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Im Anfang war das Wort – B´reschit beziehungsweise Im Anfang. Ideen für die Jahrgänge 11-13

Von Kirsten Rabe

 

„Worte sind Vögel“ – eine lyrische Annäherung

Die jüdische Schriftstellerin Hilde Domin (1909-2006) hat wie kaum jemand anderes die Sprache selbst zum Gegenstand ihrer Lyrik gemacht. Das Wort, seine Wirkmacht und existenzielle Bedeutung – Hilde Domin wusste darum.

Eine Annäherung an das Kampagnenthema „Im Anfang war das Wort“ über lyrische Texte von H. Domin macht es Schüler*innen möglich, zunächst bei ihrem eigenen Verständnis von Sprache, von Wörtern, Worten und schließlich „dem“ Wort anzusetzen. Je nach Lerngruppe und Schwerpunktsetzung kann man sich mit einem oder mehreren der unter M 1 aufgenommenen Gedichte beschäftigen. Auch ließe sich gut arbeitsteilig vorgehen und damit herausstellen, welche Zuschreibungen zu „Worten“ bzw. „dem“ Wort sich in den unterschiedlichen Texten finden lassen.
Den vier Gedichten „Worte“, „Das Gefieder der Sprache“, „Vögel mit Wurzeln“ und „Ars longa“ gemeinsam ist die positive Wirkmacht von Sprache.1 Worte verheißen neues Leben, weisen über sich hinaus, offenbaren Geheimnisse und lassen neue Geheimnisse entstehen, die es wiederum zu entdecken gilt. Sprache macht frei und ermöglicht Lebensgestaltung, Sprache gibt gleichzeitig Halt, Orientierung und ein Gefühl von Verbundenheit. „Das Wort“ hat „heiligen Atem“, durchwirkt alles Leben; „das heilige Wort“ findet immer jemanden, der es ausspricht und Wirklichkeit werden lässt. Insbesondere mit „Ars longa“ stellt Domin einen biblischen und religiösen Bezug her.2 

Im Anfang war das Wort – ein Blick in biblische Texte

In der Erschließung der Texte von H. Domin ist Schüler*innen deutlich geworden, dass Sprache schöpferische Kraft hat und aus Sprache (neue) Wirklichkeit entstehen kann.3 Diesen anthropologisch wie theologisch zentralen Gedanken finden sie in den kurzen biblischen Texten (M 2) wieder.

In Gen 1,1-5 ist es das durch den Schöpfer gesprochene Wort, das Ordnung ins Chaos bringt, das diese Welt entstehen lässt – Tag für Tag vervollständigt und zu einem sehr guten Ganzen gebracht. Im Grunde handelt es sich hier um einen umfassenden performativen Sprechakt.
Der Beginn des Johannesevangeliums (Joh 1,1-5) nimmt diese Bedeutung des Wortes auf – das Wort gehört zu Gott, hat schöpferische Kraft und besiegt das Chaos der Dunkelheit. Diese selbstverständliche Aufnahme nicht nur der Motivik, sondern auch einer theologischen Überzeugung durch den Verfasser des Johannesevangeliums gilt es mit Schüler*innen zunächst zu erkennen.

Das Johannesevangelium personifiziert das Wort. Was bei Genesis Sprache – göttliche Worte in ihrer Wirkmacht und Wirklichkeitskonstitution – beschreibt, wird bei Johannes im Fortgang des ersten Kapitels mit der Person Jesu Christi konnotiert. Damit erfährt der erste Schöpfungsmythos eine christologische Deutung. Es ist wichtig, diese Deutungsmöglichkeit mit den Schüler*innen auch zu problematisieren: Eine Interpretation des Textes aus dem Johannesevangelium darf und kann nicht zu einer fragwürdigen Theologie führen, die das Alte Testament christlich vereinnahmt.

Das Wort Gottes. Lesen aus der Schrift an Schabbat und Sonntag

Wenn Jüd*innen und Christ*innen von „dem Wort“ sprechen, dann ist damit zuallererst das „Wort Gottes“ gemeint – die Heilige Schrift, die Thora, die Bibel. Das Wort Gottes als Zentrum des Glaubens hat in jeder gottesdienstlichen Feier seinen Raum, Texte aus Thora und Bibel werden gelesen und begleiten den Gottesdienst am Schabbat bzw. Sonntag. Diese Lesungen werden begleitet durch Rituale – in jüdischen Gottesdiensten noch viel stärker als in christlichen. Nicht nur in den einzelnen Schabbatgottesdiensten, vor allem an Simchat Thora wird das deutlich:

„Das Fest [Simchat Torah], seit dem Mittelalter bekannt, ist der jüngste Bestandteil von Ssukkot. Hier wird der Jahreszyklus der synagogalen Torahvorlesung gefeiert. Der Jahreszyklus, bei dem an jeder [sic!] Schabbat ein Abschnitt (Perikope) aus den fünf Büchern Mose vorgetragen wird, endet und beginnt an diesem Tag. Die Torah, das manifestierte heilige Wort, ist Bindeglied zwischen dem Volk Israel und Gott, das Studium der Torah höchstes Gebot, Ende und Anfang des Zyklus höchste Freude. Die Männer, die mit der Vorlesung geehrt werden, heißen Bräutigam der Torah und des Anfangsabschnitts, chatan Torah und chatan B`reschit. Es ist eine ungewöhnliche Feier: Alle Torah-Rollen, reich geschmückt, werden ausgehoben, man trägt sie tanzend und singend um die Vorlesebühne, wie bei einer Hochzeit. Die Kinder halten Fähnchen, auf ihrer Stange steckt ein Apfel und in ihm eine brennende Kerze. Der Apfel verkörpert die Schönheit der Fülle, das Kerzenlicht die Weisheit der Torah. Auf der bemalten Fahne klebt ein Fensterchen, wenn man es öffnet, deckt man die Gesetzestafeln auf.“ 4

M 3 sowie die weiterführenden Aufgabenstellungen bieten mögliche Zugänge zur Bedeutung des Festes Simchat Thora und zur Schrift innerhalb jüdischer bzw. christlicher Gemeinden und Gottesdienste.

