Im Jahr 2019 sind laut Statistischem Bundesamt 778.100 Kinder geboren.1 Für dasselbe Jahr sind 100.893 Schwangerschaftsabbrüche registriert.2 Das Verhältnis dieser Zahlen stimmt nachdenklich.
Betrachtet man die Angaben der in den vergangenen Jahren an das Statistische Bundesamt gemeldeten Schwangerschaftsabbrüche (s. Abb. auf der folgenden Seite), zeigen sich Wellenbewegungen; insgesamt aber liegen sie nah beieinander.3
Die jeweiligen rechtlichen Begründungen für den Schwangerschaftsabbruch fielen 2019 – und das kann als exemplarisch gelten – vor allem unter die Beratungsregelung (97.001), gefolgt von der medizinischen Indikation (3.875) und der kriminologischen Indikation (17). Die meisten Abbrüche geschahen vor der zwölften Schwangerschaftswoche (97.974); ein deutlich geringerer Anteil zwischen der zwölften und 21. Schwangerschaftswoche (2271) und nach der 22. Woche waren es noch 648 Abbrüche.4
Die juristische Regelung: § 218 StGB5
Die Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs sind in Deutschland juristisch klar geregelt. § 218 StGB stellt den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe. Ärzt*innen bzw. anderen Ausführenden drohen eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bzw. eine Geldstrafe, in schwerwiegenden Fällen sogar eine Freiheits-strafe von bis zu fünf Jahren. Begeht eine Schwangere den Abbruch eigenständig, so drohen auch ihr eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bzw. eine Geldstrafe.
Ein Schwangerschaftsabbruch ist allerdings unter bestimmten Voraussetzungen nach §218a keine Straftat:
• Wenn er nach einer ausgewiesenen Beratung nach § 219 (2) drei Tage zuvor und auf ausdrücklichen Wunsch der schwangeren Frau hin durch eine*n Ärzt*in vorgenommen wird => Beratungsregelung;
• Wenn „die Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis […] eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren“ zeigen (§218a (2)) => medizinische Indikation. Ein so indizierter Abbruch muss ebenfalls innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen und nach einer nachgewiesenen Beratung geschehen.
• Straflos bleibt ein Abbruch nach § 218a (3) außerdem bei einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung => ethische oder kriminologische Indikation. Hier gelten gleichermaßen Beratungsregelung und die Frist von 12 Wochen.
• § 218a (4) erlaubt bei „besonderer Bedrängnis“ einen Schwangerschaftsabbruch in einem Zeitraum von bis zu 22 Wochen nach der Empfängnis. Als eine solche „Bedrängnis“ gilt beispielsweise das Ergebnis einer Pränataldiagnostik, das dem Kind eine schwerwiegende, nicht behebbare Gesundheitsschädigung attestiert, so dass die Fortsetzung der Schwangerschaft für die Schwangere zu einer unzumutbaren gesundheitlichen Belastung führen kann => eugenische Indikation. Wird eine mögliche Behinderung des Fötus nach der 22. Schwangerschaftswoche festgestellt, darf die Schwangerschaft bis in den neunten Monat hinein abgebrochen werden.
• Schließlich gilt innerhalb der ersten zwölf Wochen die => soziale Indikation, für die eine Notlage nachzuweisen ist, der die Frau bei einer Fortsetzung der Schwangerschaft ausgesetzt wäre.
Eine Geschichte von Macht und Scham, Emanzipation und Wertekonkurrenzen
Die Diskussion (bzw. Nicht-Diskussion) um den Schwangerschaftsabbruch hat eine lange Geschichte6 – die letztlich über mehr als 450 Jahre lang ausschließlich von Männern bestimmt wurde. Das Verbot eines Abbruchs ist bereits 1507 in der Bamberger Halsgerichtsordnung und mit der unter Karl V. 1532 erhobenen Constitutio Criminalis Carolina im weltlichen deutschsprachigen Recht festgehalten. Der § 218 an sich be-steht seit 1870 und geht 1971 in das StGB des Deutschen Reiches ein. Die medizinische Indikation wird erstmals 1927 anerkannt.
Das NS-Regime nutzt die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs aus rassehygienischen Gründen und macht mit den 1933 erlassenen Erbgesundheitsgesetzen die eugenische Indikation zum politischen Mittel. 1943 droht auf der anderen Seite die „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft“ demjenigen, der „durch Abtreibung die deutsche Volkskraft […] beeinträchtigt habe“7, die Todesstrafe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrscht eine unklare Gesetzeslage – verschärft durch die Situation zahlreicher ungewollter Schwangerschaften in Folge von Massenvergewaltigungen. Erfurter Gynäkologen drängen auf die kriminologische Indikation. Seit August 1945 bleibt der Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung straffrei.
