pelikan

Ökumene heute

von Woldemar Flake und Katharina Freudenberger

 

Ökumene der Sendung

Die der Ökumene verbundenen Kirchen Niedersachsens wissen sich dem Anspruch verpflichtet, „auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln“ (Charta Oecumenica II.4)1. Dieser Grundsatz wurde zuletzt zum Reformationsjubiläum 2017 im gemeinsamen Gottesdienst der EKD und der DBK in Hildesheim und in vielen regionalen und lokalen auch multilateral ökumenischen Gottesdiensten und Veranstaltungen öffentlich bekräftigt. Mit diesem erstmals bereits vor mehr als 70 Jahren formulierten sogenannten Lund-Prinzip2 muss nicht mehr begründet werden, was gemeinsam getan wird, sondern es muss begründet werden, warum etwas (noch) nicht zusammen geht. Dies betrifft scheinbar so unterschiedliche Themen wie den Religionsunterricht und die künftige Nutzung von Immobilien, aber auch die Kirchenentwicklung, zu deren Kern die Ökumene vor Ort zählt. Wenn die Kirchen ihre Sendung wahrnehmen, können sie dies authentisch nur ökumenisch tun. Es geht künftig im Sinne der Charta Oecumenica nicht darum, ein ökumenisches Zusatzprogramm aufzulegen, sondern darum, gemeinsam zu entwickeln, worin die Kirchen ihre Aufgabe und Sendung erkennen.
Konkret wird dies bedeuten, im Sinne einer „Ökumene der Sendung“ auf Feldern der Kooperation, der Arbeitsteilung und der gegenseitigen Stellvertretung an einer Zukunft der Kirchen zu arbeiten. Dieser Ansatz einer Ökumene der Sendung ist inspiriert durch die „mission-shaped church“ der anglikanischen Kirche, also der Weiterentwicklung einer Kirche, die ihre Gestalt aus ihrer jeweiligen kontextuell zu bestimmenden Aufgabenstellung ableitet. Mit anderen Worten: Form follows function.

 

Vielfalt der christlichen Welt

Wer nur auf die traditionellen Kirchen und die Mehrzahl der Freikirchen in Mittel-, Nord- und Westeuropa schaut, wird den Eindruck bekommen, dass der christliche Glaube in einigen Jahrzehnten gänzlich verschwunden sein könnte. Trotz der Krisenstimmung könnte nichts ferner der Realität sein. Im weltweiten Maßstab wachsen die Kirchen. Lebendige Partnerschaften in Regionen und vor Ort sowie die internationale Ökumene sind für die Kirchen in Deutschland wichtig, weil sie deren Wahrnehmung weiten und die lokalen Entwicklungen in einen größeren Deutungsrahmen transportieren. Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die 2022 zum ersten Mal in Deutschland stattgefunden hat, machte eines deutlich: Die Themen des ökumenischen Diskurses beschränken sich keinesfalls auf Fragestellungen westlicher Länder oder akademische Abhandlungen. Vielmehr entwickeln die verschiedenen Regionen und Kulturkreise der ganzen Welt Modelle, wie die Rolle der Kirche in Zukunft aussehen kann.

Damit ergibt sich die Notwendigkeit, mit immer mehr Diversität umzugehen. Es ist wenig zielführend, die Unterschiede in Tradition, Leben und Lehre zwischen den Konfessionen zu leugnen oder aufheben zu wollen. Und für Niedersachsen gilt: Ökumene ist mehr als zwei. Die evangelischen Landeskirchen und die römisch-katholischen Bistümer mögen zwar noch in reinen Mitgliederzahlen dominieren, zu einem modernen Verständnis von Ökumene gehört es jedoch, auch die (vermeintlich) kleinen Kirchen wahr- und in ihrer organisationalen Eigenständigkeit ernst zu nehmen. Dabei sind zum einen die Kirchen in den Blick zu nehmen, die sich traditionellerweise in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) wiederfinden.3 Hier kommen immer wieder neue Kirchen hinzu, wie in den letzten Jahren in Niedersachsen der charismatisch ausgerichtete Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden und die Neuapostolische Kirche. Gleichzeitig gibt es weitere Zusammenschlüsse wie die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) und es entstehen neue ökumenische Netzwerke wie der Christliche Convent Deutschland (CCD). Die fundamentale Ablehnung der ökumenischen Bewegung durch einige evangelikale und charismatische/pentekostale4 Gruppen hat in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen. Und bei denen, die generell den Landeskirchen und Bistümern aus unterschiedlichen Gründen gegenüber skeptisch sind, lohnt es u.U., auf lokaler Ebene Vertrauen durch eine Zusammenarbeit in konkreten Projekten aufzubauen.

