klaus (= der Sieger) mit Frau Emma (= die Allumfassende) und den Kindern Celine und Robert (die im Film die Vornamen der Schauspieler*innen tragen). Außerdem Tochter Karolin (= die Freie) mit ihrer Partnerin Franzi (= die Freie). Es gibt noch einen dritten Sohn, Karl (= der Freie), der in Japan lebt und erst später ins Spiel kommt. 

Trudi und Rudi merken schnell, dass die Kinder sich zwar über den Besuch freuen, aber eigentlich keine Zeit haben, sich auf die Begegnung mit den Eltern einzulassen. 

Spontan beschließt das Paar, an die Ostsee zu fahren. Dort stirbt völlig unerwartet über Nacht Trudi. 

Die Verstorbene hatte ein Faible für den japanischen Ausdruckstanz Butoh. Sie hat das Interesse und das eigene Talent dafür nie ausgelebt. Rudi beschließt, sich auf Spurensuche zu begeben, reist nach Japan und zieht kurzerhand bei seinem ältesten Sohn ein. 

Da dieser sehr viel arbeiten muss, zieht Rudi allein durch Tokio und begegnet dort der jungen Butoh-Tänzerin Yu. (Dieser Name, der genderneutral ist, kann je nach Schreibweise ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, unter anderem Freund*in, Hilfe, Grund.)

Rudi und Yu freunden sich an und reisen schließlich zum Berg Fuji. Trudi hatte immer davon geträumt, ihn einmal zu sehen. Doch zunächst verbirgt sich der Berg schüchtern hinter Wolken und Nebel…

Mehr sei hier nicht verraten. Worte können den Film ohnehin nur unzureichend beschreiben. Außerdem sollte, wer mit dem Film arbeiten will, diesen vorher gesehen haben, am besten mehrfach. 


Vorschlag zum geistlichen Arbeiten mit dem Film

Das meditative Filmwochenende richtet sich an Erwachsene. Exemplarisch werden in diesem Film Familienkonstellationen und -beziehungen durchgespielt. Hier finden die Teilnehmenden ihre Anknüpfungspunkte in der eigenen Biografie. 

Geistliches Arbeiten mit einem Film sollte immer offen gestaltet werden, um das aufnehmen zu können, was aus der Gruppe eingebracht wird. Auch gibt es nicht die eine richtige Methode, mit der zu diesem Film gearbeitet werden kann, so wie es auch nicht unbedingt Psalm 139 sein muss, den wir hier mit dem Film in Spannung setzen. Der folgende Ablauf versteht sich daher als Vorschlag. Bewusst ist nicht jedes Detail ausgearbeitet. Wir können sagen, dass wir mit diesem Gerüst gute Erfahrungen gemacht haben, wenn wir mit dem Film gearbeitet haben. Dabei haben wir ebenfalls jedes Mal Variationen entdeckt, als wir gemeinsam mit den Teilnehmenden auf spiritueller Reise waren. Der Ablauf ist also gewissermaßen ein Drehbuch, das einen Rahmen vorgibt, in dem die Regie dann den Akteur*innen viel Freiheit lassen kann. 


Ablauf

Das Filmwochenende beginnt am Freitagabend um 19.00 Uhr. Der Raum ist gemütlich hergerichtet, es gibt Getränke und Knabberzeug. 

Die Teilnehmenden sollten sich kurz vorstellen. Vielleicht erzählen sie von besonderen Filmerfahrungen. Haben sie einen Lieblingsfilm? Gab es besonders gute oder eher schlechte Erfahrungen mit einem Film?

Spätestens um 20.00 Uhr beginnt der Film, der 120 Minuten dauert und mit Abspann gezeigt wird. Bevor es losgeht, erfahren die Teilnehmenden noch eine wichtige Regel: Nach dem Film wird Gelegenheit sein, noch zusammenzusitzen und über Gott und die Welt zu plaudern. Einzig über den Film dürfen die Anwesenden an diesem Abend nicht sprechen, weder untereinander noch z.B. zuhause mit dem Ehepartner. So kann der Film erst einmal sacken und in Gedanken trennt sich Wichtiges von Nebensächlichem. 

Am Sonnabend beginnt um 10.00 Uhr der zweite Teil des Wochenendes. Nach der Begrüßung tragen die Anwesenden den Film zusammen. Alle haben ja ihren eigenen Film gesehen. Es ist interessant zu hören, was den anderen in Erinnerung geblieben ist. Leitfragen für dieses Gespräch können sein: 

•    Was ist Ihnen nachgegangen?
•    Woran erinnern Sie sich noch?
•    Was steht Ihnen vor Augen (Ohren)?

Ganz nebenbei klären sich hier auch Fragen an den Film. Teilnehmende können sagen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Die Gesprächsleitung wird darauf achten, dass Verständnisfragen schnell geklärt werden, wohingegen Interpretationen jetzt noch nicht erfolgen sollten. 

Nun gehen die Teilnehmenden in Kleingruppen auseinander. Sie tauschen sich über folgende Impulse aus: 

•    Stellen Sie sich vor, Sie sind Schauspieler*in. Sie können jede Rolle aus dem Film spielen. Welche Rolle würden Sie gern übernehmen? Wie würden Sie diese anlegen? 
•    Welche Charaktere sind Ihnen besonders sympathisch, welche besonders unsympathisch?

