Die Anfänge der Gerechtigkeit
„»Gerechtigkeit« ist das Megathema unserer Zeit.“2 Es geht um Klimagerechtigkeit, Gerechtigkeit zwischen den Generationen, soziale Gerechtigkeit, Gendergerechtigkeit und viele Formen von Gerechtigkeit mehr. Intuitiv wissen wir, was Gerechtigkeit ist. Dennoch fällt es nicht leicht, eine Definition von Gerechtigkeit zu geben. Was können wir über Gerechtigkeit sagen?
Gerechtigkeit setzt Gleichheit voraus. Friedrich Nietzsche schreibt in Menschliches, Allzumenschliches:
„Ursprung der Gerechtigkeit. – Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, […] wo es keine deutlich erkennbare Übergewalt gibt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man gibt Jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit.“3
Gerechtigkeit folgt gewissermaßen einer egoistischen Haltung: Das Individuum möchte etwas für sich, braucht dazu aber ein Einverständnis und Entgegenkommen eines anderen Individuums. Gerechtigkeit gibt es nur zwischen Menschen mit einigermaßen gleicher Stellung. Im antiken Griechenland ist der Begriff der Gerechtigkeit nur zwischen Gleichen sinnvoll. Zwischen Herr und Sklave kann es keine Gerechtigkeit geben. Ebenso wenig zwischen Mann und Frau, Schüler*in und Lehrer*in etc. Eine Theorie der Gerechtigkeit kann hier nicht stehenbleiben. Es gibt die Unterschiede zwischen den Menschen, ja. Es sind nicht alle gleich. Galt daher für Platon noch der klare Grundsatz: Jedem das Seine, so differenziert bereits Aristoteles zwischen individueller und sozialer Gerechtigkeit und „unterschied zwischen der ausgleichenden Gerechtigkeit (z.B. bei Tauschgeschäften) und der austeilenden Gerechtigkeit (z.B. um Benachteiligte zu unterstützen)“4.
Bei allem, was sich seither geändert hat, bleibt dies doch ein Merkmal der Gerechtigkeit: Ihr liegt Gleichheit zugrunde. Vor dem Gesetz sind deshalb alle gleich. Und da, wo Ungleichheit herrscht, ist Gerechtigkeit kaum herzustellen. Deshalb kann es streng genommen keine Gerechtigkeit zwischen Gott und Mensch geben.
Dieses Prinzip spielt auch im Klassenzimmer eine Rolle. Gerechtigkeit zwischen Lehrer*in und Schüler*innen ist nur begrenzt möglich. Es ist möglich, dass die Schüler*innen gerecht behandelt werden – also alle gleich. Umgekehrt würde man kaum von den Schüler*innen erwarten, dass sie ihre Lehrer*innen gerecht behandeln. Jene können sich aber untereinander gerecht behandeln, da zwischen ihnen eine gewisse Gleichheit herrscht.
Gerecht ist also, was gleich bzw. ausgewogen ist. Gerechtigkeit herzustellen hieße, Gleichheit herzustellen. Gerecht ist zudem, was gut ist. Gerechtigkeit gilt als höchste Tugend: „Wahrlich, niemand hat in höherem Grade einen Anspruch auf unsere Verehrung als der, welcher den Trieb und die Kraft zur Gerechtigkeit besitzt.“5 Gerechtigkeit ist eng mit der Wahrheit verknüpft. Wer nach Wahrheit strebt, muss gerecht sein, um eben vom Egoismus abzusehen und nach allgemeiner Wahrheit zu suchen.
Eine Theorie der Gerechtigkeit
Wenn Gerechtigkeit Gleichheit voraussetzt, kommt sie schnell an ihre Grenzen. In einer Gesellschaft sind nun mal nicht alle Menschen gleich – im Gegenteil. In einer diversen Gesellschaft ist Gleichheit kaum herzustellen.
