Warum und wie die Stadt auch künftig unsere Gesellschaft prägen wird

Von Peter Jakubowski und Robert Kaltenbrunner

 

Es gibt kein Leben, in dem nicht eine Stadt eine Rolle spielt“, notierte die Schriftstellerin Karen Blixen, „und es macht wenig aus, ob man ihr wohl oder übel gesinnt ist, sie zieht die Gedanken an sich nach einem geistigen Gesetz der Schwere.“ Wir halten diesen Satz für so hellsichtig wie maßgebend. Tatsächlich ist die Stadt der Seismograph einer Gesellschaft. Ob nun Babylon als das Symbol der Sprachverwirrung und der uneinholbaren Perspektivendifferenz, oder das himmlische Jerusalem als der Ort, an dem die Einheit der Verheißung gestiftet wird: Stets waren es Städte, in denen die entscheidenden Entwicklungen ihren Ausgang hatten und auch kumulierten. Folgerichtig ist der Weltengang bis heute durch das ewige Ringen um eine stadtnahe Gesellschaft bestimmt.


Stadt als Laboratorium

Städte offenbaren sich insofern als Laboratorien der Moderne, als die Orte, an denen die funktional ausdifferenzierten Zentren der Gesellschaft – Ökonomie, Politik, Recht, Religion, Bildung, Kunst und Wissenschaft – einander begegnen und aufeinander bezogen werden. In städtischen Räumen verdichten sich also gesellschaftliche Strukturen, Differenzierungen und Routinen an einem Ort. Und ja, letztlich sind Städte auch Orte, an denen sich dem sensiblen Beobachter in amüsanten, verwirrenden und lyrischen Episoden ein ganz eigener Blick auf das Leben eröffnet. Hier spielt die Musik des Zufalls eine leise wie unverzichtbare Hauptrolle, wie sie Paul Auster in seinem breiten schriftstellerischen Wirken kunstvoll arrangiert. So entstehen fernab jeder Theorie und Planung urbane Wirklichkeiten und Gefühlslagen, die das Menschsein immer wieder aufs Neue mit der Stadt verbinden.

Kultur und Unkultur, das Seelenleben ganzer Völker ebenso wie Wunden und Rehabilitationen machen wir häufig an den Namen von Orten fest. Wie die große Historie lassen sich aber auch Familiengeschichten und Einzelschicksale mit den Städten der Welt verbinden. Die europäische Stadt – Abbild von Errungenschaften ohne Gleichen, aber auch von Irrungen und Wirrungen des Kontinents: Athen, Rom, London, Paris, Madrid, Lissabon, Wien, Budapest, Moskau, Warschau, Prag. Chemnitz, Karl-Marx-Stadt und dann wieder Chemnitz. Sankt Petersburg, Leningrad, wieder Sankt Petersburg. Schon diese Aufzählung macht deutlich, dass wir das Leben in den Städten nicht mehr als rein lokales oder regionales Problem begreifen dürfen. Die Großstädte sind die Zentren der globalen Wirtschaft. Zugleich rückt im Stadtdiskurs der jüngeren Zeit die Rolle der Migration in den Fokus. Weltweit sind Millionen Menschen auf grenzüberschreitender Wanderung, eine Zahl, die von den Massen der Binnenwanderer noch weit übertroffen wird. In den Entwicklungsländern schreitet die Urbanisierung so rasch voran, dass sich die Zahl der Megastädte mit mehr als fünf Millionen Einwohnern in Afrika, Asien und Lateinamerika dramatisch erhöht hat. Das tatsächliche Drama der Urbanisierung findet in den Entwicklungen in Europa kaum Anknüpfungspunkte, wenngleich die Globalisierung die für uns so gemütliche Trennung von Wohlstand und Armut und Sicherheit und Krieg bzw. Terror längst aufgehoben hat.

Deshalb kann man behaupten, dass die Städte hierzulande – all ihren Problemen zum Trotz – nach wie vor Geschöpfe ziviler Prosperität sind. Sie markieren auf je eigene Weise so etwas wie Mitte: Zwischen einem staatlichen chinesischen Hochgeschwindigkeitsurbanismus, der mit Hilfe westlicher Stararchitekten ganze Städte vom Reißbrett weg baut, auf der einen und auf der anderen Seite den megalomanen Armutswucherungen der Dritten Welt – beispielsweise in Dakar, Jakarta, Lagos, Kairo und teilweise in São Paulo. Hier stoßen Slum und Gated Community unvermittelt aufeinander. Direkt neben den Wellblechhütten der Favelas, in denen ein einfacher Wasserhahn fehlt, ragen Bauten mit Luxusappartements empor, deren Balkone Swimmingpools beherbergen.