Die 1960er-Jahre sind bestimmt durch eine rigide und tabuisierende Sexualmoral sowie eine durch Familienminister Franz-Joseph Wuermeling vertretene konservative Politik. Familienpolitik sei Staatspolitik, jede Geburtenkontrolle gefährde das Ideal der kinderreichen Familie als „Kraftquelle des Staates“. Die aufkommenden empfängnisverhütenden Mittel sind ebenso verpönt wie außerehelicher Geschlechtsverkehr und werden von Seiten der Politik, von großen Teilen der Ärzteschaft sowie der (Ehe-)Männer boykottiert. Sexualität erscheint politisch verzweckt und unfrei. Vor allem für Frauen ist die eigene Sexualität häufig angst- und schambesetzt: Die Angst vor einer möglichen Schwangerschaft beherrscht jede sexuelle Beziehung zu einem Mann – dabei werden die so genannten „ehelichen Pflichten“ selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert von ihm eingefordert. Wird eine Frau schwanger, bleibt es ihre Verantwortung, sich im Zweifelsfall um einen Abbruch zu kümmern. Manche Frauen müssen mehrere Abbrüche ertragen, weil bereits zahlreiche weitere Kinder zu versorgen sind, der Mann den Abbruch einfordert oder Frauen sich völlig überfordert fühlen. Ein Schwangerschaftsabbruch zwingt die Frau, etwas Illegales und gesellschaftlich Verpöntes zu tun. Häufig ist Scham über die gesamte Situation die Folge.
Die Anzahl der Abtreibungen ist in dieser Zeit immens hoch. Der Staat reagiert: 1965 drohen bei Selbstabtreibung bis zu fünf, bei Fremdabtreibung Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren.
Die „sexuelle Revolution“ der 1960er-Jahre, vorangetrieben durch die Freiheit, die die Pille mit sich bringt, aber auch durch die erschreckenden Zahlen eines „Abtreibungstourismus“ ins Ausland sowie illegaler, riskanter Abtreibungen innerhalb der Bundesrepublik, führen zur öffentlichen Neu-Diskussion – mit starken Gegnern in Politik, Kirche und Ärzteschaft. 1974 entscheidet sich die Mehrheit der nun regierenden sozial-liberalen Koalition für eine Fristenregelung, die Straffreiheit bei einem Abbruch bis zur zwölften Woche gewährt. 1975 erklärt das Bundesverfassungsgericht die Fristenregelung für unvereinbar mit der im Grundgesetz verankerten Würde des menschlichen Lebens; daher kommt es 1976 zur Reform des § 218 StGB, der von da an die Indikationsregelung vorsieht. Diese gilt bis heute.
Der Bewusstseinswandel der 1960er-Jahre und die feministische Studentenbewegung provozieren für die 1970er-Jahre einen immensen Reformdruck, der in der Selbstbezichtigungskampagne, die die Journalistin Alice Schwarzer 1971 nach französischem Vorbild initiiert, wohl seinen stärksten Ausdruck findet: Der „Stern“ veröffentlicht eine Liste von 374 Frauennamen und auf dem Heft-Cover Fotos einiger dieser Frauen, die alle öffentlich bekennen: „Wir haben abgetrieben!“8 Darunter finden sich auch die Fotos von Romy Schneider und Senta Berger, die den Schüler*innen heute noch bekannt sein können.
Es folgen Unterschriftenaktionen für das Selbstbestimmungsrecht der Frau und die Abschaffung des § 218. 1974 kommt es zu einem weiteren öffentlichen Bekenntnis: 329 Mediziner erklären im „Spiegel“, Abtreibungen vorgenommen zu haben und dies im Sinne der Frauen auch weiterhin tun zu wollen.
Bausteine für den Unterricht
Die Zeit, in der die Parole „Mein Bauch gehört mir!“ auf allen Protestplakaten zu lesen war, liegt inzwischen 40 Jahre zurück. Aus zwei Gründen ist es lohnenswert, in einer Unterrichtssequenz zum ethischen Konflikt-feld „Schwangerschaftsabbruch“ mit Schüler*innen einen Blick auf diese Zeit zu werfen.