John Rawls hat in seinem 1971 erschienen Buch A Theorie Of Justice auf dieses Problem zu reagieren versucht. Er unterscheidet zunächst formale und substanzielle bzw. inhaltliche Gerechtigkeit. Formale Gerechtigkeit kann dem Prinzip der Gleichheit folgen. Diese Gerechtigkeit wird sichtbar in der Summe aller Regeln, an die sich Menschen in einer Gesellschaft halten müssen. Zuwiderhandlungen werden bestraft. Hier sind alle gleich. De facto sind Menschen aber nicht gleich. Deshalb kann es nach Rawls auch kein allgemein gültiges Rechtssystem geben, das immer und überall für Gerechtigkeit sorgt. Neue Erkenntnisse, z.B. die Gleichstellung von Mann und Frau, führen zu neuen Regeln und damit zu neuen Formen der Gerechtigkeit. Regeln der Moral lassen sich nicht für alle gleich in einem Gesetz festschreiben. Rawls Ansatz ist deshalb nicht überholt. Er kann neuen Gesichtspunkten angepasst werden.
So entwirft die Theorie der Gerechtigkeit um 1970 herum eine Theorie einer gerechten Marktwirtschaft, kann heute aber neben ökonomischen Faktoren auch stärker ökologische und soziale Gesichtspunkte in den Blick nehmen. Sofern Gerechtigkeit dem Wohlergehen aller Menschen dienen soll, ist es notwendig, Menschen unterschiedlich zu behandeln, da eine Gleichbehandlung dazu führen kann, dass einige Menschen bevorteilt werden. Der Matthäus-Effekt – wer hat, dem wird gegeben (Mt 24,29) – ist nicht gerecht, entsteht aber da, wo die Regeln des Marktes grundsätzlich für alle gleich sind.
Rawls fragt nun danach, welche Regeln eine Gruppe von Menschen in einem sogenannten Urzustand aufstellen würde7, die jeweils einzeln nicht wissen, welchen Platz sie später in der Gesellschaft einnehmen werden, für die sie die Gesetze gemacht haben. Sie kennen also nicht ihr soziales oder biologisches Geschlecht, ihre Hautfarbe, ihre Fähigkeiten oder das Milieu, aus dem sie stammen. Rawls spricht hier von einem Schleier des Nichtwissens, unter dem die Gesetze bzw. Regeln entstehen.
Auch hier ist Egoismus ein gewollter Faktor. Die Individuen unter dem Schleier des Nichtwissens werden an sich denken und einer Gesellschaft Regeln geben, die ihnen selbst in jedem Fall nützen. Dazu müssen sie alle möglichen gesellschaftlichen Stellungen ins Auge fassen. Da sie selbst dann nur genau eine Stellung einnehmen werden, haben sie aber letztlich an alle anderen Individuen gedacht, die diese anderen Stellungen einnehmen könnten. Wenn alle an sich denken, ist so gesehen an alle gedacht.
Grundsätzlich, so die These, würden die Menschen im Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens zwei Grundregeln aufstellen:
- Jeder Mensch „soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist“8.
- Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass
• vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie allen zum Vorteil
dienen, und
• sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen offen
stehen.9
Der erste Grundsatz bezieht sich wiederum auf die für Gerechtigkeit notwendige Gleichheit vor Recht und Gesetz bzw. stellt diese sicher. Der zweite Grundsatz bedenkt, dass in jeder Gesellschaft Ungleichheit herrscht, die nicht einfach durch Regeln abgeschafft werden kann. Beide Grundsätze beziehen sich nicht zwingend auf die Gesamtheit aller Menschen. „Man kann sich eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung einer wohlgeordneten menschlichen Gesellschaft vorstellen.“10 Es wäre also zu prüfen, ob wohlgeordnete Gesellschaften immer nur Teile der Menschheit verbinden oder ob auch die gesamte Menschheit global als wohlgeordnete Gesellschaft betrachtet werden kann, auf die sich dann die Grundsätze der Gerechtigkeit beziehen ließen.
Insgesamt versteht Rawls Gerechtigkeit als eine Haltung der Fairness. Individuen gehen fair miteinander um, gerade auch da, wo eindeutige Regeln bzw. Gesetze fehlen. Und auch hier: „In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit“ eine wesentliche Rolle, d.h. Fairness geht von einer grundsätzlichen bzw. ursprünglichen Gleichheit der Menschen aus. Hier ließe sich schöpfungstheologisch anknüpfen. „Die natürliche Verteilung ist weder gerecht noch ungerecht […]. Gerecht oder ungerecht ist die Art, wie sich die Institutionen angesichts dieser Tatsache verhalten.“11 Das Prinzip der Fairness ist darauf angelegt, „daß unverdiente Ungleichheiten ausgeglichen werden sollen“12.