Dennoch, oder gerade deshalb: In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass selbst ein Begriff wie Kosmopolitismus einen urbanistischen Rückbezug aufweist. Entstanden ist er in der Antike. Er beruht auf der Idee, dass der Kosmos größer ist als die Polis. Der Kosmopolit war derjenige, der auf die Welt geschaut hat und nicht nur auf die eigene Stadt. Er hat sogar die eigene Stadt auf der Basis dieses Blicks auf die Welt kritisiert. Zählt das auch heute noch zu unserer Kultur?


Die Bedeutung des öffentlichen Raums

Dass die Plätze einer Stadt ihre „lächelnden Augen“ darstellen, ist eine so eingängige wie zutreffende Metapher, die gleichwohl in der Wirklichkeit erheblich gelitten hat. Bleibt man im Bild, dann wird man nämlich konstatieren müssen, dass viele dieser Augen blind geworden sind: ohne klare räumliche Fassung, gefräst durch überbreite Straßen, von Autos entweder durchbraust oder zugeparkt, ungastlich und bar jeglicher Aufenthaltsqualität. Wer setzt sich schon gern auf den Innsbrucker Platz in Berlin, um ein Buch zu lesen? Wer möchte seine Kinder zum Spielen zum Sendlinger Tor in München schicken? Und wer mag den Kölner Neumarkt für ein frühsommerliches Sonnenbad nutzen?

Der öffentliche Raum war traditionell ein Bereich, der einer konkreten, vorbestimmten Nutzung entzogen war. Genau diese Unbestimmtheit droht in unseren Städten mehr und mehr zu verschwinden. An ihre Stelle tritt ein wohlkalkulierter Mix an Infrastrukturen, die reale oder vermeintliche Konsumbedürfnisse befriedigen, die einladend wirken und zugleich das Fortbestehen des Urbanen vortäuschen. Was in privater Bauherrschaft erstellt wird, bemüht zwar gern das Bild des öffentlichen Raums – und wird, wie viele der berühmten Passagen in Leipzig zeigen, von vielen auch unkritisch so erlebt. Gleichwohl aber dominieren bei Konzeption und Betrieb kommerzielle Interessen. Der Charakter öffentlicher Räume und die urbane Vielfalt werden durch die Wahrnehmung privaten Hausrechtes tendenziell in Frage gestellt.

Doch allem gesellschaftlichen Wandel zum Trotz bleibt der öffentliche Raum gleichsam das Rückgrat unserer Städte. Es mag sein, dass viele kein rechtes Bewusstsein davon haben – etwa, weil er den Bedürfnissen der Mittelklasse nach Eigenheim, Einkaufscenter und einem angeblich naturnahen Umfeld kaum entgegen kommt. Es ist ja keine Polemik, wenn man konstatiert, dass die meisten Deutschen auf Theater, Konzert und Qualitätskino verzichten können. Urbanes Flair genießt man zwar gern mal. Aber den Unwägbarkeiten des öffentlichen Raums – die Konfrontation mit Fremden, die Anonymität, die Unsicherheit, wie man sich verhalten soll – setzt man sich nur ungern aus. Weil das der Gesellschaft als Ganzes nicht nützt, ist Vorsicht geboten, wenn nun ausgewählte zentrale Plätze als „gute Stube“ der Stadt betrachtet und entsprechend herausgeputzt werden. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass plakative Versprechen von Öffentlichkeit einen Ort zur touristischen Sonntagsöffentlichkeit verurteilen. Was aber haben wir – als Stadtbürger – davon?


Wer macht Stadt?

Stadt macht immer der, der seinen Worten auch Taten folgen lassen kann. Stadt macht, wer baut, wer eine Fabrik oder einen Laden eröffnet. Stadt macht auch, wer ein Theater betreibt oder Widerstand gegen ein Bauwerk, eine neue Fabrik oder den überbordenden Verkehr organisiert. Stadtmachen ist insofern aufs Engste mit Macht und Raffinesse derjenigen verbunden, die Stadt nicht nur als Kulisse ihres Alltags verstehen, sondern sich im urbanen Umfeld wirtschaftlich und gesellschaftlich verwirklichen. Mit jenen, die der Stadt und der Stadtgesellschaft ihren individuellen Stempel aufdrücken wollen. Aufgabe der Planung ist und bleibt es, diese Interessen und Akteure zumindest im Ansatz zu sortieren. Die Stadt erhält ihre Glanzpunkte durch die proaktive Tat, die neue Idee, das verwegene Projekt. Die Stadt der Passiven hingegen droht in einen Dornröschenschlaf zu versinken: Der urbane Bestand wird gleichsam zum Mehltau, die Stadt leise, langsam und schwach.

