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GELESEN: James Douglas Morrison: The Lords & The New Creatures

Von Andreas Behr


Dieses Gelesen ist auch ein Gehört. Bevor Jim Morrison Sänger der Band The Doors wurde, studierte er Film- und Theaterwissenschaften. In seinen beiden Gedichtzyklen, die meist als ein Band herausgegeben werden, scheint das Thema Film und Kino immer wieder durch. Dabei gibt es häufig religiöse Anspielungen. So gleich im ersten Satz: Look where we worship. An anderer Stelle wird die Kamera als all-sehender Gott beschrieben.

Der erste Zyklus – The Lords – trägt den doppeldeutigen Untertitel „Notes on Vision“. Geht es hier um Notizen oder doch um Noten? Wer gehört hat, wie Morrison seine eigenen Texte rezitiert, weiß, dass der Dichter um den Klang der Sprache wusste, so wie der Sänger nie die Bedeutung der Worte aus dem Sinn verlor.

Ein Text aus The Lords sei herausgegriffen:
“The are no longer ‘dancers’, the possessed. The cleavage of men into actors and spectators is the central fact of our time. We are obsessed with heroes who live for us and whom we punish. If all the radios and televisions were deprived of their sources of power, all books and paintings burned tomorrow, all the shows and cinemas closed, all the arts of vicarious existence …
We are content with the ‘given’ in sensations quest. We have been metamorphosised from a mad body dancing on hillsides to a pair of eyes staring in the dark.”
(dt.: Da sind keine „Tänzer“ mehr, die Besessenen. Die Trennung der Menschen in Aufführende und Betrachtende eines Spektakels ist die entscheidende Tatsache unserer Zeit. Wir sind besessen von Helden, die für uns leben und die wir strafen. Wenn alle Radios und Fernseher ihrer Stromquelle beraubt, alle Bücher und Gemälde morgen verbrannt, all die Shows und Kinos geschlossen würden, all diese Künste der stellvertretenden Existenz…
Wir sind mit dem „Gegebenen“ zufrieden auf der Suche nach dem, was uns berührt. Wir sind metamorphosiert, von einem verrückten Körper, auf Berghängen tanzend, zu einem Augenpaar geworden, das ins Dunkle starrt.)

Im Unterricht empfiehlt es sich, mit den Schüler*innen zunächst eine eigene Übertragung des Gedichtes anzufertigen, um den Sprachspielereien auf die Spur zu kommen, die z.B. im Wort spectators steckt, das mit Zuschauende hier nur unzureichend übersetzt ist. Interessant ist auch die Bildung eines Verbs aus dem Nomen Metamorphose.

Schüler*innen können sich dann auf die Suche nach religiösen Anspielungen begeben. Dabei können auch provokative Übertragungen versucht werden: Ist hier eine religionsgeschichtliche Beschreibung davon gegeben, wie sich archaische Religionen in gezähmte Formen verwandelt haben? Ist auch der Gottesdienst das Ende einer Metamorphose vom Tanzspiel zu einem Spektakel für die Augen?

Die Frage kann aufgeworfen werden, ob die Rolle der actors heute eher von Influencer*innen gespielt wird. Aber auch, ob wir dahin tendieren, inzwischen selbst zum Actor unseres Lebens zu werden (Andreas Reckwitz). Oder ob die, die „für uns leben und die wir strafen” heutzutage eher die Politiker*innen sind, die keine Wähler*innen mehr haben, sondern Fans (Isolde Charim).

Morrison wirft außerdem die Frage auf, was eigentlich passieren würde, wenn diese Formen der stellvertretenden Existenz wegfallen würden. Was würde aus dem Augenpaar werden, das ins Dunkle starrt?

In der Pandemie bekommt der mehr als 50 Jahre alte Text besondere Aktualität – erleben und erleiden wir es doch gerade: All the shows and cinemas closed.

 

James Douglas Morrison
The Lords and The New Creatures
Verlag Simon & Schuster New York 1971
ISBN 978-0-671-21044-1
TB englisch, 144 Seiten