Die Entdeckung des Schönen
Das englische Wort fair bedeutet sowohl gerecht als auch schön. Dies „ist ein eindrücklicher Hinweis, dass Schönheit und Gerechtigkeit ursprünglich auf derselben Vorstellung angesiedelt waren. Die Gerechtigkeit wird als schön empfunden.“13 Auch hier kann auf das antike griechische Denken verwiesen werden: „Gerechtigkeit wird angestrebt aufgrund ihrer Schönheit.“14
Die Schönheit, die sich der Gerechtigkeit zeigt, liegt in ihrer Symmetrie. „Das gerechte Verhältnis schließt notwendig eine symmetrische Beziehung ein.“15 Mit anderen Worten: Gerechtigkeit setzt ein Maß an Gleichheit voraus, das nicht unterschritten werden kann. Wird die Asymmetrie zu groß, schwindet die Schönheit; etwas wird hässlich. Umgekehrt braucht es keine absolute Symmetrie, damit wir etwas als schön empfinden. Fairness im doppelten Wortsinn als Gerechtigkeit und Schönheit braucht ein gewisses Maß an Symmetrie.
Theologische Schlaglichter
Die bisherigen Überlegungen sind theologisch stimmig und müssen nicht ergänzt werden. Knapp gesagt, kann die Gerechtigkeit auch theologisch als das verstanden werden, was wahr und gut und schön ist.
Christliche Theologie nivelliert nicht die Unterschiede zwischen Individuen, zielt jedoch darauf ab, Gleichheit herzustellen. Individuen sind christlich gesprochen aufgefordert, sich fair, das heißt: freundschaftlich gegeneinander zu verhalten. Sie „kennen keine Rangunterschiede, sie sind verbunden durch Vertrauen, Verlässlichkeit und Beistand“16.
Gerechtigkeit kann, wo sie sich ereignet, als Wirkung des Heiligen Geistes und damit als Handeln Gottes verstanden werden.17 Damit ist auf eine Unverfügbarkeit der Gerechtigkeit verwiesen. Der Heilige Geist weht, wo er will. Gerechtigkeit lässt sich zwar grundsätzlich herstellen aber nie erzwingen. Der Versuch, Gerechtigkeit herzustellen, kann scheitern. „Besser wird die Welt allein dadurch, dass Gott «von selbst» in ihr gegenwärtig wird.“18 Dennoch soll der Mensch zuallererst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit streben (Mt 6,33).
Der Heilige Geist beruft Menschen zur Gerechtigkeit.19 Auch in theologischer Hinsicht gilt zunächst der erste Artikel der Menschenrechtserklärung: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“20 Es kommt aber hinzu, dass der Schutz der Schwachen besonders in den Blick gerät. Die Theologie bzw. die christliche Religion übersieht nicht, dass der Mensch immer auch auf Kosten von anderen lebt, es also immer einen Ausgleich geben muss zwischen eigenen Interessen und denen der anderen. Die „klare Option für die Schwächeren und Armen“21 ist dabei biblisch zentral.
Die Theologie bietet Möglichkeiten an, wie Gerechtigkeit wiederhergestellt werden kann: Sühne und Versöhnung. Sühne besteht aus mehreren Elementen: „aufrichtige Reue und offenes Bekenntnis, Bitte um Vergebung und Taten, die nichts wiedergutmachen, wohl aber Zeichen der Verantwortungsübernahme sind“22. Um Gerechtigkeit wiederherzustellen, muss dem Individuum der Abbruch der Gerechtigkeit also leidtun, und es muss sich offen zum Bruch der Gerechtigkeit bekennen. Reue kann aber auch darin bestehen, dass eine Gruppe von Menschen an einer ungerechten Situation leidet, die sie selbst geschaffen hat. Das Bekenntnis bestünde dann darin, das Problem zu benennen und die eigene Verantwortung dafür (Schuld) einzugestehen. Hat ein Individuum die Gerechtigkeit gegenüber einem anderen verletzt, kann es um Vergebung bitten. Hat eine Gruppe sich in eine ungerechte Situation gebracht, kann der Wunsch nach Vergebung auch gemeinschaftlich geäußert werden. Wo das möglich ist, kann hier die Sprache des Gebets Hilfestellung sein. So greifen die Psalmen immer wieder „das Scheitern der Frommen auf dem Weg der Gerechtigkeit“23 auf.
