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Religiöse Sozialisation Jugendlicher im Umgang mit KI - Medien- und KI-Sozialisation

von Jens Palkowitsch-Kühl

Künstliche Intelligenz ist in Lebensräumen der Jugendlichen angekommen

Das Thema Künstliche Intelligenz, insbesondere Generative KI, hat seit der Einführung von ChatGPT im Herbst 2022 erheblich an Bedeutung gewonnen. Expert*innen sprechen von der dritten Welle der Künstlichen Intelligenz, bei der KI menschenähnliche Kommunikations- und Denkfähigkeiten erwirbt. Derartige KI-Systeme werden aktuell in zahlreiche Produkte wie etwa interaktive Lernbegleiter für Kinder integriert (Abb. 1).

Als Ergebnis einer Online-Befragung 2024 zur Rolle von KI im Alltag von Jugendlichen stellt das BML dar, dass diese vor allem mit Alexa oder Siri beim Musikhören mit KI in Berührung kommen, auch Textgenerierungsprogramme wie ChatGPT werden intensiv genutzt.1

Die JIM-Studie aus dem Jahr 2024 belegt diesen Trend; laut ihr werden KI-Anwendungen wie ChatGPT von 62 Prozent der Jugendlichen genutzt, vor allem für Schule, Spaß und Informationssuche.2 Die BLM-Studie zeigt dabei einen Unterschied in der Nutzung in Abhängigkeit des Bildungshintergrunds: demnach nutzen Jugendliche mit höherer Bildung KI-Anwendungen vermehrt im schulischen Kontext, Jugendliche mit niedrigerer Bildung eher im Freizeitkontext.3 Die Nutzung von und die Begegnung mit KI findet auch in anderen Bereichen der Lebenswelt statt: in den Social Media und anderen Kommunikationskanälen wie Instant Messaging oder spezialisierten Chat-Seiten.

AI Companion: eine virtuelle Begleiterin

Im Zuge der KI-Revolution zeichnet sich ein Trend zu so genannten Companion-Ansätzen ab. Textgenerierende und sprachgesteuerte KI-Systeme sind nicht irgendeine Form der Assistenz, sondern eine persönliche Assistenz, die sich an die Fähigkeiten, Vorlieben, Anforderungen sowie aktuellen Bedürfnisse der Nutzer*innen anpasst und auch den emotionalen Zustand und die Situation der einzelnen Nutzer*innen berücksichtigt. Jugendliche können bereits über Plattformen wie Character.AI4, Replika5, Kindroid6 und Snapchats My AI lebensechte Konversationen mit unterschiedlichsten Personas führen: Der Zen-Meister unterstützt beim Durchatmen, DJ-Next beim Auffinden neuer Musik und Are-you-feeling-okay (Abb. 2) kümmert sich um den Seelenfrieden. Eine Unterhaltung ist nicht nur textbasiert, sondern auch mithilfe von Sprache – auf beiden Seiten – möglich. Das Beste: Sie bieten eine ständige Verfügbarkeit.

Öffentliche KI-Influencer & versteckte Algorithmen

Die Anzahl der KI-Influencer, d. h. virtueller Personen in Sozialen Netzwerken, nimmt kontinuierlich zu. Sie präsentieren ein Leben, das sie nicht wirklich haben und veröffentlichen Bilder von sich und Orten, an denen sie nicht selbst waren noch, da sie  als reale Person physisch nicht existieren. Nichts desto weniger zeigen sie Gefühle, Haltungen und bewerben Unternehmen, wie beispielsweise @lilmiquela (Abb. 3).

In den bekannten Sozialen Netzwerken sind sie präsent und werden in der Regel als AI gekennzeichnet. Die angeführten Beispiele veranschaulichen, dass Künstliche Intelligenz in der Lebenswelt der Jugendkultur verankert ist und eine neue Form der interaktiven Kommunikation und der damit einhergehenden Adaption aufzeigt. Die Algorithmen hingegen, die die Auswahl der Inhalte und Personen, die den Nutzerinnen und Nutzern angezeigt werden, bestimmen, sind weniger transparent und können sich subtil auf diese auswirken.

Maschinen sind durch KI sprachfähiger, dialogfähiger und anpassungsfähiger geworden, sodass wir nun einem Gegenüber begegnen, das sich mit uns austauscht und diese Begegnung hat Prägekraft. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung von (Liebes-)Beziehungen mit Chatbots zu beobachten, die sich auf Einstellungen und Verhaltensweisen in der physischen Welt auswirken können. Diese Entwicklung kann dazu führen, dass Chatbots als Peer-Ersatz die Funktion der Sozialisation übernehmen.

