Oder die Frage nach einer erfüllten Lebenszeit
Es gibt nicht viele Filme, die mich gefühlt ein halbes Berufsleben begleiten, da sie eine ideale Ausgangsbasis für spannende Gesprächsgänge mit Erkenntnisgewinn bieten. Der 2008 erschiene Animationsfilm One Minute Fly von Michael Reichert gehört eindeutig dazu.
Worum es geht: Eine Ein-Minuten-Fliege schlüpft beschwingt und lebensfreudig aus ihrem Ei. Doch ihre ersten unbeschwerten Füge werden durch eine über ihr schwebende Anzeige getrübt: „1:00“ Irritiert scheint sie zu erahnen, dass ihr Fliegenleben auf diese eine Minute begrenzt sein wird. Während sie ängstlich darauf starrt, wann ihre Lebensuhr zu ticken beginnt, hat die letzte Sekunde bei einer über ihr fliegenden One Minute Fly geschlagen. Während diese eine lange Liste studiert, stürzt sie leblos zu Boden. Die Papierliste fliegt jedoch der frisch geschlüpften Fliege zu. Als sie das Blatt mit ihren Händen entwirrt, ist zu lesen: „Things to do before I die.“ Die zahlreichen Notizen versetzen sie offensichtlich in Panik. In einem rasanten Tempo hetzt sie den verschiedensten Lebenszielen des Zettels hinterher, um sie abzuhaken. Dabei scheinen die Ziele mit der Zeit immer anspruchsvoller zu werden. So geht der letzte Wunsch, berühmt zu werden, erst nach ihrem Tod in Erfüllung.
Der mit Tiefsinn und Witz gestaltete Film impliziert zahlreiche Vertiefungsfragen:
- Was kann es für Folgen haben, wenn sich jemand seine begrenzte Lebenszeit vergegenwärtigt?
- Bedeutet weniger Lebenszeit wie bei der Fliege auch mehr Hektik oder gar Angst?
- Wie nutze ich meine Zeit?
- Woran erkenne ich, was wirklich wichtig und sinnvoll sein könnte?
- Inwiefern macht es einen Unterschied, ob ich zwar weiß, dass ich irgendwann einmal sterben werde, oder wenn ich genau wüsste, wann das Leben enden wird?
- Gibt es Dinge, die ich auf jeden Fall erleben bzw. verwirklichen sollte, damit es am Ende ein gutes und sinnvolles Leben war?
- Und ganz grundsätzlich gefragt: Wird mir eigentlich von Menschen oder der Gesellschaft vorgegeben, wie ein gutes Leben auszusehen hat, oder bin ich selber Planer und Gestalter meiner selbst entworfenen Lebensvorhaben?
Wenn es um Fragen wie diese gehen soll, dann ist der Film One Minute Fly ein stimmiger Unterrichtseinstieg. Auch wenn der Film über die Ein-Minuten-Fliege länger als ihr Leben dauert – nämlich vier Minuten –, so lohnt es sich, nach der Erstbetrachtung das Gesehene nachwirken zu lassen. Welche Ziele waren es eigentlich, die von der Ein-Minuten-Fliege abgearbeitet wurden? Da die einzelnen Lebensvorhaben in englischer Sprache eingeblendet wurden, sollten gegebenenfalls unbekannte Ausdrücke geklärt werden. Spannend ist die Perspektive, sich selber gedanklich in das Leben der Fliege zu versetzen. Würde ich es genauso machen wie sie? Welche Ziele der To-Do-Liste wären mir wichtig, wo würde ich andere Prioritäten setzen? Wenn die Fliege zu einem Sinn- und Lebensberater gehen würde: Welche Tipps und Impulse würde er ihr womöglich geben? Würde sich etwas ändern, wenn die Fliege einen Tag oder gar zehn Jahre weitere Lebenszeit geschenkt bekäme?
Weitere Erschließungsfragen führen dann auf eine Meta-Ebene zum Film:
- Wie gehen Menschen mit dem Dilemma um, dass die Lebenszeit zu kurz ist, um alles erleben zu können, was möglich wäre?