Schließlich braucht Sühne auch die Tat. Dabei wird meist nicht die alte, zerstörte Gerechtigkeit wiederhergestellt, es wird also nichts wiedergutgemacht, sondern es wird Verantwortung übernommen, um etwas neues Gutes zu schaffen. Das Ergebnis ist dann eine versöhnte Situation, in der Symmetrie wiederhergestellt ist. „Versöhnung ist eine Form der Gegenwart des Heiligen Geistes in der Welt.“24
Gerechtigkeit in der Bibel
In der Bibel wird Gott zunächst als Garant der Gerechtigkeit beschrieben. Er behandelt alle Menschen gleich. Sie sind alle seine Geschöpfe. Gottes Gerechtigkeit steht wie die Berge, die er geschaffen hat (Ps 36,7). Gottes Herrlichkeit führt dazu, dass sich Gerechtigkeit und Frieden küssen (Ps 85,11). Das ist biblisch betrachtet im Grundsatz das Ziel der Gerechtigkeit: dass Frieden herrscht (Jes 32,17).25 Auch Gottes Gerechtigkeit ist vom Prinzip der Symmetrie bestimmt: Er hat Gerechtigkeit zur Waage gemacht (Jes 18,17). Schließlich sollen die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, satt werden (Mt 6,6).
Auffällig ist, dass Gottes Gerechtigkeit die menschliche Gerechtigkeit auf eine geradezu störende Weise übersteigt. Gott ist nicht nur gerechter als Menschen. Er ist anders gerecht, d.h. seine Gerechtigkeit scheint menschlichen Vorstellungen zuweilen zu widersprechen: Der Brudermörder Kain wird unter Gottes besonderen Schutz gestellt und entgeht damit einer – gerechten? – Strafe (Gen 4,1ff.). Wo Menschen ein symmetrisches Zusammenleben gestalten wollen – mit einer Sprache in einer Stadt – da greift Gott ein und schafft Unterschiede, die dazu führen, dass die Menschen sich zerstreuen. (Gen 11,1ff.)
Gott schlägt sich auf die Seite von Jakob, der seinen Bruder und seinen Vater ungerecht behandelt hat, und verwirklich an ihm und nicht an Esau seinen Plan des Gottesvolkes (Gen 28,10ff.). Dabei gibt Gott aber seine Stellung als Garant der Gerechtigkeit nie auf. So bleibt er zwar David treu verbunden, nachdem dieser Urija in den Tod geschickt hatte, um dessen Frau Batseba heiraten zu können. David wird jedoch empfindlich gestraft (2. Sam 11f.). Es wird also auch zwischen den Menschen wieder Gerechtigkeit hergestellt.
Jesus rät seinen Jünger*innen, sich mit dem Geld, an dem so viel Unrecht haftet, Freund*innen zu machen. Als Beispiel führt er einen Verwalter an, der den Schuldnern seines Herrn unerlaubt Schulden erlässt, um diese für sich einzunehmen. (Lk 16,1ff.).
In einem anderen Gleichnis beschreibt Jesus Gott als jemanden, der anders als jeder vernünftige Geschäftsmann handelt und allen Angestellten am Ende des Tages den gleichen Lohn unabhängig von ihrer Leistung zahlt. (Mt 20,1ff.). Nach weltlichen Maßstäben eine völlig unvernünftige Handlung; aber Gottes Frieden, der von der Gerechtigkeit geküsst ist, ist höher als alle Vernunft (Phil 4,7).
Beispielhaft sei hier noch die Begegnung Jesu mit Marta und Maria herausgegriffen. (Lk 10, BasisBibel):
38Als Jesus mit seinen Jüngern weiterzog, kam er in ein Dorf. Dort nahm ihn eine Frau als Gast bei sich auf. Ihr Name war Marta. 39Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Die setzte sich zu Füßen des Herrn nieder und hörte ihm zu. 40Aber Marta war ganz davon in Anspruch genommen, sie zu bewirten. Schließlich stellte sie sich vor Jesus hin und sagte: »Herr, macht es dir nichts aus, dass meine Schwester mich alles allein machen lässt? Sag ihr doch, dass sie mir helfen soll!« 41Aber der Herr antwortete: »Marta, Marta! Du bist so besorgt und machst dir Gedanken um so vieles. 42Aber nur eines ist notwendig: Maria hat das Bessere gewählt, das wird ihr niemand mehr wegnehmen.«
Auch hier: Nach menschlichen Maßstäben wäre es nur recht und billig, wenn Maria helfen würde. Es würde Maria und Marta gleichstellen; das wäre gerecht. Jesus würdigt zwar Martas Tun, aber Marias Handeln wird als das Bessere dargestellt.