Religiöse Mediensozialisation: eine Leerstelle mit Ausblick

„Religiöse Sozialisation bezeichnet entsprechend die Entwicklung des gläubigen Menschen in Beziehung zu und Auseinandersetzung mit gesellschaftlich und durch religiöse Institutionen vermittelten symbolischen und praktizierten Überzeugungssystemen“7, so Riegel. Bei der religiösen Mediensozialisation wird die Hypothese aufgestellt, „dass die religiösen Vorstellungen und Einstellungen von Menschen heute von den Medien mit beeinflusst werden.“8 Medien und Religion werden dabei – einer gängigen Unterscheidung folgend – den tertiären Sozialisationsinstanzen zugeordnet, die neben den primären (Familie) und sekundären (Bildungsinstitutionen und Peers) Sozialisationsinstanzen auftreten.9 Nord argumentiert, dass digitale Medien nicht in Konkurrenz zur Familie oder den Peers stehen, sondern „sie eröffnen Kontaktmöglichkeiten und sichern die Kommunikation mit diesen Personengruppen ab“.10 Sie kommt zu dem Schluss, dass sich durch Digitalisierungsprozesse eine Verflechtung der unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen verstärkt, wodurch Korrelationen entstehen. Medien und Religion sind nach ihr nicht mehr als klassische Sender, sondern gerade angesichts der digitalen Transformationsprozesse als kommunikative Interaktionssysteme zu verstehen.11 

Die Forschungslandschaft im Bereich religiöser Mediensozialisation ist überschaubar.12 Es liegen nur vereinzelte Untersuchungen in diesem Bereich vor, darunter Pirners Forschungsprojekt aus dem Jahr 2004 zur religiösen Mediensozialisation. In diesem Projekt wurde ein Zusammenhang zwischen Fernsehpräferenzen und religiösen Einstellungen aus der vorliegenden Erhebung empirisch aufgezeigt, jedoch zugleich eingeschränkt: „Es ist nicht nachgewiesen, dass die religiösen Einstellungen auf die ‚Wirkung‘ der Fernsehsendungen zurückzuführen sind; es kann auch sein, dass Jugendliche mit bestimmten religiösen Einstellungen bestimmte Fernsehgenres präferieren.“13 Vereinzelte Medienwirkungsforschung stößt an seine Grenzen. Nord postuliert u. a. die Erforschung religiöser Sozialisation unter Zuhilfenahme eines Meta-Theoriekonzepts, wobei sie den Ansatz der Mediatisierung als vielversprechend erachtet, fokussiert er doch die Wechselwirkung von medienkommunikativem und soziokulturellem Wandel.14

Aus den dargelegten Überlegungen lassen sich Fragehorizonte ableiten, welche die Verortung Jugendlicher in mediatisierten Welten eruieren: „(…) nach dem Selbst (Wer bin ich?) angesichts vielfältiger Netzidentitäten (…), nach der eigenen Position in der Gemeinschaft (Wo gehöre ich hin?) angesichts einer sich immer mehr ausdifferenzierten Gesellschaft, sowie (…) nach der Vertrauenswürdigkeit (Wem kann ich glauben?) angesichts der vielen Kanäle und Akteure in digitalen Welten“.15

Eine weitere und breitere Forschung ist anlässlich einer religiösen Sozialisation in selbstbestimmten Umfeldern nach Riegel notwendig:

Insbesondere KI bringt eine neue Qualität in diese selbstbestimmten Umfelder, in denen sich Jugendliche bewegen, da hier eine wechselseitige Kommunikation simuliert wird, neue digitale Artefakte generiert werden und persönliche Daten verarbeitet werden, die Einfluss auf die Wahrnehmung, Entscheidungen und sozialen Interaktionen der Jugendlichen nehmen können.

