Religiöse Bildung kann vor Überheblichkeit bewahren
„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“ Mit dieser sogenannten Demutsformel beginnt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. Bereits das sechste Wort der Präambel lautet „Gott“. In der Weimarer Verfassung fehlte dieser Gottesbezug. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten die schrecklichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Ideologie noch lebhaft vor Augen. Mit dem Wort „Gott“ wollten sie sich keineswegs auf ein bestimmtes Gottesbild festlegen. Es hat im Grundgesetz lediglich eine Platzhalterfunktion. Jeder Mensch ist frei, diesen Begriff individuell zu füllen. Das kann ein christliches Gottesverständnis sein, muss es aber nicht. Ebenso gut kann der Gott einer anderen Religion gemeint sein oder der unspezifische Bezug auf eine nicht näher bestimmte Transzendenz.1
Meiner Meinung nach ist es sogar möglich, diese Chiffre „Gott“ atheistisch zu interpretieren als etwas, das größer und universaler ist als eine Person oder eine Nation oder ein globaler Konzern mit seinen Partikularinteressen, zum Beispiel alles Lebende auf der Erde oder die zukünftigen Generationen der Menschheit, die noch zur Welt kommen werden.
Das Grundgesetz verweist mit dieser Demutsformel auf eine Instanz, die den Menschen übergeordnet ist und vor der wir Menschen unser Tun zu verantworten haben.
Das macht bereits der erste Artikel des Grundgesetzes beispielhaft deutlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Bundesrepublik Deutschland stellt die Würde jedes Menschen unter ihren Schutz, aber sie stellt diese Würde nicht her.
Religiöse Bildung kann möglicherweise vor Hybris bewahren, wenn sie bewusstmacht, dass der Mensch nicht sich selbst verdankt und dass er sich für sein Handeln verantworten muss.
Religiöse Bildung kann vor weltanschaulichen Irrwegen bewahren.
Glaube, dem die Tür versagt,
steigt als Aberglaub´ ins Fenster.
Wenn die Götter ihr verjagt,
kommen die Gespenster.
Diese Zeilen des deutschen Schriftstellers Emanuel Geibel machen deutlich, dass kein religionsfreier Raum entsteht, wenn man „altbewährte“ Religionen ablehnt; an ihrer Stelle halten andere, zum Teil krude Glaubensüberzeugungen Einzug, deren Lebensförderlichkeit in Frage steht.
Hier liegt meines Erachtens eine der wichtigsten Aufgaben religiöser Bildung. Sie kann für die Unterscheidung zwischen lebensentfaltender und krankmachender Religion sensibilisieren. Dabei geht es nicht um die missionarische Verbreitung religiöser Inhalte, sondern um den Erwerb einer grundlegenden Kompetenz. Dazu gehört übrigens unter anderem die Einsicht, dass sich auch in den Weltreligionen immer wieder lebensfeindliche Irrwege entwickeln. Dreißig Jahre Krieg zwischen evangelischen und katholischen Christ*innen sind nur ein drastisches Beispiel. Und es ist das Verdienst des Atheismus und der Religionskritik, auf diese Missstände hingewiesen zu haben und weiterhin hinzuweisen.
Hinzu kommt in diesem Zusammenhang eine zweite wichtige Aufgabe religiöser Bildung. Sie kann einem Menschen seine eigene weltanschauliche Grundeinstellung bewusstmachen, in die er sozusagen unbemerkt hineingeschlittert ist.
Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace sagte in seiner Rede vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon College:
„In den alltäglichen Grabenkämpfen des Erwachsenendaseins gibt es keinen Atheismus. Es gibt keinen Nichtglauben. Jeder betet etwas an. Aber wir können wählen, was wir anbeten. Und es ist ein äußerst einleuchtender Grund, sich dabei für einen Gott oder ein höheres Wesen zu entscheiden – ob das nun Jesus ist, Allah, Jahwe, die Wicca-Göttin, die ,vier edlen Wahrheiten‘ oder eine Reihe unantastbarer ethischer Prinzipien –, denn so ziemlich alles andere, was Sie anbeten, frisst Sie bei lebendigem Leib auf.
