In dem Buch „Sofies Welt“1 bringt der norwegische Autor Jostein Gaarder Kindern und Jugendlichen die Geschichte der Philosophie mit all ihren zentralen Fragestellungen näher. Hauptprotagonistin ist das Mädchen Sofie, die eines Tages einen Brief mit unbekanntem Absender erhält, in dem ihr die Frage gestellt wird: „Wer bist Du?“. So entsteht der erste Kontakt zu ihrem Lehrer, der Sofie mitnimmt auf eine spannende Reise durch die Philosophie. Gleich zu Beginn dieser Reise geht es um die Frage, welche Fähigkeit gute Philosoph*innen brauchen und womit die Philosophiegeschichte letztlich begann. Sofies Lehrer gibt die Antwort: „Habe ich schon gesagt, dass die Fähigkeit, uns zu wundern, das einzige ist, was wir brauchen, um gute Philosoph*innen zu werden? Wenn nicht, dann sage ich das jetzt: Die Fähigkeit, uns zu wundern, ist das einzige, was wir brauchen, um gute Philosophen zu werden.“2
Am Anfang der Philosophie also war und ist immer wieder das Staunen und Sich-Wundern eines Menschen. Sofies Philosophielehrer führt weiter aus, es gehe darum, nicht zu den Menschen zu gehören, die die Welt für selbstverständlich halten, sondern danach fragen, was hinter den wunder-vollen Dingen unserer Welt liegt, woher sie kommen und warum sie überhaupt da sind. Um zu veranschaulichen, was er damit meint, steigt er sogleich in das Philosophieren ein, indem er Sofie in zwei Gedankenexperimente mit hineinnimmt.
„Stell dir mal vor …“ – Am Anfang steht ein Gedankenexperiment
„Stell Dir vor, Du machst eine Waldwanderung. Plötzlich entdeckst Du vor Dir auf dem Weg ein kleines Raumschiff. Aus dem Raumschiff klettert ein kleiner Marsmensch und starrt zu Dir hoch … Was würdest Du dann denken?“3 Sofies Philosophielehrer möchte, dass sie sich in dieser fiktionalen Szene in die Situation des Marsmenschen versetzt, der die Wunder unseres blauen Planeten, unserer Welt zum ersten Mal sieht und deshalb mit staunenden Augen wahrnimmt. Sofie wird dadurch (auf-)gefordert, aus einer neuen Perspektive heraus ihre Wahrnehmung ebenso wie ihre Gedanken neu zu ordnen und damit zu schärfen. Das ist das Hauptziel von Gedankenexperimenten. Sie haben ein hohes Potenzial zur Klärung von Gedanken, Gefühlen, Argumenten und Ansichten.
Gedankenexperimente beginnen meistens mit: „Stell dir mal vor …“ oder „Nehmen wir einmal an …“. Sie übernehmen den Gestus des naturwissenschaftlichen Experimentators. Es war Albert Einstein, der eine rein intellektuelle, auf der Vorstellung basierende Denkweise als „Gedankenexperiment“ bezeichnete. Es entspreche „psychologischen Entitäten […] mehr oder weniger klare[n] Bilder[n], die […] reproduziert und kombiniert werden können“ und sei als „kombinatorisches Spiel“ das „entscheidende Merkmal [meines) produktiven Denkens“4, so Einstein. Im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Gedankenexperimenten, bei denen die Gedankenexperimente in der Regel beispielsweise aus finanziellen, zeitlichen oder auch ethischen Gründen reale Experimente ersetzen, sind philosophische Gedankenexperimente jedoch nicht so angelegt, dass die reale Umsetzbarkeit zumindest denkbar ist oder auch nur relevant wäre. Vielmehr sind die so genannte