Die Einführung des von den Kirchen gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterrichts ist eine überfällige Reaktion auf die Organisationskrise des Faches Religion. Sie sollte allerdings auch als Reaktion auf die Plausibilitätskrise des Faches verstanden werden. Nur so nämlich kann der Weg für eine notwendige Neuausrichtung der religiösen Bildung an öffentlichen Schulen beschritten werden. Fachberater*innen an Gymnasien sowie die Fachmoderation an Gesamtschulen schlagen deshalb vor, die nun anstehende Arbeit an den Kerncurricula zu nutzen, sich von nicht mehr zeitgemäßen Inhaltsstrukturen zu lösen und durch eine an den Bedarfen der Menschen und unseres Gemeinwesens orientierte Perspektive zu ersetzen. Die Erklärung richtet sich zum einen an die Verantwortlichen in Kirche und Staat, die für den Beratungsprozess notwendige Zeit einer solchen Neuausrichtung einzuräumen. Zum anderen bitten wir die mit der Lehrplanarbeit beauftragten Kolleg*innen, den Mut aufzubringen, Konventionen didaktischen Denkens über Bord zu werfen, die einem Neuansatz im Wege stehen.
Die inhaltliche Struktur der bislang gültigen Curricula verdankt sich im Wesentlichen den Aufbrüchen der 1970er Jahre. Der damals erfolgte Übergang des Faches Religion von einem binnenkirchlichen Erziehungsfach zu einem auch anthropologisch und gesellschaftlich legitimierten Bildungsfach hat maßgeblich zur Überwindung der damals akuten Existenzkrise des Religionsunterrichts beigetragen.
Wir stehen heute vor einer ähnlichen Herausforderung. Der gesellschaftliche Wandel hat das, was lange Zeit als korrelier- und elementarisierbar galt, zum Sonderwissen einer gesellschaftlichen Teilgruppe gemacht. Der darin sich ausdrückende Präsentationsmodus des religiösen Wissens erweist sich zunehmend als hinderlich für eine authentisch-lebensnahe sowie historisch-gesellschaftlich relevante Bildungsarbeit. Jüngste Veröffentlichungen und Diskussionsbeiträge zum CRU geben zudem Anlass zur Sorge, dass Rekonfessionalisierungstendenzen eher noch zunehmen werden und Lehrplan- und Fortbildungsarbeit von Beginn des Neudenkens an verengen könnten.
Selbst die derzeitig gültigen Kerncurricula tragen trotz ihrer unbestreitbaren Qualitäten noch zu sehr den Charakter binnenchristlicher Selbstvergewisserung. Eine Fortführung der inhaltlichen Arbeit auf der Linie dieser Kerncurricula steht in der Gefahr, Religion im öffentlichen Schulwesen zunehmend als eine solche Selbstvergewisserung zu präsentieren und zu wenig den Wert religiöser Bildung für getaufte und ungetaufte Agnostiker zu plausibilisieren. Ohne den transparenten Ausweis des Bildungs-Benefits für potenziell alle Schüler*innen wird auch der neue CRU ein Programm für „den Rest“ werden.
Der Blick auf die Subjekte des Unterrichts fällt auch auf die Lehrkräfte, die das Fach unterrichten. Sie bringen nicht nur eine zunehmend veränderte Sozialisation mit in den Beruf, sondern auch Skills, die das Fach im Klassenraum und darüber hinaus unbedingt benötigt. Gerade mit Blick auf die sich verändernde religiöse Sozialisation ist in den letzten Jahren neu die für den konfessionellen bzw. konfessorischen Charakter des Faches bedeutsame Frage der Positionalität aufgeworfen worden. Tendenzen der Versachkundlichung bzw. Verreligionskundlichung und eine Rücknahme an Positionierung werden nicht selten als Unterminierung des Faches interpretiert. Wir sind der Überzeugung, dass es Lehrkräften nicht an Positionierungsfähigkeit mangelt, wohl aber an Themen, die das Anzeigen von persönlicher Bedeutsamkeit seitens der Lehrkraft herausfordern. Wir sind der Überzeugung, dass Lehrkräfte Unterricht spannend und problematisierend gestalten können, es aber mit dem derzeit angebotenen Themenspektrum schwer gemacht wird.
