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Gedankensprünge – Ein Diskussionsabend der Fächergruppe für die Oberstufe

von Rainer Merkel


Was ist Freiheit? Wie stehe ich zur Organspende? Können wir Frieden schaffen? Fragen dieser Art gehen uns alle etwas an. Vor allem aber werden sie in der Oberstufe sowohl im Religionsunterricht als auch im Philosophie- oder im Werte und Normen-Unterricht gestellt. Lasst uns gemeinsam diskutieren!


Die Idee

Ein solcher Diskussionsabend, der sich an die Oberstufenkurse (Jg. 11-13) richtet, fand erstmals 2017 an unserem Hainberg-Gymnasium in Göttingen statt. Seitdem ist er zur festen, jährlichen Tradition geworden. Ziel war und ist es, theologische und philosophische Perspektiven kennen zu lernen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Dazu braucht es Expertise und Dialog, also im Idealfall zwei philosophisch und theologisch qualifizierte Referent*innen, die eine Diskussion eröffnen. Die Moderation können die Schüler*innen selbst übernehmen. Und sie sollen aktiv mitdiskutieren. Den Rahmen setzt ein kleines Vorbereitungsteam von Lehrer*innen der Fachgruppen Evangelische/Katholische Religion, Werte und Normen und Philosophie. Dieses Team bestimmt in Absprache mit den Kursen die Fragestellung und lädt geeignete Expert*innen ein. Heiß sind abiturrelevante, im Dialog umstrittene oder aktuelle Fragen. Wenn Thema und Ablauf feststehen, bereiten sich alle, mehr oder weniger intensiv, im Unterricht inhaltlich vor – und freuen sich auf den konstruktiven Dialog: die „Gedankensprünge“.


Das Konzept

Die Struktur des zweistündigen Abends, zu dem auch das Kollegium und ggf. interessierte Eltern eingeladen sind, hat sich bewährt. Zunächst werden zwei Fachimpulse jeweils eine halbe Stunde vorgetragen und diskutiert. Anschließend gibt es einen offenen, von Schüler*innen moderierten Dialog „auf dem roten Sofa“. Die Sitzgruppe ist gut sichtbar auf dem Podium aufgebaut. Nach einer Weile darf sich auch das Publikum mit Fragen einschalten.

Ablauf

1.    Begrüßung, Vorstellung der Gäste (15 Min.)
2.    Impuls 1 und Diskussion (30 Min.) am Vortragspult
3.    Impuls 2 und Diskussion (30 Min.) am Vortragspult
4a.  schülermoderierte Diskussion der beiden Gäste
4b.  Diskussionsbeiträge aus dem Publikum (max. 45 Min., auf dem
       Podium Sitzgruppe)

Die Einstiegsimpulse sollen einfach und pointiert sein (10 Min., maximal (!) 15 Min.). Das ist wichtig, damit die Schüler*innen mit ihren Gedanken und Fragen wirklich zum Zug kommen. Kurze Murmelphasen geben dem Publikum Gelegenheit, die eigenen Gedanken zu sortieren. Am schwierigsten kalkulierbar ist die offene Diskussion im zweiten Teil des Abends. Manchmal ist nach 30 Min, alles gesagt und die Konzentration erschöpft. Manchmal aber erhalten wortgewandte Schüler*innen tosenden Szenenapplaus, ein*e Referent*in provoziert absichtlich Widerspruch und es entspinnt sich eine lebendige Diskussion, die nach vollen zwei Stunden fast gewaltsam beendet werden muss.