Zum einen werden sie erkennen, dass sich gesellschaftlich, juristisch und in ethischer Perspektive etwas verändert hat. Jugendliche lernen zu verstehen, dass es hier nicht um individualistische, feministisch motivierte Rechte einzelner militanter Frauen ging, sondern um das grundsätzliche Infragestellen politischer, gesellschaftlicher und familiärer Machtstrukturen. Als Folgen dieser Emanzipationsbewegung erkennen Schüler*innen veränderte Bilder von Geschlechterrollen sowie neu entstandene Wertekonkurrenzen und Dilemmata. Die heutige ethische Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche ist sich selbstverständlich dessen bewusst, dass der moralische Anspruch des Embryos, wie er im Embryonenschutzgesetz verankert ist, mit dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter konkurrieren kann.
Schüler*innen werden in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs zum anderen erkennen, dass sich manches trotz der Emanzipationsbewegung nicht verändert hat. Zu den Motiven, die Frauen für den Abbruch einer Schwangerschaft angeben, gehören noch immer die schwere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die befürchteten Nachteile von Kindern für die Karrieremöglichkeiten.9 Die gesellschaftliche Verhältnisbestimmung von Mann und Frau bleibt also angefragt. Die Sorge, sich der Verantwortung für ein Kind nicht gewachsen zu fühlen, insbesondere dann, wenn sie keinen verlässlichen Partner an ihrer Seite wissen, ist ein weiteres Motiv vor allem junger Frauen. Und schließlich entscheiden sich gerade diejenigen Frauen, die noch nicht im Beruf stehen, für einen Schwangerschaftsabbruch, weil sie erst dann ein Kind wollen, wenn sie finanziell unabhängig sind und ihrem Kind „etwas bieten“ können.
Mit M 1 steht den Schüler*innen zunächst ein kurzer Informationstext zur Geschichte des § 218 StGB zur Verfügung. Zwei Beispiele aus den Interviews, die Alice Schwarzer 1971 mit unterschiedlichen Frauen geführt und veröffentlicht hat, schließen sich an. Sie lassen sich arbeitsteilig lesen und bearbeiten. Interessant zu reflektieren sind die Eindrücke von Fremdheit und zeitlicher Ferne dieser Frauenbilder, zugleich aber auch die offenbare Zeitlosigkeit der Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch. Das zweite Beispiel macht außerdem deutlich, wie bedrückend die Situation durch die juristischen Regelungen war und wie Frauen, Ärzte und Hebammen kriminalisiert wurden. Und schließlich gibt dieser Interviewauszug einen Eindruck von der Gefährlichkeit der damaligen Abtreibungstechniken. Sensibel, aber sicher gewinnbringend kann die Beschäftigung mit Aufgabe 4 sein – Eltern und Großeltern zu befragen, mit welchen ethischen Vorstellungen von Sexualität und Schwangerschaft(sabbruch) sie aufgewachsen sind.
Mit M 2 lesen die Schüler*innen den Erfahrungsbericht von Kim Hase, den sie 2018 als Blog im Internet veröffentlicht hat. Eine nicht verlässliche Partnerschaft, die eigene fehlende berufliche Orientierung und das Gefühl von Überforderung haben Kim ihre Schwangerschaft abbrechen lassen. Anders als Karin und Ruth in den Interviews zuvor reflektiert Kim vor allem, wie sie Abschied und Trauer erlebt habe. Sie spricht von dem „Zellhaufen in ihrem Unterleib“ und gleichzeitig wie von einer Person, um die sie trauert. Für sie sei diese Trauer nicht, wie ihre Ärztin erklärt habe, hormonell bedingt und medizinisch erklärbar. An diesem Beispiel lässt sich erkennen, wie wichtig das soziale Umfeld für die Begleitung einer ungewollt schwangeren Frau – auch mit der Entscheidung für einen Abbruch – ist und wie belastend seine Verurteilungen sein können. Sehr eindrücklich an diesem Text ist Kims persönliche Erkenntnis, man könne gleichzeitig etwas richtigmachen und dennoch Schmerzen und Trauer über diese Handlung erfahren. Diese menschliche Grunderfahrung wird Schüler*innen nachvollziehbar sein.
Am Schluss dieses Blogeintrags bekommen die Schüler*innen kurze Informationen über Beratungsangebote der AWO oder pro familia, an die sich im weiteren Unterrichtsverlauf anknüpfen ließe. Weiterführend regt Aufgabe 3 an, die Veröffentlichung eines solch privaten Posts zu reflektieren: Macht man sich noch verletzbarer und angreifbarer? Hat das öffentliche Schreiben seelsorgerliche Elemente? Aufgabe 4 nimmt die Form des Blogeintrages auf, um mit Schüler*innen trotz einer Konfliktsituation mögliche Argumente für eine Schwangerschaft zu erörtern.
