Betrachtet: Paul Klee: Angelus Novus (1920)

Von Kirsten Rabe

 

Ein irritierendes Bild. Ein vogelartiges Wesen, dessen überdimensionierter Kopf an den eines Löwen erinnert, sieht mit weit aufgerissenem Mund und großen Augen ganz nah an der Betrachterin vorbei. Dabei hebt es die flügelartigen Arme und Hände wie zum Segen – oder zur Abwehr. Gleichzeitig scheint es, als drehe dieses Wesen demjenigen, der das Bild betrachtet, den Rücken zu. Eine uneindeutige Haltung, in der Paul Klee 1920 seinen „Angelus Novus“ in Ölfarben und Aquarelltechnik geschaffen hat.

Berühmt geworden ist diese kleine Zeichnung durch den Philosophen Walter Benjamin, der sie 1921 von Paul Klee erworben hat. Der Angelus Novus hat Benjamin nicht nur sein Leben lang begleitet, sondern wurde für ihn zum Sinnbild des Nachdenkens über die Geschichte. 1940, kurz vor seinem Freitod und geprägt durch die Erfahrung des Exils, hat Benjamin Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ verfasst. Der Angelus Novus bekam hier eine Schlüsselfunktion und so wurde aus ihm der „Engel der Geschichte“.

Benjamin beschreibt diesen Engel, „als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen“, konstatiert der Philosoph. „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.“ Für Benjamin können Geschichte und damit auch Zukunft nur mit dem Blick zurück gedacht werden. Die Zukunft bleibt dem Angesicht des Engels verborgen. Was er sieht, ist die Vergangenheit. Im Kontext des nationalsozialistischen Regimes geschrieben, erklärt Walter Benjamin die Vergangenheit als „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm [dem Engel] vor die Füße schleudert“.

Obwohl der Engel bleiben möchte, „die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“, sei es ihm nicht möglich: Ein „Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ Wer im nächsten Gedanken des Philosophen erwartet, das Paradies als einen Ort des Heils verstanden zu wissen, wird erneut irritiert: „Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Dabei ist der Begriff des Fortschritts für Walter Benjamin nicht positiv besetzt.

Benjamins Deutung des Angelus Novus provoziert auch hundert Jahre nach der Entstehung des Bildes Fragen – nicht nur die, ob der Betrachtende die Vorder- oder die Rückseite des Engels sieht und ob das für die Deutung eine Rolle spielt.

Wird Zukunft niemals positiver werden als es die Vergangenheit war? Oder kann sie gerade durch den wissenden Blick auf die Vergangenheit gar nicht anders als besser zu werden? Sind es die Visionen der Menschen, die „Trümmer auf Trümmer häufen“? Wann kann Fortschritt menschenfreundlich sein? Oder ist das Walter Benjamins Vision? Nur, wer auf die Vergangenheit schaut und innehalten kann, sich gegen den Sog des Fortschritts wehrt und zunächst die Toten weckt und das Zerschlagene zusammenfügt, wird in eine Zukunft gehen können. In eine Zukunft, die er nicht sieht, wohl aber durch den Blick auf die Vergangenheit prägen wird.

Und schließlich: Verspricht das Paradies kein Heil und keine Zukunft mehr? Ist das Göttliche aus dem Antlitz des Engels verschwunden? Wo ist er und wo wird er in Zukunft sein, der göttliche Funke?

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© Foto: The Israel Museum, Jerusalem / Wikimedia

Wer sich genauer mit dem Bild von Paul Klee, der Deutung durch Walter Benjamin und jüdischem Geschichtsverständnis beschäftigen möchte, sei hingewiesen auf den Beitrag von Astrid Nettling im Deutschlandfunk vom 10.02.2016: „Ein Sturm weht vom Paradiese her“ (online unter www.deutschlandfunk.de/walter-benjamins-engel-der-geschichte-ein-sturm-weht-vom. 2540.de.html?dram:ar ticle_id=345151).