Gerechtigkeit in der Schule
Zu fragen wäre zunächst, inwieweit Leistungsbewertung durch Noten gerecht ist. Benotet wird ja streng genommen nicht jede Leistung. In einer Mathematikarbeit bekommt z.B. eine Eins, wer keine Rechenfehler macht. Dabei kommt es nicht darauf an, wie viel im Vorfeld geleistet wurde, um zu üben. Würde es danach gehen, müssten Schüler*innen, denen Mathematik einfach zufällt und die nicht lernen müssen, weniger gute Noten bekommen als die, die sich in diesem Fach schwertun. Hier geht es nicht darum, das Benotungssystem grundsätzlich in Frage zu stellen, es soll aber darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch hier im Schulalltag Ungerechtigkeit – und natürlich auch Gerechtigkeit – erlebt werden können. Und das Problem ist nicht lebensfern. Erwachsene werden beispielsweise auch nicht streng nach dem Leistungsprinzip bezahlt; sonst müssten ja alle für eine Stunde Arbeit mit dem gleichen Energieaufwand (Leistung ist physikalisch gesehen der Quotient aus Energie und Zeit) den gleichen Lohn erhalten.
Wichtig ist auch die Frage, wie sich Gerechtigkeit in heterogenen Lerngruppen herstellen ließe, in der kaum Gleichheit herrscht. Ein Beispiel für eine andere Benotung ist folgendes: Nehmen wir an, in einer Klasse wurde geübt, welche Worte mit „ch“ und welche mit „x“ geschrieben werden, wie z. B. „Max mag Lachs“. Am Ende der Einheit wird dazu ein Diktat geschrieben. Nun hat ein Schüler, der eine Rechtschreibschwäche hat, insgesamt so viele Fehler gemacht, dass er dafür die Note „5“ bekommen müsste. Alle Worte, bei denen zwischen „ch“ oder „x“ zu entscheiden war, hat er aber richtig geschrieben. Er bekommt deshalb eine „3“. Hier wurde zunächst gerade keine Gleichbehandlung vollzogen, jedenfalls nicht im Hinblick auf die Zahl der Fehler. Gerade dadurch wurde aber eine Angleichung vorgenommen, weil auch die Leistung des Schülers, der die betreffenden Worte ja gelernt hatte, mit in die Bewertung einbezogen. So kann er seine Leistungen vergleichen, weil sein Diktat nun vergleichbar mit anderen ist.
Kinder lernen erst nach und nach, sich in andere Personen hineinzuversetzen. Gerechtigkeit meint für sie daher im ersten Lebensjahrzehnt in erster Linie, dass sie selbst zu ihrem Recht kommen und fair behandelt werden. Dafür haben sie ein feines Gespür. Wie gezeigt wurde, ist diese egozentrische Sichtweise der Beginn von Gerechtigkeit. Auch bei Erwachsenen dürfte das Engagement für Gerechtigkeit größer sein, wenn sie selbst betroffen sind bzw. etwas davon haben. Dass Kinder erst einmal an sich selbst denken, heißt also nicht, dass sie Gerechtigkeit noch nicht verstehen könnten. Es bedeutet allerdings, dass sie Gerechtigkeit noch nicht so umfassend verstehen können wie Jugendliche und Erwachsene. Es gilt auch hier: Wenn alle an sich denken, ist an alle gedacht. Das schließt mit ein, dass tatsächlich alle an sich denken und dann auch für sich sprechen und handeln können. Im Klassenzimmer kann dies gelingen, wenn Lehrer*innen es verstehen, die schwächeren Schüler*innen zu fördern und zu unterstützen.
Schüler*innen könnten das Gedankenexperiment von John Rawls nachvollziehen, z.B. bezogen auf die Klassengemeinschaft. Sie müssen, da sie ja unter dem Schleier des Nichtwissens sind, davon ausgehen, dass sie später in der Klassengemeinschaft jedwede denkbare Rolle einnehmen könnten. Regeln, die sie erstellen, sollten ihnen also nützen, ob sie nun die Streberin, der Prinz, die Klassensprecherin oder das Kind mit Migrationshintergrund und schlechten Deutschkenntnissen sind. Indem sie verschiedene Rollen durchspielen, lernen sie, sich in andere Personen hineinzuversetzen und auch für diese Gerechtigkeit zu schaffen.
