Jugendliche und Zukunft
Man könnte den Eindruck bekommen, dass Jugendliche sich heute schwer tun, eigene Visionen zu entwickeln.1 Gespräche mit mehr als 200 jungen Menschen zwischen 15 und 26 Jahren lassen Gründe erahnen, warum junge Menschen kaum über allgemeine Vorstellungen von heiler (Um)welt hinaus zu träumen wagen. Ihre Visionen erschöpfen sich darin, davon zu träumen, dass sie einst mit einer heilen Familie in einer sauberen Umwelt finanziell abgesichert leben. Selbst wenn sie Erfahrungen von Ausgrenzung und Benachteiligung erleben, wagen sie sich mit ihren Visionen nicht sehr weit vor. Junge LGBQTs2 wünschen sich schlicht eine Welt, in der sie nicht mehr auffallen. Hauptschulabbrecher können sich nicht einmal vorstellen, einmal eine feste Anstellung zu haben oder sich die Zukunft anderweitig positiv auszumalen, obwohl das ja durchaus realistisch wäre und noch längst kein unerfüllbarer Traum. Ist die Realität so herausfordernd, dass die Energie für eine größere Vision nicht reicht?
Es sind aber – und waren es schon immer – gerade die Geschichten von der Zukunft, die Visionen also, die dazu führen, dass Zukunft gestaltet werden kann und nicht nur passiert.
Im Folgenden geht es deshalb darum, wie Jugendliche motiviert werden können, Visionen für die Zukunft zu entwickeln und zu erzählen.
Geschichten vom Ende her erzählen
Was tun? „Es ist dies die Frage nach einer konkreten Handlungsanweisung, nach einem Rezept. Was tun gegen den Populismus, gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Kapitalisierung aller Lebensbereiche?“3 Am Ende ihrer Analyse der Pluralisierung wirft Isolde Charim diese Fragen auf: Was tun? Dahinter lässt sich die Sehnsucht nach alternativen Zukunftsentwürfen vermuten. Gesucht sind „[a]lternative Gesellschaftskonzepte. Eine neue große Erzählung. Ein neues Narrativ.“4
Nun wäre es für Jugendliche eine Überforderung, wenn sie dieses neue Narrativ entwerfen müssten. Einer Idee von Harald Welzer folgend, können Jugendliche sich aber darin einüben, positive Narrative zu entwickeln. Welzer geht davon aus, dass wir einen „Verlust an Zukunft“5 erleben. „Glatte Geschichten“6 über die expansive Moderne haben ausgedient. Welzer schlägt daher vor, andere Geschichten zu sammeln und zu erfinden, die attraktiver sind, weil sie „von der Zukunft her geschrieben“7 werden. Deshalb firmiert die von ihm mitgegründete Stiftung Zukunftsfähigkeit auch unter dem Namen futurzwei8. In dieser Zeitform stehen Geschichten, die in der Zukunft schon abgeschlossen sind. Durch diese Erzählformen wird vermieden, dass Zukunft immer nur als Utopie, also als Nicht-Ort in den Blick gerät. Statt „man müsste mal“ haben diese Geschichten die Form „man hat schon mal“.
Ähnlich beschreibt Masha Gessen in ihrer Dankesrede zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung einen „Arbeitsauftrag für Schriftsteller, Aktivisten und Politiker. Können wir Geschichten über die Zukunft erzählen? Können wir sie vorstellbar machen? Können wir uns ansprechende Versionen davon erträumen? Mit anderen Worten, können wir sie so gestalten, dass die Zukunft die Zukunft und nicht Geschichte ist?“9
Welzer sammelt in seinen Büchern und auf der Website der Stiftung solche Geschichten: Berichte von erfolgreichen, aber auch gescheiterten Versuchen, die Zukunft zu gestalten. Und Ideen und erfundene Geschichten. Wichtig ist bei letzteren, dass sie zum einen niemals dystopisch sind und zum anderen immer eine realistische Zukunft beschreiben. Einen Begriff von Edmund Husserl aufnehmend, nennt Welzer solche Geschichten „Vorerinnerungen: Das sind mentale Vorgriffe auf etwas erst in der Zukunft Existierendes.“10 So machen die Geschichten Lust auf Zukunft, gerade weil jedes „ich könnte“ zu einem „ich habe schon“ gewandelt wird.
Eine solche Geschichte erzählt beispielsweise unter dem Titel „Lebenskunst, schon bald“11 davon, wie in Zukunft die Anschaffung einer Schlagbohrmaschine vermieden und so Ressourcen gespart werden können: Ein Onlineversandhaus bietet solche Geräte nicht nur an, sondern es schlägt je nach prognostiziertem Gebrauch auch vor, ein entsprechendes Gerät zu leihen. Ein Leihgeber in der Nachbarschaft des Kunden wird vermittelt. Das Versandhaus berechnet eine geringe Vermittlungsgebühr. Und ganz nebenbei lernen sich Kunde und Leihgeber persönlich kennen und weiten so ihr lokales Netzwerk aus.
