Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde – Überlegungen zu den gegengöttlichen Mächten im Alten und Neuen Testament

Von Matthias Hülsmann

 

Der Drachenkampf

Wo kommt eigentlich das Wasser her? Die Schöpfungserzählung in Gen 1 gibt keine eindeutige Antwort. Gott erschafft am ersten Schöpfungstag das Licht. Anschließend trennt er es von der Finsternis. Aber die Finsternis war schon vorher da. Am zweiten Schöpfungstag erschafft Gott das Firmament. Durch diese Himmelskuppel trennt er das Wasser unter dem Himmel von dem Wasser über dem Himmel. Aber das Wasser war schon vorher da. Erst am dritten Tag trennt Gott das Wasser unter dem Himmel von dem Trockenen. Gott setzt dem Wasser feste Grenzen und beschränkt es auf besondere Orte. Auf diese Weise wird das Wasser zum Meer und das Trockene zur Erde.

Am fünften Schöpfungstag erschafft Gott den Fischbestand im Meer. Als erstes werden die Seeungeheuer und erst danach alle anderen Arten von Wassertieren genannt. Diese tanninim – so die hebräische Bezeichnung – übersetzt Luther etwas verharmlosend mit „Wale“.

Ein Blick in Jes 51,9f. zeigt, was mit tanninim eigentlich gemeint ist: „Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des Herrn! Wach auf, wie vor alters vor Anbeginn der Welt! Warst du es nicht, der Rahab zerhauen und den Drachen durchbohrt hat? Warst du es nicht, der das Meer austrocknete, die Wasser der großen Tiefe, der den Grund des Meeres zum Wege machte, dass die Erlösten hindurchgingen?“

Diese Verse reden davon, dass Gott vor Anbeginn der Welt den Drachen Rahab getötet und zerhauen hat. Dass hier im Alten Testament mythische Seeungeheuer und Drachen auftauchen, ist weniger verwunderlich, wenn man bedenkt, dass das Volk Israel spätestens in der babylonischen Gefangenschaft die dortigen Schöpfungsmythen kennenlernte.

In dem babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch wird erzählt, dass das süße Urmeer Apsu und das salzige Urmeer Tiamat ihre Wasser miteinander vermischen und auf diese Weise der Gott Ea geschaffen wird. Ea tötete seinen Vater Apsu und zeugte seinen Sohn Marduk.

Tiamat wollte ihren getöteten Gatten Apsu rächen. Sie verwandelte sich in einen Drachen, um Ea zu töten. Da befahl Ea seinem Sohn Marduk, Tiamat zu töten. Marduk tötete Tiamat mit einem Pfeil, der durch den Panzer in ihr Herz drang. Anschließend zerschlug er ihren toten Körper mit der Keule und zerteilte ihn. Aus der einen Hälfte schuf er die Erde. Die andere Hälfte des toten Körpers befestigte er oben als Himmel und ließ bei Nacht den Mondgott leuchten und bei Tag den Sonnengott.

Wenn man diese Erzählung mit der biblischen Schöpfungserzählung in Gen 1 vergleicht, werden die theologischen Unterschiede deutlich. Während in der babylonischen Fassung von einem Mondgott und einem Sonnengott die Rede ist, werden in der biblischen Fassung Sonne, Mond und Sterne wie Lampen am Firmament befestigt. Das geschieht ausdrücklich erst am vierten Schöpfungstag, also drei Tage, nachdem Gott das Licht geschaffen hat. Auf diese Weise wollen die jüdischen Gelehrten deutlich machen, dass an Sonne, Mond und Sternen ganz und gar nichts Göttliches ist.

Vergleichbares gilt auch für das Wasser. In der babylonischen Erzählung ist von Süßwasser- und Salzwasserozeanen die Rede, die göttliche Eigenschaften haben und deren Gestalt zwischen formlosem Urmeer und mythischen Drachen oder Seeschlangen oszilliert.

In der biblischen Fassung ist allein Gott der Handelnde. Das Wasser wird zum Objekt, dem der Schöpfer seinen festen Ort über und unter der Himmelkuppel zuweist und dem er klare Grenzen setzt. Aus dem babylonischen Götterkampf macht die biblische Schöpfungserzählung das handwerkliche Meisterstück eines Landschaftsarchitekten. Dem Wasser haftet nichts Göttliches mehr an. Es ist kein Gegengott mehr, der dem Schöpfer gefährlich werden könnte.

Wenn man dieses Motiv in der Bibel weiterverfolgt, stellt man fest, dass es in der Sintflut-Geschichte in Gen 7,11 heißt: „An diesem Tag brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf und taten sich die Fenster des Himmels auf.“ Bei der Sintflut handelt sich also nicht um ein meteorologisches Tiefdruckgebiet mit überdurchschnittlicher Niederschlagsmenge. Wenn die Luken des Himmels geöffnet werden, dann schießt das Chaoswasser durch die Himmelskuppel auf die Erde und verlässt den ihm vom Schöpfer zugewiesenen Ort. Darüber hinaus tun sich alle Brunnen der Tiefe auf und überschreiten die ihnen vom Schöpfer gesetzte Grenze. Am dritten Schöpfungstag hatte Gott Erde und Meer in ihre Schranken gewiesen und geordnet. Diese Ordnung versinkt bei der Sintflut wieder im Chaos: „Die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden. Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb.“ (Gen 7,19.22)

Das Chaoswasser behält seine zerstörerische Macht. Aber Gott ist es, der befiehlt und dem das Chaoswasser gehorchen muss.
 