Die Voraussetzungen

Unser Hainberg-Gymnasium in Göttingen ist eine UNESCO-Projektschule. Vielfalt, Demokratie und wertschätzende Kommunikation werden großgeschrieben. Ein solcher Abend gelingt, weil es trotz eines klaren eigenen Profils der beteiligten Fächer nicht um ein Gegeneinander, sondern um den gemeinsamen Gewinn geht. Gedankensprünge stärken unsere Fächergruppe. Die Vorbereitung beruht auf einer klaren Struktur, auf guter, fächerverbindender Kommunikation unter den betreffenden Lehrer*innen und auf einer breiten Verteilung der Aufgaben, von der Themenwahl bis zur Evaluation des Abends mit den Lerngruppen, von der Anfrage bis zur Betreuung der beiden Gäste, von der Vorbereitung der Aula bis zum Aufräumen. Das Miteinander ist das A und O für die Koordination und Durchführung der Veranstaltung. Umgekehrt kann ein gelungenes Projekt wie die Gedankensprünge die Kooperation natürlich auch befördern. Es ist also ratsam, irgendwann einen Anfang zu setzen. Dabei müssen nicht alle Mitglieder der Fächergruppe mitziehen. Wenn allerdings Vorbehalte oder Konkurrenzen die gegenseitige Wahrnehmung dominieren, fehlt die nötige Basis. An unserer Schule haben wir unsere Fachkonferenzen synchronisiert, sodass wir mit einem gemeinsamen Konferenzteil beginnen können, bevor Religion einerseits und Werte und Normen / Philosophie andererseits separat tagen.

Eine zweite Voraussetzung ist das Interesse der Schüler*innen. Einerseits braucht es eine gewisse Verbindlichkeit, sonst kommt niemand. Andererseits sind zwangsrekrutierte Schüler*innen nicht bei der Sache. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, die Veranstaltung für manche Kurse als Unterricht zu deklarieren, der vom Vormittag auf den Abend verlagert wird, und zusätzlich weitere Kurse nach Freiwilligkeitsprinzip einzuladen. Ein Dreh- und Angelpunkt ist, ob die Schüler*innen sich mit dem Thema identifizieren und im Gegensatz zur passiven Zuschauerrolle aktiv und verantwortlich partizipieren wollen. Hervorragend gelang das etwa beim Thema „Organspende“.

Ein letzter Punkt ist das Finanzielle. Mit Fahrtkosten der Referent*innen, einem kleinen Honorar, dem Blumenschmuck in der Aula oder mit der Werbung und Dokumentation der Veranstaltung fallen Kosten an. Glücklicherweise können diese Aufwendungen unkompliziert durch Fördermittel der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers bestritten werden, sofern das Vorhaben rechtzeitig angemeldet wird.1


Eine Idee zum Nachmachen? – Resümee

Im Februar 2022 finden unsere Gedankensprünge zum fünften Mal statt. Die organisatorischen Abläufe sind inzwischen eingespielt. Ein schönes äußeres Zeichen unserer Arbeit ist es, dass zu jeder Veranstaltung nach Absprache mit dem Fach Kunst ein Plakat aus Schülerhand entsteht. Welche Erfahrungen haben wir im Einzelnen gemacht?

Alle vier Gedankensprünge waren etwas Besonderes. In der Schulöffentlichkeit wurde auf wissenschaftlichem Niveau diskutiert, und dazu waren zwei Expert*innen angereist, teilweise aus Berlin oder München. Das wissen die Schüler*innen zu schätzen. Namhafte Professor*innen, Mitglieder in Ethikkommissionen und Vertreter*innen aus Kirche und Staat zeigten ein hohes Engagement im Diskurs sowie die Bereitschaft, wiederzukommen. Natürlich haben wir auch einiges dazugelernt. Anfangs richtete sich der Fokus fast ausschließlich auf die Unterschiedlichkeit der Fachperspektiven. So standen mit dem Thema „Freiheit“ philosophisch die Frage der Willensfreiheit und theologisch die Frage nach dem gerechtfertigten Menschen zur Debatte. Damit waren zwei zentrale Diskurse beider Fächer eröffnet, die sich allerdings keineswegs selbstverständlich aufeinander bezogen. Beim Thema „Krieg und Frieden“ wiederum bestand die Aufgabe eher darin, unterschiedliche Positionen klar zu profilieren. Frieden wollen wir alle. Wie aber lässt sich eine theologisch verantwortete oder eben philosophisch fundierte Friedensethik konturieren? Damit ist eine Schlüsselfrage des Projekts berührt: In den Evaluationen wird immer wieder der Ruf nach mehr Kontroversität laut. Offensichtlich gibt es häufig keine scharfe Frontstellung zwischen Theologie und Philosophie (mehr). Den Referent*innen legen wir ans Herz, klare und einfache Positionen zu vertreten und sich nach Möglichkeit in aller Deutlichkeit von anderen Standpunkten abzugrenzen. Wir wollen jedoch keinen konstruierten Showkampf inszenieren, sondern zur echten, konstruktiven Auseinandersetzung einladen. Dabei kommen die Expert*innen zwar aus Theologie und Philosophie, sprechen aber zunächst für sich selbst. Häufig lernen wir von den Gedankensprüngen, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist, sondern vielfältig und bunt.