Solche Geschichten weisen Bezüge auf zur alttestamentlichen Heilsprophetie. So spricht z. B. Deuterojesaja mitten in die noch existierende Exilszeit hinein die Worte: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“.12 Und auch die durch den Siegeszug des Kyrus sich anbahnenden politischen Umwälzungen, die dem Volk Israel zum Heil dienten, werden bei Deuterojesaja präsentisch vorweggenommen.13 Ohnehin ist man nahe am hebräischen Denken, wenn man die Zukunft als präsentisch bzw. als schon abgeschlossen beschreibt, da es im Hebräischen keine Zeitformen gibt. Alle Zeiten schwingen so in den Texten mit: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“14 In diesem Satz schwingt beispielsweise mit, dass „es“ auch gut ist und sein wird.
Ebenso umschließt der Gottesname Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Das Tetragramm JHWH leitet sich vermutlich von einem Verb her, das eine Dynamik beschreibt und mit „sein, werden, wirksam sein“ übersetzt werden kann. Mit Gottes Selbstoffenbarung „Ich bin der Ich-werde-sein“15 deutet sich an, dass im Namen Gottes selbst alle Zeitformen enthalten sind. Gott ist, der er war und der er sein wird und der er auch gewesen sein wird.16
Von hier aus lässt sich auch leicht anknüpfen an Texte aus dem Neuen Testament, die eine präsentische Eschatologie andeuten.
Eine konkrete Aufgabe
Jugendliche sollen selbst eine Geschichte aus der Zukunftsperspektive heraus erzählen. Um sie über die innere Hemmschwelle zu bringen, bloße Zukunftsszenarien zu entwickeln, die lediglich eine Fortschreibung des heute Vorfindlichen sind, sei hier vorgeschlagen, eine biblische Vision einer neuen Welt als Ausgangspunkt zu nehmen. Mit Gottes Hilfe mag dann doch noch etwas mehr möglich sein, als wenn man nur das Menschenmögliche denkt: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“17
Die durch den Bibeltext angedeutete Möglichkeit, dass Gott seine Hand im Spiel haben könnte, auch wenn eine neue Welt nicht einfach vom Himmel fallen mag, wie der Seher Johannes es ja eigentlich erhofft, eröffnet es den Jugendlichen, auch mutige Visionen zu entwerfen, die zunächst durchaus unrealistisch erscheinen mögen.
Erst im zweiten Schritt werden sie dann angehalten, diese Visionen auf realistische Machbarkeit hin keinesfalls zu überprüfen, sondern vielmehr abzuklopfen. Denn sie werden merken, dass die erträumte Zukunft erreichbar werden kann.
Der Bezug zum Bibeltext fungiert dann ähnlich wie die aus der Systemischen Seelsorge bekannte sogenannte Gute-Fee-Frage:
Stellen Sie sich vor, in der Nacht ist eine gute Fee gekommen und hat Ihr Problem gelöst. Woran merken Sie das am nächsten Morgen als erstes? Was ist jetzt anders?
Auch diese Frage hilft dabei, eine andere Zukunft zu entdecken. Dadurch nehmen Menschen meist wahr, dass solch eine Zukunft eben nicht nur vorstellbar ist, sondern dass sie diese auch realisieren können – und zwar ganz ohne gute Fee.
Als Vorbereitung sammeln die Jugendlichen zunächst, was sie an ihrer Umwelt und in der Gesellschaft, die sie erleben, stört.
Dann18 spielt die Lehrkraft einen Text ein, der eine andere Welt beschreibt. Er wird als Vision eingeführt, die ein Mensch schon vor langer Zeit aufgeschrieben hat:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“19
Die Jugendlichen diskutieren, ob dieser Text auch für Probleme oder Störungen aus ihrer Sammlung Hilfe oder Trost sein könnte.
Nun bekommen die Jugendlichen folgende Aufgabe:
Stellt euch vor, es ist eingetreten, was Johannes in seiner Vision gesehen hat. Gott wohnt bei den Menschen und sie sind Gottes Völker geworden. Nur ist dies nicht vom Himmel gefallen, sondern es hat sich langsam entwickelt.
Erzählt von dieser Welt und wie sie entstanden ist.
Im Folgenden wird darauf geachtet, dass die Jugendlichen diese neue Welt einerseits ausgeschmückt beschreiben. Andererseits sollen sie aber auch aufzeigen, wie es zu dieser gekommen ist.