Unbeschadet dessen lässt sich vielerorts wieder ein Engagement für das Urbane erkennen. Es äußert sich zumeist in einem situativen Zugang zum urbanen Surrounding: Nicht nur, dass diverse Bürgerproteste – ob nun von Altstadtfreunden in Nürnberg, Dresden oder Frankfurt formuliert, ob nun gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 oder die Bebauung des Tempelhofer Feldes in Berlin gerichtet – bevorzugt im städtischen Raum zelebriert werden. Auch die wachsende Individualisierung findet hier ein Forum, die gewandelten Interessen neu auszuhandeln. Auf mannigfache Weise eignen sich bestimmte Gruppen den Raum der Stadt an und verändern ihn, durch Flashmobs etwa, aber auch mittels Verabredung zum kollektiven Tangotanzen.

Über Jahrzehnte hinweg wurde, zumindest in Mitteleuropa, das urbane System professionalisiert und spezialisiert. Bevorzugt arbeitet man mit Plänen, die jeweils nur einzelne Aspekte – die des Verkehrs etwa, der Wirtschaftsentwicklung oder des Wohnens – isoliert behandeln und optimieren. Dieses Denken in Teilsystemen ist nun zwar durchaus im Sinne einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise. Aber es tendiert dazu, sich immer weiter auszudifferenzieren und zu verselbstständigen und das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Kein Wunder, dass das Pendel nun in die andere Richtung ausschwingt. Ob nun Urban Knitting und Zwischennutzer, ob Guerilla Gardening oder Stadtpioniere: In und mit solchen – mitunter anarchischen – Aktionen scheint sich tatsächlich eine Art des gesellschaftlichen Wandels anzukündigen: Das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung wird auf der städtischen Bühne gerade neu austariert. Dazu gehört auch die These, dass die temporäre Nutzung das Gegenteil eines Masterplans sei: Denn sie gehe vom Kontext und vom aktuellen Zustand statt von einem fernen Ziel aus, sie versuche Bestehendes zu verwenden statt alles neu zu erfinden, sie kümmere sich um die kleinen Orte und kurzen Zeiträume. Darin artikuliert sich ein alternatives Stadtplanungsverständnis: Statt die Entwicklung der Verwaltung und der Ökonomie allein zu überlassen, versuchen die Zwischennutzer ein Aneignen der Stadt zu erproben. Eine do-it-yourself-Mentalität tritt an die Stelle des bloßen Konsums von Stadtraum.

Unübersehbar wird die Produktion von urbanen Räumen heute durch flexible, dynamische Strategien beeinflusst, die weniger um die Planungen der Kommune kreisen, sondern sich in unübersichtlichen informellen Prozessen aus der Eigeninitiative von zivilgesellschaftlichen Akteuren heraus entwickeln. Diesen Prozessen ist inhärent, dass sie zunächst in einer Gegenposition zur offiziellen Stadtplanung stehen, in Leerräumen und Nischen operieren. Auch ist derzeit viel vom partizipativen co-working die Rede. Denn mit neuen Ideen für eine gemischte Stadt und der Frage, was Städtebau und Architektur alles sein könnten, ist oftmals eine andere Form von Zusammenarbeit zwischen Profis und Nutzern verbunden. Es entstehen Baugruppen, Genossenschaften und Netzwerke auf planerischer wie auf Bewohnerseite; diesbezüglich eine gewisse Prominenz erlangt haben etwa das Projekt Spreefeld in Berlin oder die Kalkbreite in Zürich.


Die Zukunft liegt auch in unserer Hand

Was ist in Deutschland aus dem Fortschritt geworden? Wo ist er geblieben, nachdem er Jahrhunderte lang Menschen beflügelt, angespornt, in mancher Verzagtheit getröstet hat? Sieht man einmal von der eher wüsten Goldgräberstimmung im Digitalen, in der Smart City ab, so scheint weithin eine Art „Mehltau der Zukunftsangst“ bestimmend, der sich über Städtebau und Urbanismus gelegt hat und jegliche Vorfreude auf alles Kommende trübt.