Es schließt sich eine Einzelarbeit an, in der alle für sich folgende Fragen bedenken: 

1.    Charaktere
•    Mit wem haben Sie Mitleid?
•    Über wen ärgern Sie sich?
•    Wen beneiden Sie?

2.    Rudi versucht Trudis Lebenstraum zu verwirklichen. 
•    Warum tut er das?
•    Ist das überhaupt möglich?
•    Was hilft ihm dabei?
•    Kennen Sie so etwas?

3.    „Manchmal im Leben muss man so tanzen, als würde einem niemand dabei zuschauen.“ (Tony Hawks)
•    Welche Rolle spielt Tanz im Film?
•    Welche Rolle spielt Tanz in Ihrem Leben? 

Nach 15 Minuten kommen die Kleingruppen wieder zusammen und tauschen sich über ihre Gedanken zu den Fragen aus. Dafür sollte ausreichend Zeit zur Verfügung stehen; rechnen Sie mit 15 Minuten pro Person in der Kleingruppe. 

Wieder im Plenum können die Teilnehmenden kurz loswerden, wenn jetzt etwas obenauf liegt und gesagt werden muss. 

Anschließend wird getanzt. Wie dies gestaltet wird, hängt von Fähigkeiten, Möglichkeiten und dem Lustfaktor der Leitung ab. Vielleicht bewegen sich die Teilnehmenden zu (Film-) Musik durch den Raum und probieren vorsichtig Bewegungen aus. Denkbar ist auch die Anleitung eines Tanzes mit bestimmten Bewegungen. Auch Bewegungsspiele, bei denen es um Körperbeherrschung geht, können hier ihren Platz haben. Ebenso wäre es denkbar, zu meditativer Musik im Pilgerschritt durch die Kirche zu laufen. 

Nach der Bewegung in der Gruppe gehen die Teilnehmenden wieder in Einzelarbeit auseinander. Sie schreiben einen Brief an einen Charakter aus dem Film. Dazu haben sie ca. 20 Minuten Zeit. 

Zurück im Plenum können einige ihre Briefe oder Ausschnitte daraus vorlesen. Es ist aber auch erlaubt, nur zuzuhören. 

Jetzt wird es ungefähr 13.00 Uhr sein, Zeit für ein kleines Mittagsmahl. Womöglich gibt es Sushi oder ein anderes japanisch anmutendes Gericht. Vor allem kommt es darauf an, sich Zeit für das Essen zu nehmen; meist setzt sich das Filmnachgespräch dabei ungezwungen fort. 

Nach dem Mittagessen bekommen alle einen Ausdruck mit Versen aus Psalm 139 (V1-14+23-24). Sie sollen den Psalm lesen, womöglich auch mit dem Text ein wenig herumgehen. 

Schließlich sollen sie sich über folgende Fragen Gedanken machen: 

•    Wenn ich mein Herz erforsche, welche verborgenen Seiten finde ich da?
•    Wo habe ich Orte (bzw. kann ich Orte finden), an denen ich meine verborgenen Seiten ausleben kann?

Die Teilnehmenden bringen ihre Gedanken zu Papier. Schließlich stecken sie dieses in einen Umschlag, den sie an sich selbst adressieren. Einige Wochen nach dem Seminar wird er ihnen per Post zugeschickt. 

Während der Zeit des Schreibens bereitet die Leitung im Gottesdienstraum alles für den Abschluss vor. Schön ist es, wenn alle im Stuhlreis vor dem Altar Platz finden. In die Mitte können Bilder aus dem Film (einfach vom Bildschirm abfotografieren) so ausgelegt werden, dass sie ein Kreuz bilden. 
Zur verabredeten Zeit kommen die Teilnehmende hier zusammen, um Gottesdienst zu feiern. Dabei sollte Filmmusik eingespielt werden, z.B. als Vor- oder Nachspiel oder leise im Hintergrund während des Abendmahls. 
Psalm 139 sollte gemeinsam bzw. im Wechsel gesprochen werden. 

Als geistlicher Impuls zur Vorbereitung auf das Abendmahl kann es sich anbieten, auf die unterschiedlichen Filmszenen einzugehen, in denen Menschen allein oder gemeinsam essen, bzw. die Szenen, die auf Mahlzeiten anspielen. So wickeln sich Rudi und Yu in ihre Schlafsäcke ein, wenn er versucht, ihr zu beschreiben, was Krautwickel sind. An anderer Stelle werden in einem japanischen Bestattungsritual Knochenreste in der Asche mit Stäbchen, also mit einem Esswerkzeug, bewegt. 

Beim Abendmahl reichen sich die Teilnehmenden gegenseitig Brot und Wein. 

Den Segen nehmen die Teilnehmenden mit einer empfangenden Geste, die ihnen kurz gezeigt wird, entgegen. So kommt noch einmal eine Bewegung, eine ausdrucksstarke Geste ins Spiel. 

Am Ausgang verabschiedet die Leitung die Teilnehmenden. Alle bekommen als kleines Geschenk das Gedicht über die Fliege ausgehändigt, das Trudi immer zitierte: 

Halt ein, was willst du tun, sie morden?
Grausame, weißt du, was du tust?
Ein Tag ist ihr zuteil geworden
Ein Tag des Leids, ein Tag der Lust
Oh lass’ sie leben, lass’ sie schweben
Bis ihre Feierstunde schlug -
Ihr Himmel ist ein Eintagsleben
Ihr Paradies ein Abendflug.

 

Anmerkung

  1.  Anregungen zu Filmexerzitien finden sich auch in Loccumer Pelikan 1/2020, 50ff.