- Menschliches Leben verlängern, um mehr erleben zu können?
- Oder geht es doch eher darum, die Dauer des Nicht-Seins zu verkürzen und die gefühlte Bedrohung durch den Tod so weit in die Zukunft zu verschieben, wie es irgendwie geht?
- Die Wissenschaft forscht nach wie vor am Traum der Unendlichkeit des Lebens, doch mit welchem Gewinn?
- Was würde sich am Zeit- und Sinnempfinden ändern, wenn wir Menschen eine Lebenserwartung von tausend Jahren hätten?
Abgesehen von diesen Begrenzungsfragen der Lebenszeit klingt im Film noch ein weiterer spannender Gedanke an: Leben wir unser eigenes Leben, oder wo treffen wir auf Vorgaben, Verpflichtungen, Zwängen und Erwartungen?
Anknüpfend an das Motiv der To-Do-Liste wäre es naheliegend, dass die Jugendlichen im Nachgang der Film-Erörterung eine persönliche Liste erstellen, um über eigene Wünsche, Ziele und Priorisierungen ins Gespräch zu kommen.
Als Vertiefungs-Alternative wäre methodisch auch eine Fußbodenskala umsetzbar, auf der sich die Jugendlichen zwischen zwei Aussagen positionieren, um über ihre Standpunkte ins Gespräch zu kommen. Mögliche Impulse wären:
- „Wenn ich daran denke, dass das Leben endlich ist, dann erzeugt das Druck, soviel wie möglich erleben zu wollen.” –„…dann lässt mich das ganz gelassen, da ich nicht alles erleben muss.”
- „Nur ein langes Leben, in dem ich viele Erlebnisse sammeln werde, ist ein erfülltes Leben.” – „Ich stimme zu.” –„Ich stimme nicht zu”.
- In der Planung und Gestaltung meines Lebens fühle ich mich ganz selbstbestimmt und frei.” – „… treffe ich auf viele Vorgaben, Erwartungen und Zwänge, die zu erfüllen sind.”
- „Im Leben geht es darum, es beruflich weit zu bringen.” – „Ich stimme zu.” – „Ich stimme nicht zu.”
- „Ohne eigene Kinder wäre das Leben sinnlos.” – „Ohne Kinder lässt sich das Leben am besten genießen und ausschöpfen.”
Um die skizzierten Fragestellungen weiter zu vertiefen, bieten sich natürlich zahlreiche theologische Bezüge an. Diesbezüglich ist der biblische Satz aus Psalm 90,12 sicher ein Klassiker. Er ließe sich als Ausgangsbasis für ein Brainstorming nutzen. Zudem könnte es sich als aufschlussreich erweisen, die verschiedenen Übersetzungsvarianten des hebräischen Urtextes zu vergleichen. Wozu möchte der Schreiber des Psalmwortes anregen? Wie könnte ein weises / kluges / vernünftiges Leben im Sinne des Psalmbeters aussehen?
Um mit einer Lerngruppe zu erarbeiten, dass in der Bibel ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage nach einer sinnvollen Lebenszeit-Gestaltung zu finden sind, kann sich eine arbeitsteilige Gruppenarbeit anschließen. Gewissermaßen knüpft die Stunde hier an das Film-Motiv der „von oben“ gegebenen Liste an: Inspiriert die Bibel zu einem besonderen Umgang mit der Zeit? Inwieweit können die einzelnen Impulse die eigene Lebensperspektive bereichern? Was wären hingegen Kriterien, dass der Glaube an einen Gott nicht als Befreiung zum Leben, sondern als Einengung erlebt wird? In Auswahl sei auf folgende Bibeltexte verwiesen:
Genesis 1,27-31
Hier geht es um den von Gott geschaffenen Menschen als Gottes Ebenbild und den Herrschaftsauftrag. Kann der Zuspruch der Gottesebenbildlichkeit auch davon entlasten, die Sinnerfüllung in einem perfekten Leben zu sehen? Zur Klärung dieser Frage wäre es natürlich wichtig, eine Erschließungshilfe bei der Klärung des Ausdrucks der Gottesebenbildlichkeit zu bieten. Ansonsten würde sich die Erkenntnis auf den Fortpflanzungs- und Herrschaftsauftrag des Menschen beschränken.