kontrafaktischen Szenarien philosophischer Gedankenexperimente vielfach weit von der empirisch möglichen Realität entfernt5; so wie das Szenarium in „Sofies Welt“ mit dem Marsmenschen. Die Szenarien, die im Zentrum eines Gedankenexperiments stehen, können als „kontrafaktisch“6 bezeichnet werden, da es in einem philosophischen Gedankenexperiment eben nicht, wie bei hypothetischen Überlegungen, darum geht, Zusammenhänge der empirischen Realität aufzuklären. Vielmehr geht es darum, das eigene Verständnis von Begriffen, von Zusammenhängen ebenso wie subjektive Wahrnehmungen, Sichtweisen auf die Welt und letztlich auf sich selbst auf die Probe zu stellen, also zu hinterfragen, zu schärfen und möglicherweise zu korrigieren.7 „Aus diesem Grund ist es […] für die Formulierung guter Szenarien wichtig, im Spannungsfeld von Nähe und Abstand zur Wirklichkeit das richtige Maß zu finden.“8 Zudem wird ein philosophisches Gedankenexperiment, anders als entsprechende Szenarien in der Literatur oder im Film, kurz und knapp entworfen. Auf erzählerische, ausschmückende Details wird weitgehend verzichtet. Es wird nur das erzählt, was mit Blick auf die behandelte philosophische Frage relevant ist.9
Ein philosophisches Gedankenexperiment ist in der Regel folgendermaßen aufgebaut:
• Einleitung durch philosophische Fragestellung(en),
• kontrafaktisches Szenario,
• Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung(en)10,
• ggf. mögliche Probleme des Gedankenexperiments und sich daraus
ergebende weiterführende Fragestellung(en).
Gedankenexperimente sind als ureigene Methode des Philosophierens durch Jahrhunderte und Jahrtausende der menschlichen Geistesgeschichte hindurch als geeignetes Instrument erprobt, um das (Nach-)Denken des Menschen zu schärfen. Sie können geradezu in den Wahnsinn treiben und sind häufig verspielt.11 Erfahrungsgemäß sind sie aber gerade deshalb hoch motivierend und aktivierend. Es gibt zahlreiche Anlässe und Szenarien für Gedankenexperimente. Sie können durch Geschichten, durch Zitate, durch Filme, durch Karikaturen und vieles mehr angestoßen werden. Außerdem können sie bis hin zu Plan- und Rollenspielen ausgeweitet werden oder gar in ein Improvisationstheater münden. Es gibt zahlreiche Materialien und ganze Bücher, die klassische ebenso wie neue Gedankenexperimente vorstellen.12
Klassische Gedankenexperimente
In dem Werk „Politeia“13 des griechischen Philosophen Platon, in dem dieser über die Gerechtigkeit und ihre mögliche Verwirklichung in einem idealen Staat nachdenkt, finden sich zahlreiche Parabeln und Gleichnisse. Eines der bekanntesten dürfte das Höhlengleichnis sein. Weniger bekannt ist die Parabel „Der Ring des Gyges“. Beide lassen sich gut zu einem Gedankenexperiment bzw. zu einem kontrafaktischen Szenario innerhalb eines solchen umformulieren. Ein Gedankenexperiment zum Höhlengleichnis eignet sich gut, um ein Philosophisches Gespräch zu Fragen rund um Wahrheit, Wissen und Erkenntnis zu eröffnen (Philosophie von) oder im Verlauf eines solchen Diskurses als Konfrontation mit der Tradition (Philosophie für) oder als vertiefenden, aktivierenden Impuls (Philosophie mit) einzubringen. Die Parabel „Der Ring des Gyges“ bietet sich für ein Philosophisches Gespräch zu den Fragen an: Warum tun Menschen Gutes? Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Ist gutes Handeln im moralischen Sinne noch gut, wenn sie lediglich in der Angst vor Sanktionen oder der Aussicht auf eine Belohnung begründet liegt? Die zentralen Gedanken dieser Parabel dürfte vielen Jugendlichen ebenso wie (jungen und jung gebliebenen) Erwachsenen vertraut sein, weil sie zahlreiche Assoziationen mit dem Roman und Blockbuster „Herr der Ringe“, aber auch mit dem Tarnumhang Ignotius Peverells in der Roman-Reihe „Harry Potter“ anstoßen. Im Zentrum steht ein Ring, der seinen Träger unsichtbar macht, sobald er ihn auf den Finger zieht und dreht. Die Gestaltung eines Einstiegs in ein Philosophisches Gespräch mit einem Gedankenexperiment, in dessen Zentrum ein kontrafaktisches Szenario nach der Vorlage der Parabel des Gyges steht, findet sich im Materialanhang zu diesem Artikel (M 1).14
Neuere Gedankenexperimente
Philosophische Gedankenexperimente müssen nicht immer über das Medium Text angestoßen werden. Hervorragend zum philosophischen Experimentieren mit Gedanken eignet sich als Medium die Reihe #filosofix des SRF Kultur. In dieser Reihe befinden sich mittlerweile 49 Beiträge, die bei YouTube verfügbar sind. Am bekanntesten davon dürfte das so genannte Trolley-Problem15 sein, bei dem es sich im Kern um ein ethisches Dilemma handelt, das im Gedankenexperiment verdichtet und zugespitzt ist. Für ein Philosophisches Gespräch zur der Frage „Kann die Existenz Gottes bewiesen werden? Oder kann sie widerlegt werden“ findet sich bei #filosofix das Gedankenexperiment „Teekanne“16. Mit ihm können weitere Fragen und Diskurse angestoßen werden wie z.B.: Aus welchem Grund glauben Menschen an Gott oder eben auch nicht? Einen Ausflug ins philosophische Wunderland der Liebe gewährt darüber hinaus das Gedankenexperiment „Liebespille“17. Mit dem Gedankenexperiment „Mary“18 wird die Frage nach dem Ich, dem (Selbst-)Bewusstsein, nach dem menschlichen Geist und der Seele gestellt. Es finden sich zahlreiche weitere Gedankenexperimente in der Reihe #filosofix, aufbereitet als zwei bis vier minütige Videos sowie vertieft in Experteninterviews, Selbsttests und Interviews mit Prominenten zu den gezeigten Gedankenexperimenten: eine echte Schatzkiste zum Philosophieren mit Gedankenexperimenten.
Wieso, weshalb, warum? – Am Anfang steht eine Frage
Am Anfang, im Verlauf ebenso wie am Ende des Philosophischen Gesprächs stehen Fragen; und zwar die großen Fragen, die den Menschen „unbedingt angehen“, weil sie ihn in seiner gesamten Existenz betreffen. Es geht um die Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin und Wozu des Seins. Wer diese Fragen stellt, möchte sich nicht damit abfinden, was ihm vor Augen liegt. Wer so philosophisch fragt, nimmt seine (Um-) Welt sowie das eigene Leben darin nicht für selbstverständlich, sondern staunend wahr und möchte deshalb hinter die Dinge schauen, in ihre Tiefe und immer besser verstehen lernen, warum, woher, wohin und wozu dieses Leben in dieser Welt? Wer fragt, sucht also nach tieferer Erkenntnis und nach Weisheit.