Wir machen die Beobachtung, dass die Diskurse der Gegenwart normgeladen sind wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr, davon allerdings im Religionsunterricht kaum etwas sinnstiftend abgerufen wird. Der Religionsunterricht bedarf deshalb neben der schon vorhandenen existenziell-lebensweltlichen Dimensionierung einer curricularen Wende hin zu den großen Fragen und Konflikten von Gesellschaft und Welt. Wir benötigen eine didaktische Matrix, die diesen Bezug zur Wirklichkeit erfasst und die Behandlung zentraler Themen, welche Menschen und Welt bewegen, institutionalisiert und fachlich legitimiert. Fragen wie beispielsweise zu Krieg und Frieden, Armut und Migration, unterschiedlichsten religiös motivierten Konfliktfeldern, zu Demokratieerziehung und zu nachhaltiger Entwicklung lassen sich eben nicht als Nachschlag zu konventionellen Unterrichtsthemen behandeln, ohne unterkomplex zu geraten. Die Ordnung von Themen und Inhalten in den Gegenstandsbereichen Gott, Christus, Kirche etc. wird einer fachlichen Öffnung zur Welt nicht mehr gerecht. Sie produziert Langeweile, führt nicht selten in verklärende Abblendungen von Wirklichkeit und verhindert insgesamt die transparente fachdidaktische Hinwendung zu wichtigen und spannenden Fragestellungen.
Für die Neuausrichtung des Religionsunterrichts ist es unerlässlich, fachliche Kerne und Kern-Kompetenzen zu definieren, die als Ziele des Unterrichts nachweislich erreicht werden können. Das Kerncurriculum muss den Blick auf Wesentliches richten, es darf nicht Anlass für „Planungssozialismus“ bieten. Es muss deshalb Schluss sein mit einer bürokratischen Ausgestaltung schuleigener Arbeitspläne, welche die fachliche Arbeit belasten, dies und das vorschreiben und am Ende unklar lassen, was eigentlich das Ziel religiöser Bildung vor Ort, mit den Mitteln des Ortes und angesichts der Subjekte vor Ort ist. Aus diesem Grund ist eine zentrale Aufgabe für die Lehrplaner*innen, die Kompetenzen neu in den Blick zu nehmen und sie so zu definieren, dass sie inhaltlich klar, vom Umfang her schlank und in ihrer Ordnung plausibel abgebildet werden. Gute Kerncurricula als ein wichtiges Instrument zur Förderung religiöser Bildung lassen Freiräume für die Nutzung auch anderer Instrumente zur Förderung religiöser Bildung.
Vor zwanzig Jahren sind erstmals und in ökumenischer Zusammenarbeit für die Fächer Evangelische und Katholische Religion parallel Curricula in Niedersachsen eingeführt worden. Nicht nur wurden Prozesse und Inhalte im Sinne der Kompetenzorientierung zusammengeführt, auch wurde das Profil der Fächer klarer, harmonischer und einheitlicher gestaltet. Die Arbeit der ersten Nach-PISA-Jahre ist in den Folgejahren in allen Schulformen weitergeführt worden, sodass konfessionell-kooperative Settings selbstverständlich werden konnten. Auch das neue Fach CRU basiert auf diesem Fundament.
Es ist verständlich, dass damals nicht zugleich die deutlich werdenden säkularen Umbrüche der Entchristlichung einerseits und der Pluralisierung von Lebensverhältnissen und Lebensdeutungen andererseits curricular aufgegriffen werden konnten. Es ist aber notwendig, es jetzt zu tun.
Michael Bolte, Jeannette Eickmann,
Michael Grönefeld, Günter Nagel,
Jutta Paeßens, Kirsten Rabe
und Stephanie Schwarz