Fake News durch künstlich erzeugte digitale Medien

Nothelle beschrieb bereits 2013, dass sich im Zuge der Digitalisierung „Umstände und Akteure“16 im Medienalltag verändern. In Bezug auf den Journalismus stellt sie fest, dass „[d]er Leser, Zuschauer, die Hörerin und die Userin […] nicht mehr unbedingt auf Journalisten angewiesen [sind].“17 Informationen seien frei zugänglich, und die Kunst bestehe darin, das Richtige zu finden. Insbesondere die Täuschung und Fälschung seien dabei Konstanten, „die wir aus der klassischen Welt kennen, die aber in den digitalen Medien eine völlig neue Qualität bekommen“ .18

In der jetzigen Zeit ist dieses Phänomen durch die fortschreitenden technologischen Möglichkeiten verstärkt wahrzunehmen. Durch Generative KI können Medienformate beliebig erstellt, verändert und verteilt werden. Dabei spielt es keine Rolle mehr, in welchem Format die Ursprungsquelle vorliegt: aus Text wird ein Song, aus Bildern Text und aus einem Podcast ein Video. In auf Messengerdiensten in privaten Gruppen geteilten Videos werden dem Bundeskanzler Wörter in den Mund gelegt (sog. Voice Cloning). Derartige Medien werden auch als Fake News bezeichnet, da sie bewusst falsche bzw. irreführende Informationen darstellen. Durch den technologischen Fortschritt der Künstlichen Intelligenz ermöglicht, können Medieninhalte täuschend echt erstellt werden: Deepfakes. Erste Produkte sind bereits auf dem Markt, welche die Erstellung digitaler Zwillinge anbieten, sogar bald als AI-Ganzkörperavatar.19

Fake Religion durch künstlich erzeugte digitale Medien?

Ob ein KI-gestützter Jesus, der einem die Beichte abnimmt 20, das Gespräch mit einem Luther-Avatar führen21 oder AI Jesus auf twitch22 eine Frage stellen: Religiöse Führungspersonen kommen in den Dialog mit uns. Doch welche (Glaubens-)Inhalte vermitteln sie? Greifen Filter der – und wenn ja welcher – Religionsgemeinschaften?

Campbell stellt in ihrer Forschung zur digital religion unter anderem den Aspekt der Autorität ins Zentrum, indem sie nach der Hoheit über religiöse Inhalte angesichts der digitalen Transformation fragt.23 Mittels Deepfake und damit verbunden Fakenews können Fehl- und Desinformationen entstehen, sowie auch KI-Chatbots und Avatare, die spezifische religiöse Sichtweisen wiedergeben24, wobei die Frage immer sein sollte, wessen Sicht das ist. Wie dargestellt können Fehl- und Desinformationen entstehen und KI-Chatbots und Avatare, die spezifische religiöse Sichtweisen wiedergeben, können von jedem einfach erstellt werden.

Religionspädagogische Impulse

KI und Algorithmen sind im Alltag Jugendlicher präsent. „Ihnen fehlt es aber an Wissen über die Funktionsweise von Algorithmen – auch weil Sozialisationsinstanzen einer Vermittlungsfunktion hier (noch) nicht nachkommen.“25 so ein Ergebnis der Gruppendiskussionen mit Jugendlichen des BLMs. Religiöse Bildung in unterschiedlichen Lebensabschnitten kann hier einen Beitrag leisten, indem KI-Phänomene, wie Jesus-Avatare26 reflektiert werden, KI medienproduktiv27 eingesetzt wird, die Interaktionen hochschuldidaktisch reflektiert werden28 und sowohl technische als auch ethische sowie theologische Betrachtungen Künstlicher Intelligenz in den Curricula aufgenommen werden.29  Denn es bieten sich nicht nur kritische Sichtweisen, sondern auch neue Zugänge zu spirituellen Inhalten: Religiöse Companions können auch neue Perspektiven eröffnen.

KI und Algorithmen werden nicht mehr aus dem Leben der Jugendlichen verschwinden und die Inhalte, die durch sie transportiert werden, werden einen maßgeblichen Einfluss auf die Jugendlichen haben – auch im Bereich von Religion. Denn sie repräsentieren, was das gute Leben ist und steuern, welche Sichtweisen vom guten Leben an die Jugendlichen herangetragen werden. Wenn Religion nicht mehr sichtbar wird, oder wenn Religion als Fake sichtbar wird, wird dies die Wahrnehmung der Jugendlichen auf Religion stark beeinflussen.