Der altgriechische Philosoph Sokrates beherrschte das Philosophische Gespräch wie kein anderer. Bekannt wurde Sokrates durch seine Dispute mit den Vertretern des Sophismus. Die Kunst der Sophisten bestand darin, ihre Gegner mit ihrer glänzend geschulten Rhetorik schwindelig zu reden, so dass niemand mehr wagte genauer nachzufragen. Sokrates hingegen fragte nach. Er bohrte nach und nervte seine rhetorisch gewandten Gegner mit seinen Fragen solange, bis sie zum Kern und zum Ursprung der Gedanken vorgestoßen waren. Sokrates Methode war im Grunde ganz einfach. Er handelte nach dem Prinzip: Wer fragt, der führt das Gespräch. Er stellte also Fragen. Doch nicht nur das. Seine Kunst bestand darin, die richtigen Fragen zu stellen. Seine Fragen waren erkenntnisleitend. Das bedeutet, er führte seine Gegner*innen genauso wie die Zuhörer*innen mit seinen gezielten Fragen zu neuen Erkenntnissen. Seine Fragen waren so formuliert, dass ihre spätere Beantwortung auch tatsächlich philosophischen Charakter hatte, also einen Erkenntnisfortschritt enthielten.19
Philosophische Fragen in diesem sokratischen Sinne sollten folgende Merkmale aufweisen: Sie sollten:
• offen und problematisch sein. Im Laufe der Erarbeitung müssen verschiedene Antwortmöglichkeiten einander gegenübergestellt werden. Die Fragen müssen deshalb auf ungelöste Problemstellungen zielen und nicht auf Fakten, die beispielsweise im Lexikon nachzuschlagen sind. Die Frage zum Beispiel: „Wie heißt die Hauptstadt von Deutschland?“ ist keine geeignete philosophische Frage.
• präzise sein. Die Fragen sollten sich konkret auf ausgewählte Problemfelder beziehen, also wiederum nicht zu offen gestellt sein. Die Frage zum Beispiel: „Was sollen wir tun?“ ist zu allgemein, da sie sich auf kein bestimmtes Problemfeld bezieht.
• so gestellt sein, dass sie auch beantwortet werden können. In der Philosophie wird zwar gern gedanklich spekuliert, doch erkenntnisleitende Fragen sollten nicht im spekulativen Bereich liegen. Eine Argumentation führt dann nämlich zu Absurditäten. Die Frage zum Beispiel: „Was denken Steine?“ ist absurd.
• systematisch sein. Philosophische Fragen stellen Theorien und Ideen einander systematisch vergleichend nebeneinander und zeigen dabei die jeweiligen Vor- und Nachteile auf. Historische Fragen sind als philosophische Fragen nicht geeignet. Sie können lediglich der sachlichen Überprüfung von Grundannahmen dienen. So zum Beispiel die Frage: „Wie entstand die Bibel in ihrer heutigen Fassung?“20
Das sokratische Gespräch mit erkenntnisleitenden Fragen lässt sich konkret in der sog. „Inquiry“-Methode anwenden, die es im Detail in unterschiedlichen Varianten gibt. Grundsätzlich ist diese Methode in sieben Schritten aufgebaut. Diese finden sich als Anleitung im Materialanhang zu diesem Artikel (M 2).21
Inquiry-Methode mit dem World Press Photo 2021 als Stimulus
Auf dem (nebenstehenden) Foto des dänischen Fotografen Mads Nissen ist die 85-jährige Rosa Luzia Lunardi zu sehen, die von der Krankenschwester Adriana Silvia da Costa Souza umarmt wird. Für Lunardi, die in einem Pflegeheim in Sao Paulo wohnt, ist es nach fünf Monaten der Corona-bedingten Isolation die erste Umarmung. Möglich ist dies nur durch einen Umarmungsvorhang, der eine Ansteckung verhindern soll. Mads Nissen erhielt für sein Foto den Hauptpreis für das „World Press Photo 2021“.Ausgehend von diesem Foto können sehr verschiedene philosophische Fragen gestellt werden. Beispielsweise eine konkrete ethische Entscheidungsfrage: Ist es ethisch zu rechtfertigen, alte Menschen zu ihrem eigenen Schutz über Monate hinweg zu isolieren? Daran geknüpft sind weitere zahlreiche philosophische Fragen, die sich um die zentrale Frage der Anthropologie drehen: Was ist der Mensch? Was braucht der Mensch zum Leben? Was bedeutet es, bis zum Schluss ein Leben in Würde leben zu können? Reicht für ein Leben in Würde der Schutz der körperlichen Gesundheit?
In diesem Kontext ließe sich vertiefend über den Bibelvers nachdenken: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.” (5. Mose 8,3; Mt 4,4) Demnach zählen nicht allein die Primärbedürfnisse des menschlichen Körpers wie Nahrung, Kleidung und Gesundheit, sondern gleichermaßen die Bedürfnisse der menschlichen Seele wie Nähe, Wertschätzung, Respekt und Liebe.