Grundsätzlich können Kinder in Bezug auf die Gerechtigkeit gut in Rollenspielen lernen, weil sie dabei ja immer von sich absehen müssen. Fünfjährige Kinder, die sich mit der Geschichte von Marta und Maria spielerisch auseinandergesetzt haben, schlüpfen in die Rollen der beiden Frauen, die sich am Morgen danach begegnen. Im Gespräch kann Marta einsehen, warum es Maria so wichtig war, Jesus zu Füßen zu sitzen. Schließlich einigen sich die beiden, dass Maria jetzt zum Ausgleich den Abwasch erledigt. So wird wieder Symmetrie hergestellt und damit der Gerechtigkeit genüge getan.26
Gerechtigkeit im Klassenzimmer entsteht da, wo Schüler*innen und Lehrer*innen gewissermaßen dem gleichen Vertrag zustimmen. Nicht zuletzt aus diesem Grund, werden solche Verträge – wenn auch meistens unvollständig – ausgehandelt und aufgeschrieben. Schüler*innen lernen dabei, dass das Einhalten von Regeln wie „Ich schreie andere nicht an“ oder „Ich schlage keine anderen Kinder“ erwartet wird. Eine innere Zustimmung zu dem Vertrag ist damit allerdings noch nicht gewährleistet.
Womöglich lohnt es sich, hier einmal das Wahre, Schöne und Gute ins Spiel zu bringen: „Wir machen es uns schön!“ Unter diesem Motto könnten Kinder überlegen, was alles dazu beiträgt, dass es im Klassenzimmer schön ist. Platon zählte die Gerechtigkeit zum Schönsten.27 Auf der Suche nach dem Schönen, Wahren und Guten müsste Gerechtigkeit von selbst erscheinen.
Anmerkungen
- Ganz im Sinne des Grundsatzartikels von Michael Meyer-Blanck: „Annäherungen an das Gute, Wahre und Schöne. Religiöse und philosophische Bildung“, 9ff. in diesem Heft.
- Brahms, Gerechtigkeit, 5.
- Nietzsche, Menschliches, 89.
- Brahms, Gerechtigkeit, 5.
- Nietzsche, Historie, 286.
- Vgl. ebd.
- Vgl. Rawls, Theorie, 140ff.
- Vgl. Rawls, Theorie, 81.
- Vgl. ebd.
- Vgl. a.a.O., 21.
- Vgl. a.a.O., 123.
- Vgl. a.a.O., 121.
- Han, Errettung, 75.
- Vgl. Rawls, Theorie, 74.
- Vgl. a.a.O., 75.
- Lauster, Geist, 66.
- Vgl. Welker, Bild, 57.
- Lauster, Verzauberung, 26.
- Vgl. im Folgenden: Lauster, Verzauberung, 45ff.
- UN-Menschenrechtskonvention, www.menschen rechtserklaerung.de
- Brahms, Gerechtigkeit, 6.
- Scherle, Sühne, 8.
- Ebd.; Meyer-Blanck, Gebet, 222.
- Lauster, Geist, 280.
- Vgl. Brahms, Gerechtigkeit, 6.
- Ich danke Frank Muchlinsky für diese Hinweise aus einem Bibliolog mit Kindern.
- Vgl. Han, Errettung, 74.
Literatur
- Brahms, Renke: »Gerechtigkeit erhöht ein Volk« (Spr 14,34), in: KU Praxis 66, Gütersloh 2021
- Han, Byung-Chul: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main 52020
- Lauster, Jörg: Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 2021
- Lauster, Jörg: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2020
- Meyer-Blanck, Michael: Das Gebet, Tübingen 2019
- Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I, in: Giorgio Colli / Mazzino Montinari (Hg.): Kritische Studienausgabe, Bd. 2, München 1999
- Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Unzeitgemäße Betrachtungen II, in: Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino (Hg.): Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1999
- Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. 10. Aufl, Frankfurt am Main 1998
- Scherle, Peter: Identität und Sühne, in: Zeitzeichen 7/2021, 8ff.
- Welker, Michael: Zum Bild Gottes. Eine Anthropologie des Geistes, Leipzig 2021