Auszüge aus Kohelet (= Prediger), z.B. Kohelet 3,1-9
Das Buch Kohelet gehört mit seiner Sammlung von Sinnsprüchen zur Weisheitsliteratur der hebräischen Bibel. Bereits zu Beginn des Buches wird eine der Hauptfragen aufgeworfen: Was hat der Mensch von all seinem Tun angesichts der Endlichkeit?
Matthäus 7,24-29
Die Symbolik des Gleichnisses vom Hausbau wirkt für Jugendliche auf den ersten Blick einleuchtend. Schnell sind Beispiele gefunden, was für die jungen Leute ein solider Untergrund für die Lebensplanungen sein kann, bzw. durch welche falsch gesetzten Ziele man auch versacken kann. Doch entscheidend bei der Erschließung des Gleichnisses ist es, die anfänglichen Worte im Blick zu behalten: „Wer meine Rede hört, und sie tut …“ Es geht also darum zu erfassen, was Jesus da im Sinn gehabt haben könnte.
Matthäus 22,35-40
Die Suche nach dem höchsten Gebot führt zu der Frage, wie die drei Dimensionen der Liebe (Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe) in einem Leben konkret umgesetzt werden können. Schnell wird deutlich, dass es hier eher um ein grundsätzliches Lebensgefühl und eine solche Haltung geht anstatt um das Abarbeiten unterschiedlichster Lebens- oder Liebesziele.
Lukas 18,18-23
Bei der Erzählung vom reichen Jüngling steht die Frage im Zentrum, ob die Art der diesseitigen Lebensgestaltung Konsequenzen für das Jenseits haben kann. Neben der Perspektive, welche Gebote umzusetzen sind, liegt ein Fokus auf der Problematisierung der Ausstrahlungs- und Bindungskraft von Reichtum.
Wie mit den Texten gearbeitet werden könnte: Analog zum Kurzfilm erstellen die Jugendlichen basierend auf den jeweiligen Textpassagen eine To-Do-Liste zu den anklingenden Aufgaben bzw. Lebenszielen. Auf diese Weise lässt sich auch ein Bogen zum Anfangsimpuls spannen; ein Vergleich mit den To Dos der One Minute Fly. Spielerisch ließe sich das Film-Motiv variieren: Wenn die Ein-Minuten-Fliege eine Christin wäre, hätte sich durch ihr Glaube ihr Lebensflug verändert? Wenn ja, wie?
Es versteht sich von selbst, dass beim Einbringen all der theologischen Impulse nicht der Eindruck entstehen darf, dass sie die im bisherigen Verlauf der Stunde geäußerten Sinnperspektiven der Jugendlichen kritisieren. Vielmehr geht es im Sinne des Theologisierens darum, die Lerngruppe durch die gebotenen Materialien und Fragestellungen zu einem eigenständigen Fragen und Suchen nach Antworten anzuregen: Was bedeutet für mich persönlich eine sinnvoll und erfüllt gestaltete Lebenszeit?
Wer zum gebotenen Filmimpuls noch eine Variante ins Spiel bringen möchte, wird auch auf YouTube fündig: One minute fly – fly to the moon. Die Ein-Minuten-Fliege möchte in diesem Kurzfilm ihren Lebenstraum verwirklichen, den Mond zu besuchen. Ohne es bewusst zu beabsichtigen, rettet sie dabei die Erde vor der Invasion von Außerirdischen. Gerade in den Krisenzeiten unserer Tage liegt in dieser originellen Idee eine verheißungsvolle Perspektive. Häufig geht es eben darum, wie die Menschen durch ihre Lebensvorhaben (unbewusst) der Welt und den Mitmenschen Schaden zufügen. Doch wo hingegen tun Menschen mit ihrer Lebenszeit – manchmal ganz unbemerkt und unbewusst – auch mal was Gutes und Hilfreiches? – Zeit für sinnerfüllende Good News!