„Keep calm and think!“ – Am Anfang steht eine Provokation
Eine Provokation war die Philosophie selbst schon von ihren Anfängen an. Altgriechische Philosophen wie Sokrates und der Kyniker Diogenes von Sinope waren leibhaftige Provokationen. Diogenes beispielsweise verstieß immer wieder gerne öffentlich gegen herrschende Konventionen und hauste in einem großen Fass. Er trug einen großen Wollmantel, darunter war er nackt. Alexander den Großen soll er aufgefordert haben: „Geh mir aus der Sonne“, als dieser ihn aufsuchte und ihn nach seinen Wünschen fragte.22
Nun geht es beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen gewiss nicht darum, sie dazu aufzufordern, offen gegen Regeln und Konventionen zu verstoßen oder womöglich sogar (religiöse) Gefühle anderer zu verletzen. Die Provokation kann jedoch als Impuls am Anfang des Philosophischen Gespräches durch die Lehrperson erfolgen. Sie kann eine provokante These aufstellen oder eine provokante Aussage zitieren. Möglich sind auch Provokationen durch Kleidungsstücke, Accessoires oder überraschende Gesten und Handlungen. Auch Filme und Bilder, vor allem aber Parodien und Karikaturen eignen sich als Provokationen.
Darüber hinaus ist denkbar, dass sich die gesamte Lerngruppe eine provokante Aktion überlegt, mit der sie Reaktionen und Verhaltensweisen anderer Menschen provozieren und damit zum Nachdenken anregen möchte. Allerdings bleibt die Provokation immer als Balanceakt zwischen erwünschter Provokation und Grenzüberschreitung eine sensible Herausforderung.
Darf man das? – Provokation durch Jesus-Parodien
Vor allem Satire, Karikaturen sowie Parodien sind per se Provokationen. Rund um die Frage „Darf man das?“ bzw. konkret: „Darf Satire alles? Muss es Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit geben?“ können Jesus-Parodien als Provokation an den Anfang eines Philosophischen Gespräches gestellt werden: zum Beispiel „Terminator Jesus parody“ von MAD TV23. Screenshots aus dem Video sowie mögliche Impulse für den Einstieg sowie zur Vertiefung des Diskurses in Verbindung mit dem allgemein als „Blasphemie-Paragraf“ bezeichneten § 166 Strafgesetzbuch (STGB) finden sich im Materialanhang zu diesem Artikel (M 3). Als möglicherweise weitaus stärkere Provokation kann die Jesus-Parodie „Jesus Christ – The Musical (I will survive)”24 gesehen werden. Hier bedarf es allerdings im Vorfeld der Abwägung, ob damit für einige Teilnehmende am Philosophischen Gespräch eine Grenze zur Verletzung religiöser Gefühle überschritten werden könnte; möglicherweise auch für die Lehrperson selbst.
