Rituale, Traditionen, Gebote und Verbote haben aufgrund dessen, dass ein bestimmtes und vorgegebenes Verhalten erwartet wird, immer auch etwas Einschränkendes. Die Intensität des subjektiven Gefühls der Einschränkung variiert, basierend auf der persönlichen Einstellung bezüglich der Enge der Auslegung und Ausübung der religiösen Tat, die Eigenart des Gebots bzw. Verbotes und die lustvollen- bzw. freudigen Anteile der Gebote und Verbote. Folglich wird des Öfteren versucht, den Fokus der Vorschriften auf diese positiven Anteile zu lenken. Als Beispiel soll hier der Schabbat angeführt werden.
In der orthodoxen jüdischen Welt beinhaltet der Schabbat eine Vielzahl von Vorschriften, die teilweise sehr ins Detail gehen. Keine aktive Nutzung von Elektrizität (kein Handy, Laptop, Tablet, Fernseher), keine Mobilität (Verbote, das Auto oder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen) und kein Kochen. Der Tag ist stark strukturiert (Gebete, gemeinschaftliches Essen, Lernen etc.). Selbstredend spiegelt diese kurze Auflistung nicht die volle Macht der Schabbatgebote wider. Die Einschränkungen am Schabbat sind signifikant, aber es wird versucht, das Positive zu betrachten und zu erleben: das Gemeinschaftliche, den Fokus auf das Familiäre, die „Zwangsruhe“ der digitalen Medien und die Möglichkeit, den Raum reflektieren zu können.
In meiner Arbeit als Psychologe mit Jugendlichen wurde ich wiederholt damit konfrontiert, wie weit weg die Eltern von ihren Kindern waren. Eltern haben beispielsweise gar nicht mitbekommen, dass ihr Kind suizidal ist oder dass ihr Kind seit einem halben Jahr unter einer Essstörung leidet. Mit der Konstruktion des Schabbats, wo zwangsläufig die ganze Familie drei Mahlzeiten ohne Ablenkungen zusammen verbringt, sei die Hypothese erlaubt, dass die Inzidenz solcher Phänomene in so einer Familiengemeinschaft kleiner ist.
Dies sind die positiven Aspekte, die ich als offensichtliche Vorteile bezeichnen würde.
Es gibt auch eine Kategorie von positiven Aspekten, die noch tiefergreifend ist. Wenn ich als Jude den Schabbat detailgetreu einhalte, gibt es mir ein Gefühl der Sicherheit, das Richtige getan zu haben. Es befriedigt mein Bedürfnis nach Sicherheit. Es gibt mir das Gefühl, ein guter Jude zu sein und ich genieße zudem das Gefühl, meine Pflicht gänzlich erfüllt zu haben.
Die Gefahr mit dem Ansatz, mich nur auf das Positive zu fokussieren und somit das Einschränkende auszublenden oder umzubenennen, besteht darin, nicht das ganze Potenzial des Gebotes utilisiert zu haben. Wenn ich mich nur auf das Positive fokussiere und das Einschränkende notgedrungen nur akzeptiere, verliere ich die Möglichkeit, das Potenzial des Gebotes bezüglich meines spirituellen Wachstums voll auszuschöpfen. Deshalb würde ich gerne einen Ansatz erläutern, der den ganzen Kern eines Gebotes ausschöpft und nicht nur Teile davon.
Der Ansatz basiert auf dem Verhalten des ersten Monotheisten Abraham.
Abraham: „Vater vieler Völker“ (Genesis: 17,5). Er ist das Vorbild, dem wir nacheifern sollen. „Denn Ich habe ihn erkoren, damit er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm gebiete, den Weg des Ewigen einzuhalten, Recht und Gerechtigkeit zu üben“ (Genesis: 18,19). Ist Abraham wirklich ein Vorbildvater? Einen Sohn, Ismael, verbannte er in die Wüste und den anderen Sohn (Isaak) war er bereit zu opfern. Die Frage kann noch erweitert werden. Was für ein Sohn war er? Hat er nicht seinen Vater verlassen? Im Endeffekt scheint es so, dass unser Vorbild kein Vorzeigesohn und definitiv kein Vorzeigevater war.
Der kürzlich verstorbene ehemalige Oberrabbiner von Großbritannien, Rabbiner Lord Jonathan Sacks, verknüpft diese beiden kontraintuitiven Handlungen von Abraham.