M 3 und M 4 bieten zwei theologische Positionen zum ethischen Konfliktfeld des Schwangerschaftsabbruchs. Wilfried Härle (M 3) macht einleitend deutlich, dass es keine einfache ethisch-theologische Antwort auf die Frage nach einem Schwangerschaftsabbruch gibt. Es gebe Situationen, in denen sich das Lebensrecht der Schwangeren und das Lebensrecht des Kindes unvereinbar gegenüberstünden. Dieser tragische Konflikt bedeute immer, dass das Lebensrecht des einen nicht geachtet werden könne. Unter dieser Prämisse erklärt und bewertet Härle anschließend die Indikationenregelung in § 218 StGB. Die Schüler*innen erfahren in diesem Kontext, wie der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland juristisch geregelt ist – und an welche Grenzen diese juristische Regelung kommen kann. Insbesondere die so genannte Beratungsregelung, mit der die allermeisten Abbrüche begründet werden und die im Grunde nur eine Kompromisslösung darstellt, zeigt für Härle Schwächen auf. Er fordert, das vorrangige Ziel der rechtlich geforderten Beratung, die Frau „für das Austragen des Kindes zu gewinnen“, nicht aus dem Blick zu verlieren. Zugleich gesteht er ein, dass er – wie die Kritiker der Beratungsregelung – keine Lösung anbieten könne, die „dem Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens besser (bzw. weniger schlecht)“ diene.
Wolfgang Huber (M 4) rückt in seiner Auseinandersetzung mit dem Schwangerschaftsabbruch die Beziehung und das Lebensverhältnis von Mutter und Kind ins Zentrum. Daraus leitet sich auch bei ihm eine einleitende Klarstellung ab: Für die allermeisten Frauen, die sich zu diesem Schritt entscheiden, sei diese Erfahrung eine schmerzhafte und traumatische und die Entscheidung für einen Abbruch in keiner Weise eine leichtfertig getroffene. Die zweite Konsequenz einer Schwangerschaft als Lebensverhältnis und Beziehung ist für Huber eine natürliche Grenze der juristischen Bewertung des Konfliktes: Eine Schwangerschaft könne nur mit, nicht gegen die schwangere Frau weitergeführt werden. Eine ethische Auseinandersetzung mit Fragen von Schwangerschaftsabbruch könne folgerichtig nur über einen verantwortungsethischen Zugang geschehen. Huber zeigt auf, wo individuelle, professionelle und institutionelle Verantwortung wahrgenommen werden müsse, um einer schwangeren Frau in einer Konfliktsituation die Entscheidung für das Kind zu ermöglichen. Gleichzeitig fordert Huber Empathie und Achtung für jede der Frauen – unabhängig von ihrer Entscheidung.
M 5 fokussiert einen in der Diskussion um Schwangerschaftsabbruch alle Beteiligten besonders herausfordernden Aspekt: die Möglichkeit einer so genannten Spätabtreibung. Die zahlreichen Verfahren der Pränataldiagnostik (PND), die sich in den vergangenen 30 Jahren entwickelt und optimiert haben, sind gleichermaßen Segen wie Fluch und können werdende Eltern vor große Gewissenskonflikte stellen. Werden im Zuge einer PND schwerwiegende Krankheiten oder Fehlbildungen diagnostiziert, darf nach § 218 StGB auch nach der zwölften Woche und bis hin zum neunten Monat ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden. Der Gewissenskonflikt besteht für werdende Eltern zunächst in der Frage, ob für sie eine PND überhaupt in Frage kommt. Die meisten der darunterfallenden Untersuchungen sind nicht verpflichtend. Der zweite, größere Konflikt ist der Umgang mit dem möglichen Ergebnis.
Hier abgedruckt ist der Anfang eines umfangreichen Artikels, der unter Deutschlandfunk Kultur erschienen ist. Sowohl informierend als auch empathisch mit allen Beteiligten wird hier aufgezeigt, was eine PND für werdende Eltern und Ärzt*innen bedeuten kann und warum Spätabtreibungen überhaupt möglich sind. Die Schüler*innen können über den angegebenen Link den vollständigen Artikel lesen, der sehr einfühlsam von einem Paar erzählt, das sich von seiner im Mutterleib heranwachsenden Tochter verabschieden musste.