Wichtig ist: Auch, wenn Gott hier vielleicht seine Hand im Spiel hatte, sollen alle Geschichten so erzählt sein, dass der Mensch agiert. Wenn es also z. B. in den Visionen der Schüler*innen keine Umweltverschmutzung mehr gibt, müssen sie erzählen, wie es dazu kam und was die Menschen dazu beigetragen haben. Bei allem Anspruch auf Machbarkeit sollen die Geschichten aber ausdrücklich visionär sein. Tagträume sind erwünscht – nicht zuletzt, weil das einen optimistischen Blick in die Zukunft provoziert: „Fast niemand, der tagträumt, träumt dystopisch.“20
Eine Beispielgeschichte findet sich bei Welzer21. Er beschreibt dort die Entwicklung einer autofreien Stadt in einem realistischen Szenario.
Methodische Anmerkungen
Nicht nur für heterogene Gruppen mit unterschiedlichen Fähigkeiten bietet es sich an, die Aufgabe letztlich nicht allein in Textform zu lösen. Zukunft kann hier auch anders medial gestaltet werden, z. B. durch Bilder, Videos, Musik, Installationen, Lernstationen oder Theaterszenen. Dabei ist immer im Blick zu behalten, dass die Vorstellungen von einer zukünftigen Welt im Präsens erzählt werden; die Beschreibungen, die erzählen, wie die Welt an diesen zukünftigen Punkt gelangt ist, soll aus der Sicht der Zukunft und damit in der Vergangenheitsform erzählt werden.
Zusätzlich sei angeregt, dass die Jugendlichen PaperClips zu ihren Geschichten erzählen, kurze Erklärvideos also, für die neben Text auch Symbole, Figuren und Zeichnungen benötigt werden, ebenso Musik und ein gutes Storyboard.22 Dazu werden einzelne Geschichten der Jugendlichen ausgewählt und jeweils von einem Team bearbeitet. Schnell arbeitende Teams können sich noch eine zweite Erzählung vornehmen.
Die Erstellung eines Produktes bietet sich nicht nur deshalb an, weil die Jugendlichen ihre verschiedenen Fähigkeiten dabei einbringen und so gemeinsam zum Erfolg beitragen können. Hinzu kommt, dass hier die angeregte Produktivkraft23 sogleich eine erste Umsetzung erfährt, Jugendliche also nicht in einer passiven Haltung des (Nach-)Denkens verbleiben.
Wenn alle Geschichten fertig sind, gibt es eine Präsentation. Zu überlegen ist noch, ob man die Idee Welzers der Heterotopien hier noch etwas weiterspinnt: Kreative Heterotopien sind Verbindungen von vielen Geschichten aus vielen Orten, die aufeinander aufbauen, sich ergänzen, einander als Testfeld dienen und vieles mehr.24 Die Jugendlichen können prüfen, ob ihre Geschichten sich zu einer Heterotopie verbinden lassen.
Anmerkungen:
Literatur
Charim, Isolde: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, Wien 2018
Gessen, Masha: Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor, Berlin 2018
Gessen, Masha: Dankesrede zur Verleihung des Leipziger Buchpreises für Europäische Verständigung https://www.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.4_Dez4_Kultur/41_Kulturamt/Literatur_und_Buchkunst/LBEV/Dankesrede-Masha-Gessen.pdf
Welzer, Harald: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. 2. Auflage Frankfurt a.M. 2019
Welzer, Harald: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a.M. 2013
- Vgl. hier und im Folgenden: Welzer, Alles könnte anders sein, 44ff.
- Lesbian, Gay, Bisexual, Queers, Transexual / Transgender und Intersexual.
- Charim, Ich und die Anderen, 215.
- Ebd.
- Welzer, Selbst denken, 14.
- A.a.O., 284.
- Ebd.
- Siehe www.futurzwei.org
- Die vollständige Dankesrede von Masha Gessen ist abrufbar unter: https://www.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.4_Dez4_Kultur/41_Kulturamt/Literatur_und_Buchkunst/LBEV/Dankesrede-Masha-Gessen.pdf
- Welzer, Selbst denken, 136.
- A.a.O., 150ff. Diese Geschichte verdankt sich einer Anregung durch die Agentur Scholz & Volkmer (www.s-v.de).
- Jesaja 43,1b, Luther 2017
- Vgl. z. B. Jesaja 45.
- Genesis 1,31.
- Vgl. 2. Mose 3,14.
- Vgl. Offenbarung 1,8: Ich bin das A und das O, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige (Luther 2017).
- Lukas 18,27, Luther 2017.
- Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass der Bibeltext nicht am Anfang der Einheit steht, sondern die Jugendlichen erst einmal einen eigenen Zugang finden.
- Offenbarung 21,1+3-4 (gekürzt), Luther 2017.
- Welzer, Alles könnte anders sein, 59.
- Vgl. a.a.O., 189ff.
- Wie man solche PaperClips leicht erstellen kann, wird auf der Seite Konfi-Kaktus gezeigt: https://blogs.rpi-virtuell.de/praxiskonfirmandenarbeit/2018/05/16/die-simple-show-fuer-konfis
- Vgl. Welzer, Es könnte alles anders sein, 59.
- Vgl. a.a.O., 188ff.