Als Abraham von Gott aufgefordert wird, seinen Vater und sein Heimatland zu verlassen, lautet der Ausspruch „Lech Lecha“ – ziehe hinweg“ (Genesis: 12,1). Dieser Doppelausdruck erscheint nur noch ein einziges Mal in der Thora, nämlich bei der Aufforderung, seinen Sohn zu opfern: „Geh hin in das Land Moria“ (Genesis: 22,2). Dies deutet daraufhin, dass von seinem Vater wegzubrechen im Zusammenhang mit der Aufopferung seines Sohnes steht.
Rabbiner Sacks erklärt, dass es im historischen Kontext betrachtet einen Bruch mit der bisherigen Weltanschauung bedeutet. Zu der Zeit war die einzige relevante Einheit die Familie. Jede Familie hatte ihre eigenen Götter, das Familienoberhaupt war die Mittelsperson bzw. Vermittler mit diesem Gott. Das einzelne Familienmitglied, mit der Ausnahme des Familienoberhauptes, war nicht signifikant, geschweige denn wichtig. Abraham vollzog einen radikalen Bruch zur damaligen Sitte. Monotheismus bedeutet nicht nur den Glauben an einen Gott, sondern es bedeutet, dass jeder in seinem Ebenbild erschaffen wurde, jede Person wichtig ist und vor allem, dass jede Person eine individuelle Beziehung zu Gott haben kann!
Abraham musste sich von seinem Vater und seinen Söhnen „trennen“, um eben diesen Punkt des religiösen Individualismus hervorheben zu können. Diese Episoden in Genesis sind schmerzvoll, aber es waren die Geburtswehen eines neuen Paradigmas. Deshalb dieser terminologische Zusammenhang zwischen dem Verlassen des Vaterhauses und dem Opfer des eigenen Kindes. Diese Einheit als Familie musste „aufgebrochen“ werden. Jeder hat nun eine direkte Verbindung zu Gott.
Die jüdische Auslegung ist, dass zuerst eine Trennung stattfinden muss, bevor eine Beziehung entstehen kann. Gott erschuf Himmel und Erde, Licht und Dunkelheit, Wasser und Trockenheit etc. Das gleiche Phänomen findet sich in der Eltern-Kind-Beziehung oder in einer partnerschaftlichen Beziehung. Eine Freiheit muss gewährleistet sein, damit eine Individualität entstehen kann.
Vielleicht lässt sich diese Erklärung von Rabbiner Sacks erweitern. Viele der Traditionen und Gebote haben einen „Wir“-Anteil. Wir tun dies, weil wir in der Familie so erzogen wurden, die Familie die Feste immer feierte, weil es die Tradition verlangt, weil nostalgische Kindheitserinnerungen damit verknüpft sind oder weil es die Erwartungen sind.
Auch wenn die Erwartungen aus einem Eigenanspruch stammen, haben die des Öfteren einen fremdmotivierten Ursprung. Abraham lehrt uns, das „Ich“ aus dem „Wir“ zu befreien. Wenn ich es schaffe, ein Fest zu halten, weil ich dies möchte, weil dies meine Beziehung und den Dialog zu Gott fördert und weil es mich in meiner spirituellen Entwicklung weiterbringt, dann ist dieses Fest „mein“ Fest und nicht mehr bedingt durch einen „Wir“-Anteil. Selbstredend sind viele Gebote nur im kollektiven Rahmen möglich, nichtsdestotrotz muss der „Ich“- Anteil gesucht und gefühlt werden. Das Gebot lautet doch im Singular: „Du sollst Gott lieben!“.
Wenn ich es schaffe, bei der Ausübung der Gebote, das „Ich“ zu entdecken, vom „Wir“ zu lösen, dann sind auch keine Einschränkungen mehr vorhanden, sondern ich verstehe die Gebote als Vehikel, Gott näher zu kommen. Eine Einschränkung ist immer nur dann vorhanden, wenn etwas Fremdes (der „Wir“-Anteil“) noch mitschwingt. Der eigentliche Gottesdienst ist es, das „Ich“ zu finden, wie Abraham, falls nötig, mit schmerzhafter Loslösung. Dann habe ich eine Chance, meine Religiosität zu finden und auszuleben!