M 6 schließlich stellt eine Reaktion auf die Diskussion um eine Abschaffung von § 219a StGB dar. Ironisch überspitzt stellt Harm Bergen mit seiner Karikatur „Abtreibungs-Werbung“ die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der Diskussion um Ärzt*innen in Frage, die öffentlich angeben, in ihren Praxen Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Der Fall der Gießener Ärztin Kristina Hänel, der von 2017 bis Ende 2019 verhandelt wurde, gilt hier als prominentes Beispiel. Wenn Schüler*innen sich mit der Diskussion um § 219 beschäftigen, sind historische Rückbezüge zu nationalsozialistischer Familienpolitik möglich, die Emanzipationsgeschichte der Frau in den 1960er- und 70er-Jahren spiegelt sich in dieser Diskussion – und schließlich die ethische und theologische Frage nach Menschenbildern: von Frauen und potenziellen Vätern, von Ärzt*innen und nicht zuletzt von „menschlichen Embryonen“ bzw. „embryonalen Menschen“10.
Der moralische Status des Embryos – Ausblick für weitere Unterrichtsbausteine
Im Zentrum des Konfliktfelds „Schwangerschaftsabbruch“ steht die Frage nach dem moralischen Status des Embryos. Ausgehend von diesem Zentrum ließen sich weitere medizinethische Konfliktfelder vertiefen bzw. erarbeiten:
Eng verbunden mit dem Schwangerschaftsabbruch (s. M 5) sind die ethischen Anfragen an die – immer selbstverständlicher werdenden – Möglichkeiten der Pränataldiagnostik (PND). Die darunter gefassten diagnostischen Möglichkeiten bergen auch Gefahren: die einer Erwartungshaltung an werdende Eltern, das Idealbild einer „perfekten“ Gesellschaft und die Suggestion eines menschlichen Lebens ohne Leid.
Ein weiteres Konfliktfeld stellt die Möglichkeit der In-vitro-Fertilisation dar. Ethisch problematisch ist hier die Abtötung überzähliger Embryonen.
Ein anderer medizinisch „extrakorporaler Konflikt“11 stellt sich mit dem Verfahren der Präimplantationsdiagnostik (PID) dar. In einem durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) und das Präimplantationsgesetz (PräimpG) sehr eng gesteckten Rahmen besteht für Frauen bzw. Paare seit 2014 die Möglichkeit, in vitro gezeugte Embryonen genetisch untersuchen und nur die Embryonen in die Gebärmutter der Frau einsetzen zu lassen, die gesund sind. Voraussetzung für diese PID ist das Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit bzw. die hohe Wahrscheinlichkeit einer Tot- oder Fehlgeburt. Diese PID betrifft ausdrücklich Einzelfallentscheidungen und darf ohne ärztliche Beratung eines PID-Zentrums sowie einer Ethikkommission nicht durchgeführt werden.
Anmerkungen
- www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/_inhalt.html. Die Zahl bezieht sich auf lebend-geborene Kinder.
- www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/land-wohnsitz.html
- Ebd.
- Das Jahr 2019 wird hier exemplarisch betrachtet. Alle Zahlen finden sich unter www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/rechtliche-begruendung.html.
- Vgl. z. B. www.dejure.org/gesetze/StGB/218 bzw. 218a und www.rechtslexikon.net/d/schwangerschaftsabbruch
- Dargestellt beispielsweise bei Berger: Die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch, insbes. Kapitel 4.
- Ebd.
- Wir hätten das Titelblatt des STERN vom 6. Juni 1971 hier gern gezeigt. Leider ist es dem Verlag Gruner + Jahr per einstweiliger Verfügung untersagt, den Titel zu verbreiten. Die Seite ist aber im „Lebendigen Museum online” der Stiftung Haus der Geschichte unter www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-stern-wir-haben-abgetrieben.html zu sehen.
- Das zeigen Umfrageergebnisse beispielsweise der Thomson-Reuters-Stiftung und der Rockefeller-Stiftung im Oktober 2015.
- Zur Differenzierung dieser Begriffe siehe Huber: Ethik, 42.
- Vgl. Dabrock: Konflikte aushalten und menschlich gestalten, in diesem Heft, 4.
Literatur
- Berger, Maria Minola: Die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch im Deutschen Ärzteblatt von 1949 bis 1976. Bochum 2010 (Diss.), (www-brs.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/HSS/Diss/BergerMariaMinola/diss.pdf
- Härle, Wilfried: Würde. Groß vom Menschen denken, München 2010
- Huber, Wolfgang: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod, München 2013
- Frauen gegen den § 218. 18 Protokolle, aufgezeichnet von Alice Schwarzer. Mit einem Bericht der Sozialistischen Arbeitsgruppe zur Befreiung der Frau, München, und einem Nachwort von Alice Schwarzer, Frankfurt a.M. 1971