Fortschritt, Zukunft, Utopie? Wo man munter drauflos denken und entwerfen darf, in universitären Seminaren etwa, herrscht an solchen Reizvokabeln kein Mangel. Allerdings füllt jeder sie mit seinen Lieblingsthemen: Mal Tempo, mal Entschleunigung, heute Skyline, morgen wuselnde Urbanität. Für die einen ist der Planet nur mit Hightech zu retten, für andere nur per Subsistenz und Resilienz. Manche sind offen für alles Neue, manche kontextsicher und prinzipienfest. Aber wo, bitte schön, ist denn nun wirklich vorn?

Obgleich man vorsichtig sein sollte, was fixe Zukunftsversprechen anbelangt, so lassen sich aus möglichen und wünschbaren Zukünften dennoch Handlungsoptionen ableiten und Strategien aufzeigen. Wenn wir in Zukunft so leben wollen – welche Wege müssen wir dann heute einschlagen? Worin liegen die Anknüpfungspunkte zum urbanistischen Weiterdenken? Wie lauten die wahrscheinlichen Entwicklungsperspektiven? Was sind die wesentlichen Faktoren und Treiber, die die Stadt von übermorgen beeinflussen werden? Umgekehrt wäre jedoch auch danach zu fragen, was die heutigen Konsequenzen der zukünftigen Entwicklungen sind. Was können und was müssen wir unternehmen, um eine nachhaltige Stadtentwicklung zu initiieren? Fraglos spielen dabei das je aktuelle politische Umfeld, Aspekte von Governance, die Eigenlogiken von sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung, die Dynamik des Immobiliensektors, die (Re-)Strukturierung von Stadt- und Wohnraum, die Veränderungen in Mobilitätsverhalten und -angeboten oder den entsprechenden Infrastrukturen eine Rolle. Doch kann aus sektoralen und wie auch immer abgesicherten Zukunftserwartungen ein urbanes Gesamtbild entstehen? Oder muss „Die Stadt von übermorgen“ ein Patchwork wohlfeiler Vermutungen bleiben?

Es wäre vermessen, hier ein Bild mit klarer Kontur skizzieren zu wollen. Ohnehin dient uns Zukunft weniger als Brennglas, sondern vielmehr als Kaleidoskop. Wir möchten uns nicht in Mutmaßungen darüber verlieren, was 2045 oder 2079 sein wird. Stattdessen versuchen wir eine Annäherung anhand von drei Gegensatzpaaren. Erstens: Extreme Beschleunigung versus Ruhepol. Zweitens: Masterplan versus Einzelprojekt. Und drittens: Optimismus versus Pessimismus. Jeder ist dann selbst gefordert, sich innerhalb dieses Koordinatenkreuzes mit Wahrscheinlichkeiten, Veränderungsszenarien wie auch dem möglichen Entwicklungspotential des Urbanen auseinanderzusetzen. Grundsätzlich aber braucht es dreierlei: nämlich erstens Offenheit – allen Änderungen gegenüber, weil wir nur so nicht untergehen werden. Zweitens die Courage, den Menschen die Wahrheit über die krassen Veränderungen zu sagen – um im nächsten Schritt Vertrauen und Gemeinschaft als Grundkapital für die Anpassung aufzubauen. Und drittens muss jeder eine gewisse Verantwortung vor Ort übernehmen. Weil die wichtigsten Aufgaben nur so lösbar sind.
Doch alle Veränderungen, Probleme und Unwägbarkeiten – davon sind wir überzeugt – ändern nichts daran, dass die Stadt Zukunft hat. Für jeden Einzelnen gilt dabei, was der Schriftsteller Martin Walser einmal formulierte: „Ihm war die ganze Stadt als eine riesige Schmiede erschienen, in der alles der Bearbeitung unterlag, in der es keinen Unterschied mehr gab zwischen Werkstück und Schmied, alles war zugleich Werkstück und Schmied, jeder und jedes wurde bearbeitet und bearbeitete selbst, ein Ende dieses Prozesses war nicht vorgesehen.“

Info

Der Beitrag basiert auf dem Buch von Peter Jakubowski und Robert Kaltenbrunner: Die Stadt der Zukunft. Wie wir leben wollen, Aufbau Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-351-03743-7.

Eine ausführliche Rezension ist beim Deutschlandfunk nachzulesen unter www.deutschland funk.de/robert-kaltenbrunner-und-peter-jakubowski-die-stadt-der.1310.de.html?dram:article_id=441079.