Das als M 4 aufgenommene Interview zum durch Papst Franziskus erstmals für Januar 2020 initiierten Wort-Gottes-Sonntag zeigt sowohl die Bedeutung des Wortes Gottes für den christlichen Gottesdienst und christliche Gemeinde auf als auch die damit angestoßenen Möglichkeiten eines interkonfessionellen wie interreligiösen Dialoges. Interessant, da in den Ritualen Parallelen aufweisend, ist hier ein Blick in die vom Deutschen Liturgischen Institut benannten Gestaltungselemente der gottesdienstlichen Feier am Wort-Gottes-Sonntag. Ein Element kann die Inthronisation des Lektionars, der beim Einzug mitgeführt und feierlich auf das Ambo gelegt wird, sein.

Es gibt mehr als nur die eine Auslegung des Wortes

Wörter, Worte, das Wort: Keines davon ist statisch. Vielmehr liegt allen Begriffen eine Dynamik inne. Hinter Wörtern, Worten und dem Wort stehen Kommunikationsgeschehen – zwischen Sache und Mensch, Mensch und Mensch, Gott und Mensch. Hier ereignet sich Begegnung, immer wieder und immer wieder neu. Die Ansprache des Menschen durch das göttliche Du, Verheißung und Segen, Zuspruch und Anspruch realisieren sich in biblischer Sprache, dort werden sie erzählt, zugesprochen, um sie gerungen und voller Vertrauen bekannt. Das Wort Gottes und der Mensch treffen aufeinander, Lebenssituationen, gesellschaftliche und historische Kontexte verändern sich und auch das Hören und Deuten des Wortes blei-ben dabei in Bewegung.

Ohne Schüler*innen suggerieren zu wollen, die Auslegung der heiligen Schrift sei beliebig, ist es zentral, ihnen die Dynamik im Kommunikationsgeschehen zwischen Texten und Menschen verstehbar zu machen. Dieses Verständnis vermeidet nicht nur eine einseitig wörtliche Auslegung der Schrift, sondern ermöglicht vor allem den im Themenplakat benannten „Vielklang“ des Wortes als reichen Schatz zu erkennen. Einen für Jugendliche gut nachvollziehbaren und zudem aus dem Deutschunterricht bekannten Zugang bietet hier das Prinzip des hermeneutischen Zirkels. Der zeitgenössische Philosoph Hans-Georg Gadamer hat dieses Modell erweitert und ergänzt zirkulär ablaufende Verstehensprozesse zwischen Texten und Rezipient*innen um die Dynamik von Geschichte, um die Veränderung persönlicher, gesellschaftlicher und historischer Wahrnehmung und Wahrheit (M 5).

Jüdische Bibelauslegung

Im Vergleich zu christlicher Exegese erscheint jüdische Bibelauslegung umfassender, ganzheitlicher und auch freier zu denken. Das mag vor allem in einem weiten Verständnis des Begriffes Bibel bzw. Tora begründet liegen. Texte werden in ihrer Dynamik ernst genommen, Kommentierungen und stete Aktualisierungen in den Auslegungen machen das Kommunikationsgeschehen zwischen dem Wort Gottes und dem Menschen sichtbar. Besonders beeindruckt der Gedanke der Gleichzeitigkeit von schriftlicher und mündlicher Thora und bei letzterer die Betonung der positiv verstandenen Nichtabgeschlossenheit: „alles, was in Auslegung der Schriftlichen Tora gesagt wurde, gesagt ist oder gesagt werden wird“ (vgl. M 6).

Der „Vielklang“ des göttlichen Wortes, der „reiche Schatz“, der mit dem Plakat „Im Anfang war das Wort“ angesprochen ist, wird mit dem konkreten Blick auf das Selbstverständnis jüdischer Bibelauslegung für Schüler*innen nachvollziehbar. Dazu soll M 6 wesentliche und schüler*innengemäße Informationen geben – in dem Wissen, dass jüdische Bibelauslegung sehr viel komplexer ist, als in den Auszügen des Lexikonartikels deutlich werden kann.

Anmerkungen

  1. Einen Kontrast dazu bietet Domins Gedicht „Unaufhaltsam“, das die zerstörerische Kraft von Sprache zeigt.
  2. Zugleich ist dieses Gedicht auch eine Hommage an die Kunst, wenn sie auf den Hippokrates zugesprochenen Aphorismus „Vita brevis, ars longa“ rekurriert.
  3. Siehe dazu auch die Unterrichtsbausteine zu „Beim Namen gerufen. Namensgebung beziehungsweise Namenstag“.
  4. Efrat Gad-El: Das Buch der jüdischen Jahresfeste. Berlin 2019, 155f.
  5. Vgl. https://shop.liturgie.de/litshop/pics/download/Bibelsonntag%202020-01-26_Messfeier-WGF.pdf