Analog zur ACKN und wie diese mit der Formel des ÖRK als gemeinsamer theologischer Basis5 hat sich 2013 die Internationale Konferenz Christlicher Gemeinden (IKCG) gegründet, in der in Niedersachsen heimisch gewordene Gemeinden und Kirchen unterschiedlicher Sprachen und mit Ursprüngen in aller Welt zusammenarbeiten. Die IKCG hat einen Beobachterstatus in der ACKN und ist dieser im Mitarbeitendengesetz der Landeskirche Hannovers sogar gleichgestellt (Loyalitätsrichtlinie). Das Spektrum der internationalen Gemeinden (oft Migrationsgemeinden und früher im EKD-Jargon „Gemeinden anderer Sprache und Herkunft“ genannt) ist sehr weit: Wir finden hier finnische Lutheraner und ungarische Reformierte ebenso wie evangelische und pentekostale Gemeinden mit afrikanischen, nahöstlichen und asiatischen Wurzeln. Diese Gemeinden sind gegenüber der Ökumene und den Landeskirchen offen und suchen gemeinsame Plattformen zur Kooperation. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche sind sie am ehesten mit den muttersprachlichen Gemeinden zu vergleichen. Zur Wahrnehmung der Vielfalt gehört schließlich auch ein Blick auf die orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Kirchen, die insgesamt inzwischen die drittgrößte Konfessionsgruppe in Niedersachsen bilden. Durch die Arbeitsmigration innerhalb der EU sind in den letzten Jahren z.B. die rumänisch-orthodoxen Gemeinden stark gewachsen. Die Offenheit zu ökumenischer Zusammenarbeit ist im Bereich der Orthodoxie unterschiedlich stark ausgeprägt. Zu bedenken ist bei diesen und anderen aus Migration entstandenen Gemeinden allerdings, dass zuweilen die sprachlichen und oft die personellen Kapazitäten für die klassische Gremienarbeit im Stil der ACKN schlicht nicht vorhanden sind. Die meisten Pastor*innen internationaler Gemeinden arbeiten ebenso nebenberuflich oder ehrenamtlich wie viele Priester orthodoxer und orientalisch-orthodoxer Gemeinden.

 

Ökumene der Gaben / Receptive ecumenism

Von einem durch die Leuenberger Konkordie geprägten Einheitsverständnis ausgehend kann Vielfalt als Gabe begriffen werden. Einer „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ geht es nicht darum, die eigene Tradition zu verleugnen, sondern darum, andere und die eigene Tradition durch einen Perspektivwechsel besser zu verstehen. Im Blick auf konfessionelle Prägungen ist darum der mit einer Ökumene der Gaben verwandte in den letzten Jahren bekannter gewordene Ansatz des Receptive Ecumenism zu würdigen: Die der eigenen Tradition fremde Umgangsweise mit einer Thematik wird mit der Bereitschaft zur Wertschätzung und als mögliche Bereicherung des eigenen Horizonts betrachtet. Aus dieser Perspektive kann dann auch die eigene Tradition neu betrachtet werden. Dies schließt den Streit bei alternativen Positionen im zweiten Schritt nicht aus. Receptive Ecumenism ist jedoch ein Prozess, der es ermöglicht, die Gaben anderer anzunehmen und u.U. auf einer vorher nicht vermuteten Ebene Einheit zu erzielen.6 Eine in diesem Sinne empfangende Ökumene fragt also weniger, was andere von meiner Tradition lernen müssen, sondern lädt uns mehr dazu ein, uns in die Sichtweisen und Bedürfnisse der anderen hineinzuversetzen. Durch diesen Prozess besteht die Chance, näher zusammenzurücken und die jeweilige eigene Identität besser zu verstehen und zu vertiefen. Im Ergebnis korrespondiert diese Haltung als methodischer Ansatz mit der Suche nach differenzierenden Konsensen und begrenzten Dissensen.7 Ökumenearbeit kann damit einen wertvollen Beitrag zu der großen Frage leisten, wie wir es generell lernen können, mit Ambiguitäten und Diversität umzugehen.