„Was verstehst du darunter? Definiere!“ – Am Anfang steht das Präzisieren von Begriffen
Die Definition von Begriffen ist der Präzisierung von Formulierungen und Wörtern sehr verwandt. Während es sich bei Präzisierungen jedoch lediglich um Feststellungen handelt, haben Definitionen eine strengere Form. Sie sind Verabredungen. Für eine Diskussion wird verabredet, dass eine bestimmte Definition für einen Begriff in einem bestimmten Kontext gelten soll. Seit alters her ist das Definieren eine zentrale philosophische Beschäftigung, die nicht selten bei Außenstehenden verständnisloses Kopfschütteln auslöst nach dem Motto: Muss man das denn nun so genau festlegen?25
Ja! In Diskussionen entstehen oftmals Missverständnisse und es wird aneinander vorbei geredet, wenn Begriffe unterschiedlich verwendet und aufgefasst werden, ohne dass dies den Gesprächsteilnehmenden klar ist. Die gemeinsame Einigung auf eine Definition, auf die die folgende Diskussion aufbauen soll, ist oftmals äußerst erhellend und hilfreich für klare Argumentationen und Gedankenführungen. Nicht selten ist der Einigungsprozess hin zu einer gemeinsamen Definition bereits selbst der Anlass für eine vertiefende und ausführliche Debatte, kommen doch bereits hier sehr kontroverse Weltdeutungen zum Ausdruck. Was zum Beispiel ist „Religion“? Wenn diese Frage gestellt wird, werden die Augen nicht weniger Gesprächsteilnehmenden groß: Das ist doch klar, oder? Was soll diese Frage? Wenn ihnen jedoch klar wird, dass dieser Begriff alles andere als klar ist, dann sind alle bereits mittendrinn in der nicht selten konfliktreichen Debatte rund um das Phänomen und den Begriff Religion. Ähnlich kontroverse Diskurse löst bereits das Ringen um eine Definition von Begriffen wie beispielsweise Demokratie, Freiheit oder Toleranz aus.
Der Einstieg in einen gemeinsamen Verständigungsprozess auf eine Definition kann damit erfolgen, dass die Gesprächsteilnehmenden gebeten werden, zu ausgewählten Definitionen, die es bereits gibt, im wahrsten Sinne des Wortes einen Standpunkt einzunehmen. Im Raum sind mehrere Definitionen auf Zetteln verteilt. Die Gesprächsteilnehmenden sollen sich nun zu der Definition stellen, die ihrer eigenen am nächsten kommt oder der sie gar nicht zustimmen können. Sie werden aufgefordert, ihren Standpunkt zu begründen. Anschließend kann beispielsweise ein Blick auf die Etymologie und ggf. auf die Verwendung des Wortes in der Geschichte zu einer ersten Klärung verhelfen, bevor in den offenen Diskurs eingetreten wird, an dessen Ende jedoch eine (vorläufige) Vereinbarung auf eine gemeinsame Definition stehen sollte, um das Philosophische Gespräch weiter zu vertiefen zu können.
Glaubst du noch oder denkst du schon? – Was heißt eigentlich Glauben?
Was meine ich eigentlich, wenn ich sage: „Ich glaube“? Was ist Glaube? In welchem Verhältnis stehen Wissen und Glauben? Die Schweizer Theologen Fritz Oser und Paul Gmünder haben ausgehend von ihren Forschungsarbeiten zur Entwicklung des religiösen Urteils und der Mensch-Gott-Beziehung auf einer dritten Entwicklungsstufe bei ca. Zwölf- bis 16-Jährigen eine überwiegende „Absolute Autonomie“ festgestellt. In ersten Stufenmodellen stand an dieser Stelle auch der Begriff Deismus. In diesem Alter ist bei vielen Heranwachsenden, vor allem bei solchen Mittel-/Nordeuropas, an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend festzustellen, dass sie einen allmächtigen Gott zunehmend von ihrer (Erfahrungs-)Welt trennen und nicht (mehr) damit rechnen, also nicht glauben, dass ein wie auch immer vorzustellender Gott in ihre Welt, in ihr Leben hineinwirke. Sie zweifeln daher traditionelle religiöse Glaubensvorstellungen an und meinen meistens, Wahrheit ausschließlich in „der Wissenschaft“ finden zu können. Spannend sind deshalb insbesondere mit Jugendlichen in diesem Alter Philosophische Gespräche über erkenntnistheoretische Grundfragen: Was kann ich wirklich wissen? Schließen Wissen und Glauben einander aus?26 Gibt es Unterschiede zwischen Glauben im Sinne von Vermuten / Ahnen und religiösem Glauben? Materialien mit Impulsen zu diesen Fragen und zu Klärung des Begriffs Glauben finden sich im Anhang zu diesem Artikel (M 4).