Wenn Sie Geld und Güter anbeten – wenn hierin für Sie der wahre Sinn des Lebens liegt –, dann können Sie davon nie genug kriegen. Nie das Gefühl haben, Sie hätten genug. Das ist die Wahrheit.
Wenn Sie Ihren Körper, die Schönheit und erotische Reize anbeten, dann werden Sie sich immer hässlich finden, und wenn sich Zeit und Alter bemerkbar machen, werden sie tausend Tode sterben, bevor man Sie dann wirklich unter die Erde bringt. […]
Und so weiter.
Wissen Sie, das Heimtückische an diesen Formen der Anbetung ist nicht, dass sie böse oder sündhaft wären, sondern dass sie so unbewusst sind.“2
Religiöse Bildung kann nicht nur über das breite Spektrum religiöser und weltanschaulicher Glaubensüberzeugungen informieren; sie kann auch dazu helfen, sich des eigenen Wertekanons bewusst zu werden und sich bewusst für eine – hoffentlich – lebensentfaltende Weltdeutung zu entscheiden.
Religiöse Bildung kann Selbstrelativierung und Respekt vor Andersgläubigen ermöglichen.
Wer aus der Fülle religiöser und säkularer Weltdeutungen in einem bewussten Entscheidungsprozessprozess eine dieser Weltdeutungen für sich ausgewählt hat, der weiß auch, dass sich sein Mitmensch möglicherweise ebenso bewusst für eine andere Weltdeutung entschieden hat. Religiöse Bildung kann also nicht nur dazu helfen, den eigenen weltanschaulichen Standpunkt zu begründen; sie kann auch dazu helfen, den Standpunkt des Andersdenkenden zu respektieren, ohne die eigene Überzeugung aufzugeben.
Ein Ausspruch, der oft Voltaire zugeschrieben wird, aber vermutlich nicht von ihm stammt, bringt es folgendermaßen auf den Punkt:
„Ich bin ganz und gar nicht deiner Meinung, aber ich werde alles tun, damit du deine Meinung sagen kannst.“
Bezogen auf religiöse Bildung, macht dieser Satz zwei Dinge deutlich: Zum einen bedarf es für einen Dialog auf Augenhöhe eines eigenen Standpunktes. Denn nur, wenn meine Überzeugung kenntlich ist, kann mein Gegenüber mit mir in ein inhaltliches Streitgespräch eintreten. Zum anderen bedarf es der Einsicht, dass mein Gegenüber das gleiche Recht auf seinen eigenen Standpunkt hat wie ich, auch wenn seine Überzeugung von meiner abweicht. Ziel des Gespräches ist ja nicht, dass hinterher alle einer Meinung sind, sondern dass die Kontrahenten die Beweggründe und Argumente des anderen nachvollziehen und akzeptieren können, ohne sie deshalb für sich zu übernehmen.
Das wird zum Beispiel deutlich an der Frage: Wer von uns hat die beste Mutter? Die Antwort muss natürlich lauten: Ich! Denn ich habe die beste Mutter der Welt selbst erlebt, mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört. Selbstrelativierung bedeutet nun, ich gestehe meinem Gegenüber zu, dass er mir widerspricht und einen anderen Standpunkt vertritt, weil er eine andere Erfahrung gemacht hat und deshalb überzeugt ist, dass seine Mutter die beste der Welt ist.
Es reicht nicht aus, die abweichende Meinung des Gegenübers zu tolerieren und zu ertragen; es geht darum, sie als gleichberechtigt zu respektieren. „Dulden heißt beleidigen“, schreibt Goethe in seinen Maximen und Reflexionen. Wer lediglich toleriert, verlässt das Gespräch auf Augenhöhe und erhebt sich mit seinem Standpunkt über sein Gegenüber.
Respekt und Toleranz enden allerdings an der Intoleranz des anderen. Wer rassistische Hassreden oder fundamentalistische Gewaltpraktiken vertritt, macht unfreiwillig deutlich, wohin ein Mangel an religiöser Bildung führen kann. Wenn religiöse Fanatiker ihr Gottesbild mit Gewalt durchsetzen wollen, verstoßen sie gegen das Gebot, für das sie zu kämpfen meinen, nämlich das Verbot, sich von Gott ein Bild zu machen. In diesem Sinne halte ich religiöse Bildung für eine gute Fundamentalismus-Prophylaxe.