Anmerkungen

  1. Vgl. BLM, Algorithmen und Künstliche Intelligenz im Alltag von Jugendlichen, 10.
  2. Vgl. MPFS, JIM-Studie 2024, 60-61.
  3. Vgl. BLM, Algorithmen und Künstliche Intelligenz im Alltag von Jugendlichen, 10.
  4. https://character.ai.
  5. https://replika.ai.
  6. https://kindroid.ai/home.
  7. Riegel, Sozialisation, religiöse, Abs. 1.
  8. Pirner, „Religiöse Mediensozialisation?“,113.
  9. Vgl. Hurrelmann, Sozialisation, 68-70.
  10. Nord, Religiöse Sozialisation von Jugendlichen in mediatisierter Welt, 265.
  11. Vgl. Nord, Religiöse Sozialisation von Jugendlichen in mediatisierter Welt, 267-268.
  12. Vgl. ebd.
  13. Pirner, „Religiöse Mediensozialisation?“, 118.
  14. Vgl. Nord, Religiöse Sozialisation von Jugendlichen in mediatisierter Welt, 269-270.
  15. Leven / Palkowitsch-Kühl, Schülerinnen und Schüler in ihrer digitalen Welt, 132.
  16. Nothelle, Vorsicht Falle, 432.
  17. Ebd.
  18. Ebd.
  19. https://kurzlinks.de/b76p.
  20. https://kurzlinks.de/z7gz.
  21. https://kurzlinks.de/bvng.
  22. https://www.twitch.tv/ask_jesus (Abb. 4).
  23. Vgl. Campbell, Who’s Got the Power?, 1046.
  24. Z. B. der ERF Bibleserver Bot Nikodemus.AI: https://kurzlinks.de/ce1z, aber auch alle anderen Bots tragen ein Wertesystem mit sich: vgl. Palkowitsch-Kühl, KI, Bias und religiöse Bildung, 140-159.
  25. BLM, Algorithmen und Künstliche Intelligenz im Alltag von Jugendlichen, 8.
  26. Vgl. Mayrhofer, Von Jesus-Bots und Luther-Avataren.
  27. Vgl. Palkowitsch-Kühl / Leven, Gott (begegnen) im Internet.
  28. Vgl. Heger, Heilige Lade oder Golem?
  29. Vgl. Leven / Palkowitsch-Kühl, KI begegnen.

Literatur

  • Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) (Hg.): Algorithmen und Künstliche Intelligenz im Alltag von Jugendlichen, München 2024
  • Campbell, Heidi: Who’s Got the Power? Religious Authority and the Internet, in: Journal of Computer‐Mediated Communication 12 (2007), 1043-1062
  • Heger, Johannes: Heilige Lade oder Golem? Hochschul- und (religions‑)didaktische Reflexionen zum Umgang mit ChatGPT, in: RU heute 51 (2023) 1-2, 29-34
  • Hurrelmann, Klaus: Sozialisation. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung, Weinheim 2012
  • Leven, Eva-Maria / Palkowitsch-Kühl, Jens: KI begegnen. Ein Projekt für Religion, Ethik und Philosophie. In: on – Lernen in der digitalen Welt 5 (2021), 22-24
  • Leven, Eva-Maria / Palkowitsch-Kühl, Jens: III.3 Schülerinnen und Schüler in ihrer digitalen Welt., in: Kropac, Ulrich / Riegel, Ulrich (Hg.): Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 127-133
  • Mayrhofer, Florian: Von Jesus-Bots und Luther-Avataren: KI in der religiösen Bildungspraxis, in: εύangel. Magazin für Missionarische Pastoral (2) 2024, https://kurzlinks.de/mzon (18.02.2025)
  • Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2024. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2024
  • Nord, Ilona: Religiöse Sozialisation von Jugendlichen in mediatisierter Welt. Ausgangsfragen und Zielsetzungen, in: Beck, Wolfgang u.a. (Hg.): Theologie und Digitalität: Ein Kompendium, Freiburg im Breisgau 2021
  • Nothelle, Claudia: Vorsicht Falle! Scripted Reality, retouchierte Fotos, Pseudonyme – Täuschung als medienethische Herausforderung, in: Communicatio Sociali (3-4) 2013, 432-442
  • Palkowitsch-Kühl, Jens / Leven, Eva-Maria: Gott (begegnen) im Internet, in: KU-Praxis: Gott suchen – draußen und drinnen 2023, 48-50
  • Palkowitsch-Kühl, Jens: KI, Bias und religiöse Bildung, in: RPZ Heilsbronn. Bildungswelten 1, 2024, 140-159
  • Pirner, Manfred: „Religiöse Mediensozialisation?“ Ein empirisches Forschungsprojekt von Manfred L. Pirner, in: Theo-Web 2004
  • Riegel, Ulrich: Sozialisation, religiöse, in: https://kurzlinks.de/liw4, Abs. 1 (18.12.2024)