 

Post-konfessionelle Milieus und Konfessionslosigkeit

Die Milieus, die in der Vergangenheit kirchliche Ökumene getragen haben, werden älter, ziehen sich allmählich aus der aktiven Mitarbeit zurück. Wie aber geht es weiter? Kann eine neue Generation den ökumenischen Gedanken aufgreifen und weiterführen oder hat er sich weitgehend überlebt, da sich doch einerseits offenbar ein friedliches Nebeneinander eingestellt hat und andererseits Durchbrüche in zentralen theologischen Fragen immer wieder in Frage gestellt werden? Der von der Synode der EKD 2018 in Auftrag gegebene und im November 2019 erschienene „Atlas neuer Gemeindeformen“ ist zwar zunächst auf den protestantischen Raum hin angelegt, lässt aber gerade darum interessante ökumenische Potenziale erkennen. Über neue ekklesiale Aufbrüche und Sozialformen ist zu lesen: „Die Initiativen verstehen sich nach eigener Auskunft zu 91 Prozent als christlich und zu 87 Prozent als ökumenisch. Angesichts des Wandels der ekklesialen Gestalt und der zu erwartenden Entwicklungen in der Kirchenmitgliedschaft (Stichwort: Projektion 2060) wird damit zu rechnen sein, dass künftige ekklesiale Sozialgestalten vermutlich weniger konfessionell und verstärkt christlicher und ökumenischer ausgeprägt sein werden, als dies bisher der Fall ist, worauf letztlich die Gemeinde- / Sozialformen erste Hinweise geben. […] Die Menschen in den [untersuchten] Gemeinde-/ Sozialformen kommen überwiegend aus modernen und postmodernen Lebenswelten. Die Initiativen überschreiten somit traditionell kirchliche Milieugrenzen.“8

Mit der Entstehung post-konfessioneller Milieus einher geht die Frage, wie Konfessionslosigkeit künftig zu beschreiben sein wird, gibt es sie doch nicht nur außerhalb der verfassten Kirche, sondern gerade auch innerhalb. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer bestimmten konfessionellen Tradition wird immer schwächer. Wir erkennen eine Verflüssigung von Grenzen: „Drinnen“ und „Draußen“ sind schwerer zu beschreiben. Eine neue Verhältnisbestimmung von formaler Mitgliedschaft und Zugehörigkeit beschäftigt nicht nur die verfassten Kirchen, sondern auch traditionelle Freikirchen.
Lohnt es sich, den für viele inzwischen sperrig gewordenen Begriff „Ökumene“ zu bewahren? Aus unserer Sicht empfiehlt es sich, diesen eher technischen Begriff als einen solchen beizubehalten. Wenn wir in der Außenkommunikation lieber „christlich“ sagen, ist das gut, sollte aber voraussetzen, dass dann wirklich mehr als evangelisch-landeskirchlich und römisch-katholisch gemeint ist. Ökumene heute in Niedersachen umfasst neben den traditionellen Großkirchen die anderen Kirchen der ACK, die große Zahl orthodoxer Diasporagemeinden und die unzähligen internationalen Gemeinden aus aller Welt.

 

Anmerkungen

  1. www.ceceurope.org/wp-content/uploads/2015/07/ChartaOecumenicaDE.pdf (5.1.2023).
  2. Bei der Dritten Weltkonferenz der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) im schwedischen Lund 1952 wurde in einem Wort an die Kirchen das später als Begründung des „Lund-Prinzips“ bekannt gewordene Statement formuliert: “Should not our Churches ask themselves whether they are showing sufficient eagerness to enter into conversation with other Churches, and whether they should not act together in all matters except those in which deep differences of conviction compel them to act separately?”
  3. Die ACK Deutschland arbeitet auf nationaler Ebene und nimmt hier die Rolle eines nationalen Kirchenrates ein. Davon unabhängig sind die regionalen und die örtlichen ACKs. Die ACK Niedersachsen ist einerseits ein regionales Begegnungs- und Dialogforum der Kirchen untereinander, gleichzeitig aber zunehmend wichtig, wenn es den Kirchen darum geht, gemeinsam nach außen und gegenüber der Landespolitik aufzutreten.
  4. Pentekostal: pfingstlerisch; gemeint sind hier Gruppen der Pfingstbewegung.
  5. Basisformel (1961): Der ÖRK ist „eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
  6. Ein Beispiel für diesen Ansatz findet sich in der von der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands herausgebrachten Studie „Gott und die Würde des Menschen“.
  7. Insbesondere katholische und orthodoxe Kirchen könnten allerdings fragen, wieviel Sichtbarkeit von Einheit denn unverzichtbar sei. Was ist „sichtbare Einheit“: Gemeinsame Sendung, gemeinsamer Gottesdienst, gemeinsame Ämterstrukturen?
  8. Herausgegeben wurde die Studie von der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi): Berneburg/Hörsch (Hg.), Atlas neue Gemeindeformen, 24f.

 

Literatur

  • Berneburg, Erhard/ Hörsch, Daniel (Hg.): Atlas neue Gemeindeformen: Vielfalt von Kirche wird sichtbar, Berlin 2019
  • DBK/VELKD (Hg.): Gott und die Würde des Menschen, Paderborn/Leipzig 2017