Religiöse Bildung kann zu einem dankbaren Umgang mit der Schöpfung führen.
Der säkulare Begriff Umwelt bezeichnet die Welt, die mich umgibt und außerhalb von mir existiert. Der Begriff Schöpfung dagegen beinhaltet eine darüber hinausgehende religiöse Dimension, denn er setzt einen Schöpfer voraus, der diese Welt erschaffen hat. Religiöse Bildung hält diese fundamentale Unterscheidung zwischen Umwelt und Schöpfung wach. Gott hat die Welt durch sein Wort erschaffen; sie würde sofort ins Nichts zurückfallen, wenn er sie nicht bis zu diesem Augenblick im Sein erhalten würde. Laut biblischem Zeugnis hat Gott dieser Welt das Prädikat „sehr gut“ verliehen.
Gleichzeitig macht die Bibel in mythologischer Sprache deutlich, dass diese Schöpfung durch das grenzüberschreitende Handeln der Menschen aus diesem unversehrten Urzustand herausgefallen ist; die Menschheit wurde durch eigene Schuld aus einem paradiesischen Urzustand vertrieben in eine Welt, die durch Sintfluten und Dürrekatastrophen bedroht ist. Die Schöpfung hat also einen doppelten Charakter, sie ist gute Schöpfung Gottes und gefallene Schöpfung zugleich.
Weil die gesamte Schöpfung aber weiterhin Gottes Geschenk an die Menschen bleibt, sollte die grundlegende Lebenshaltung der Menschen in der Dankbarkeit bestehen. Dass ich bin und dass es mich gibt, ist ein Geschenk Gottes an mich.
Gen 2 erzählt, dass Gott die Säugetiere aus demselben Material erschafft wie den Menschen, nämlich aus Erde. Er erschafft die Tiere in der Absicht, dem Menschen Gesellschaft zu leisten. Diese Aussagen werfen ein kritisches Licht auf jede Form von nicht artgerechtem Umgang mit Tieren bis hin zur Massentierhaltung und industriellen Fleischproduktion; der Verzehr von Fleisch wird am Ende der Sintflut-Geschichte aber ausdrücklich erlaubt.
Ein weiterer wichtiger theologischer Aspekt wird oft übersehen. Gott erschafft die Schöpfung durch sein Wort. Die gesamte Schöpfung hat einen worthaften Charakter. Psalm 19,2 drückt es folgendermaßen aus: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündet seiner Hände Werk.“ Der entscheidende Punkt ist, dass die Himmel etwas erzählen. Die gesamte Schöpfung verkündet Gottes Ehre und lobt seine Taten. Die Vögel mit ihrem Gesang loben ihren Schöpfer. Die Blätter an den Bäumen ehren Gott mit ihrem Rauschen. Die mit ihren Früchten schwer behangenen Äste verneigen sich dankbar vor ihm. An diesem symphonischen Lobgesang der gesamten Schöpfung nimmt der Mensch teil, vom Tischgebet bis zum Open-Air-Konzert.
Auch das Getreide auf dem Feld ruft uns zu: „Iss mich, genieße mich und bring die Reste zur Walsroder Tafel e.V.!“ Das Geld auf meinem Girokonto fordert mich auf: „Benutze mich und tue mit mir auch deinem Mitmenschen Gutes!“
Die gesamte Schöpfung spricht uns an, und wir geben dem Schöpfer seine Gaben in Form von Dankbarkeit zurück. Wenn ich aber das Getreide gierig für mich behalten will und mein Gehalt aus Profitgier nur für mich und meine Gewinnmaximierungssucht missbrauche, dann verstummt die Schöpfung und wird zu einer stummen Welt. Die Parallelen zu Hartmut Rosas Resonanztheorie3 sind offensichtlich.
Vor diesem Hintergrund kann religiöse Bildung meiner Meinung nach zu einem engagierten Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung führen.
Anmerkungen
- www.deutschlandfunk.de/denkfabrik-gott-im-grundgesetz-teil-1-wie-gott-in-die.886.de.html? dram:article_id=446929
- David Foster Wallace, Das hier ist Wasser/This is Water, 26. Aufl. Köln 2021, 30ff.
- Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.