Das Erdbeben

Auf diesem Hintergrund bekommt die Sturmstillung Jesu eine wichtige theologische Bedeutung.

Matthäus erzählt in Mt 8,23ff., dass Jesus in ein Boot steigt und seine Jünger ihm in das Boot nachfolgen. „Da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See, so dass auch das Boot von den Wellen zugedeckt wurde. Er aber schlief.“

Das ist kein Zufall. Kaum betritt Jesus das Boot, schon bricht ein Orkan los. Während Markus und Lukas auf Griechisch von einem lailaps sprechen, also von einem gewaltigen Sturm, verwendet Matthäus aus theologischen Gründen das Wort seismos und verwandelt damit den Sturm in ein Erdbeben. Mit dieser Wortwahl macht Matthäus bereits an dieser Stelle in seinem Evangelium deutlich, dass Jesus die endgültige Zeitenwende heraufführt. Im Zusammenhang mit der Kreuzigung schreibt Matthäus in Mt 27,50ff., dass Jesus am Kreuz laut schrie, verschied und der Vorhang im Tempel in zwei Stücke zerriss. „Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Im Zusammenhang mit der Auferstehung schreibt Matthäus in Mt 28,2, dass zwei Frauen nach dem Grab Jesu sehen wollten. „Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben.“

Weder bei Markus noch bei Lukas ist an diesen Stellen von einem Erdbeben die Rede. Matthäus hat also ganz bewusst den Begriff seismos verwendet, um das letzte endzeitliche Aufbäumen der widergöttlichen Chaosmächte gegen den Herrschaftsanspruch des Sohnes Gottes deutlich zu machen.

Matthäus formuliert mit der Sturmstillung also keine Angst- und Trostgeschichte, die zeigen soll, dass man in der Nähe Jesu keine Angst zu haben braucht. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wer Jesus nachfolgt und sich in seine Nähe begibt, der bekommt es erst richtig mit der Angst zu tun, denn umgehend versuchen die gegengöttlichen Chaosmächte in Gestalt des Orkans auf dem See Genezareth den Sohn Gottes zu vernichten. Nur so ist es zu erklären, dass laut Matthäus Jesus schläft, obwohl das Boot von den Wellen bedeckt wurde. Jesus wird also nicht durch die hereinschwappenden Wellen geweckt, sondern durch seine vor Todesangst verzweifelten Jünger. Jesus kann furchtlos schlafen, denn er weiß, dass das Böse keine Macht über ihn hat. Als Sohn Gottes ist er in der Hand seines allmächtigen Vaters geborgen und hat an dessen Allmacht Anteil. Er stillt den Sturm, indem er Wind und Meer mit Worten bedroht. Und die Chaosmächte gehorchen ihm.

Jesus handelt hier in der Vollmacht seines allmächtigen Vaters. Das wird zum einen dadurch deutlich, dass Matthäus – anders als Markus und Lukas – den Hilferuf der Jünger mit Kyrie beginnen lässt. Kyrie ist die Bezeichnung für Jahwe in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments.

Zum anderen vollbringt Jesus hier das, was im Alten Testament von Gott ausgesagt wird: „Du herrschest über das ungestüme Meer, du stillest seine Wellen, wenn sie sich erheben.“ (Ps 89,10)
 

Eine neue Erde ohne Meer

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.

Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst (Offb 21,1.4-6).

„Und das Meer ist nicht mehr.” – Welch ein Satz! Poetisch und rätselhaft zugleich. Aber was hat solch eine Aussage in der Bibel verloren? Soll das etwa bedeuten, es gibt am Ende keine Kreuzfahrten mehr und keine Krabbenkutter? Wohl kaum.

Was der Seher Johannes im letzten Buch der Bibel in seiner sogenannten Offenbarung über das Ende der Zeiten schreibt, ist von höchster theologischer Bedeutung. Wenn es kein Meer mehr gibt, dann gibt es auch keine gegengöttliche Macht mehr. Das Böse ist nicht nur besiegt, es ist vollkommen ausgelöscht. Und mit ihm sind auch der Tod und das Leid verschwunden.

Der erste Himmel und die erste Erde bildeten eine dualistische Welt, die von Polaritäten geprägt war: Gut und Böse, Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit.

Wenn Christus am Ende der Zeiten auf dem Thron sitzt und alles neu macht, dann werden der neue Himmel und die neue Erde nicht mehr solchen Polaritäten unterworfen sein. Dann wird es nur noch ewiges Leben geben, weil es keinen Tod mehr gibt.

Wasser wird auch dann noch fließen, aber es entspringt der Quelle des lebendigen Wassers und hat ausschließlich lebensentfaltenden, heilenden Charakter.

Aber das Meer ist nicht mehr.