Hinterfragen lässt sich schließlich, welche Rolle das Fach Religion an einer allgemeinbildenden Schule und die Theologie in der Öffentlichkeit haben sollen. Immerhin gibt es, so könnte man einwenden, das Recht auf eine negative Religionsfreiheit: Wie viel Religion darf dem Publikum zugemutet werden? Anders verhält es sich mit den Fächern Philosophie und Werte und Normen, auf die sich erwartungsgemäß jeder einzulassen hat. Religion hat eine Sonderstellung. Ein dialogisch konzipierter Diskussionsabend wie die Gedankensprünge sind aber anders angelegt als das bekenntnisgebundene Unterrichtsfach Religion. Diese theoretischen Einwände sind also letztlich sophistisch. In der Praxis fällt allerdings auf, dass die Ausgangssituation nicht ganz symmetrisch ist. Einzelne Schüler*innen begegnen der Theologie mit grundsätzlicher Reserviertheit, sodass theologische Fachbegriffe oder biblische Grundlagen nicht mit derselben Unbefangenheit vorgetragen werden können wie etwa philosophische. Hier vollziehen sich wechselseitig ungeahnte Lernprozesse. Einerseits wird gelernt, einander aufgeschlossen und vorbehaltlos zuzuhören. Verschiedene Weltzugänge sind Teil des öffentlichen Lebens und auch Teil der Schulgemeinschaft. Das gilt nicht nur für UNESCO-Projektschulen, sondern ist grundlegende Demokratiebildung. Andererseits lernen die Vertreter*innen etwa der universitären Theologie, die Relevanz theologischer Erkenntnisse nicht nur für einen „inner circle“ zu formulieren, sondern auch an ein teilweise nicht-religiöses, „konfessionsloses“ Publikum zu adressieren. So wurde etwa unter dem Titel „Unsterblichkeit“ über neueste Forschungsansätze debattiert, die den Tod möglichst weit oder sogar komplett aus dem menschlichen Leben hinausschieben wollen. Eine Theologie, die angesichts dessen ausdrücklich mit Gott argumentiert, trifft nicht gerade auf ungeteilte Zustimmung. Dennoch ist völlig unbestritten, dass die Theologie etwas beizutragen hat, wenn es um das ewige Leben geht. Dafür muss sie eine passende Sprache finden und in den Dialog treten. Gedankensprünge: eine Idee zum Nachmachen also? Ohne Frage!

Anmerkungen

  1. www.kirche-schule.de/themen/foerdermittel.

Literatur

  • Nipkow, Karl Ernst: Religion und Ethik – Religionsunterricht und Ethikunterricht. Dialogpartnerschaft in einer zerstrittenen Welt, in: Nipkow, Karl Ernst (Hg.): Christliche Pädagogik und Interreligiöses Lernen, Friedenserziehung, Religionsunterricht und Ethikunterricht (Pädagogik und Religionspädagogik zum neuen Jahrhundert, Band 2). 2. Aufl., Gütersloh 2007, 351-369
  • Schröder, Bernd / Emmelmann, Moritz (Hg.): Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, Göttingen 2018