Ausblick: Am Ende steht ebenfalls das Staunen
Wer mit Philosophischen Gesprächen beginnt, wird an kein Ende kommen. Wer doch meint, an ein Ende gekommen zu sein, also alle Antworten auf die großen Fragen gefunden zu haben, hat etwas falsch gemacht. Das lässt sich so klar sagen. Denn Philosophieren bedeutet: fragen, hinterfragen und immer weiter fragen und – weiter staunen und sich wundern.
Anmerkungen
- Gaarder, Sofies Welt. (Hervorhebung im Original)
- A.a.O., 23.
- A.a.O., 24.
- Einstein, zitiert nach Levy, Paradoxien und Gedankenexperimente, 13.15.
- Vgl. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, 19f.
- Ebd.
- In dem von Georg W. Bertram herausgegebenen Lese- und Studienbuch zu philosophischen Gedankenexperimenten werden drei Typen unterschieden: 1. Erklärende Gedankenexperimente, 2. Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen, 3. Gedankenexperimenten zur Schärfung und Innovation von Begriffen.
- A.a.O., 16.
- Vgl. a.a.O., 19.
- Vgl. a.a.O., 18.
- Vgl. Levy, Paradoxien und Gedankenexperimente, 14.
- Vgl. hierfür das Literaturverzeichnis im Anschluss an diesen Praxisartikel.
- Altgriechisch Πολιτεία; lateinisch: Res publica; deutsch: Der Staat.
- Eine komplette Unterrichtseinheit zu der Parabel „Der Ring des Gyges“ als Gedankenexperiment mit zahlreichen Materialien findet sich bei Marschall-Bradl, Der Ring des Gyges auf dem Prüfstand.
- „Straßenbahn – das philosophische Gedankenexperiment“ #filosofix: https://youtu.be/MhOJp1DcabM
- „Teekanne – das philosophische Gedankenexperiment“ #filosofix: https://youtu.be/TwnWnl3kf1I
- „Liebespille“ – das philosophische Gedankenexperiment“ #filosofix: https://youtu.be/eqr75CUQUL8
- „Mary“ – das philosophische Gedankenexperiment“ #filosofix: https://youtu.be/3Me1YDYK6tw
- Vgl. Klager, Das Philosophieren fragend beginnen, 7.
- Vgl. Klager, Das Philosophieren fragend beginnen, 7.
- Ein Anwendungsbeispiel für die Inquiry-Methode findet sich bei Harder, Die Wahrheit beginnt zu zweit, 180f.
- Vgl. Soentgen, Selbstdenken!, 13f.
- Bei YouTube: https://youtu.be/clF1xeXssIo
- Bei YouTube: https://youtu.be/w42ycMkAhVs
- Vgl. Soentgen, Selbstdenken, 87.
- Materialien zu dem Verhältnis Meinen-Glauben-Wissen finden sich bei Harder, Die Wahrheit beginnt zu zweit, 179 und 183f.
Literatur
- Bertram, Georg W. (Hg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, 2. Auflage, Stuttgart 2012
- Gaarder, Jostein: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie, aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs, München/Wien 1993
- Harder, Christina: Die Wahrheit beginnt zu zweit! Philosophieren und Theologisieren mit Jugendlichen, in: Leonhard, Silke/ Rabe, Kirsten (Hg.): Respektvolle Vielfalt und starkes Miteinander, Loccumer Impulse 20, Rehburg-Loccum 2021, 171-184
- Klager, Christian: Das Philosophieren fragend beginnen, in: Bekes, Peter u.a. (Hg.): Praxis Philosophie & Ethik 4/2015 – Mit dem Philosophieren beginnen, Braunschweig 2015, 7-13
- Levy, Joel: Paradoxien und Gedankenexperimente, Köln 2017
- Marschall-Bradl, Beate: Der Ring des Gyges auf dem Püfstand, in: Bekes, Peter (Hg.): Praxis Philosophie & Ethik 5/2015, Gedankenexperimente, Braunschweig 2015, 15-20
- Soentgen, Jens: Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie, Weinheim 2012