Der Kirchenraum – (auch) ein Ort interkulturellen Lernens?

Von Silke Leonhard

 

Eine religionspädagogische Begehung im dialogischen Interesse

Das Vor-Haben

Du stellst meine Füße auf weiten Raum, das heißt pädagogisch: Wer Religion lernen will, muss sie begehen. Die Kirchenpädagogik ist ein nicht mehr ganz junges Aufgabengebiet, das (religions-)pädagogisch gemeindliche und schulische Aufgaben und Möglichkeiten verbindet1. Hat Kirchenpädagogik interkulturelle Aspekte? Was ist das überhaupt – im Zusammenhang religiösen Lernens? Wie kann das gehen – evangelisch sein und zugleich interkulturell lehren? Zur Klärung dieser Frage lade ich Leser*innen ein zu einer kirchenpädagogischen Begehung mehrerer Kirchenräume und religiöser Stätten. Sie befinden sich im Umfeld der Hannoverschen Landeskirche. Der Weg zu jeder Station soll ein kleiner Gedankengang sein, um eigene und anderen Füße auf weiten Raum zu stellen. Manche von diesen Räumen mögen aus eigener Erfahrung bekannt sein, andere von Bildern oder Erzählungen und weitere sind neu. Ich versuche aus religionspädagogischer Perspektive den Schatz zu entdecken, das unterschiedliche Potenzial und die didaktischen Aufgaben hervorzuheben, die sich daraus ergeben können.

Im Gepäck ist keine fertige interkulturelle Didaktik, sondern eher entsprechende Elemente: Orientierung an Pluralitätsfähigkeit, Anerkennung von Diversität, Sehnsucht nach Gemeinschaft, Lust auf Partizipation – und sonst eher kirchenpädagogisches Handgepäck; das Nötigste, Elementare das, was beim Entdecken hilft, wenn man auf Exkursion geht. Wichtig dabei ist die Brille: hier eine Gleitsichtbrille – sie schaut einerseits mit weitem evangelischen Blick, andererseits fokussiert sie in der Nähe Interkulturalität. Mit ihr sehen zu lernen, ist wichtig, da es in der Schule wie in der Gesellschaft vielfältiger, heterogener zugeht, als man vielleicht auf den ersten Blick denkt. Keine kirchenpädagogische Begehung findet ohne Taschenlampe statt, um auch die eher verborgenen Seiten ausleuchten zu können und Spots auf religionskulturelle Phänomene zu richten. Jetzt geht es los.

Erste Station
Der Religion Raum geben in der Marktkirche Hannover2.  Ästhetisch-Performative Blicke auf Kirchenpädagogisches Lernen

Groß und warm ist sie: Backsteingotik. Nicht mehr 14. Jahrhundert, aber doch so ähnlich. 1952 nachgebaut. Ein großes Portal. Bei dem Gedanken an dieser Marktkirche fahren warme Ströme durch meinen Körper. Sie ist mir selbst eine gewachsene Herzenskirche; ich verbinde mit ihr einsame wie gemeinsame, explizite wie implizite kirchenpädagogische Erfahrungen, die andere ähnlich gemacht haben.

Die Marktkirche ist eine, wenn nicht die Geburtsstätte der Kirchenpädagogik im Westen Deutschlands3. Kirchenpädagogik hat, wenn man die Geschichte der Religionspädagogik betrachtet, eine sehr kurze Geschichte. Erst seit den 1980er-Jahren wird benannt, was manche vielleicht schon ansatzweise experimentiert haben. Kirchenpädagogik ist zu einer Zeit, in der man merkt, dass weder das Verstehen, das gedankliche Durchdringen allein einen Zugang zu Religion bauen, das Tor zum ästhetischen Lernen. Eine wichtige Einladung zum Wahrnehmen, Deuten und Gestalten; Aisthesis, Poiesis und Katharsis kommen zusammen4. Was mich immer fasziniert hat: Raum wirkt in uns hinein, baut an uns, bildet sich innen nicht nur ab, sondern strukturiert auch das Innen neu. Christoph Bizer hat mit der Kategorie der Begehung stets darauf Bezug genommen, dass christliche Religion räumlich nicht nur durchschritten, sondern auch begangen wird: In der Begehung eines Kirchenraumes „bewegt sich der Mensch als eine Einheit von Körper, Seele und Geist im strukturierten Raum“5.

Die schmalen korbgeflochtenen Holzstühle sind im wahrsten Sinne des Wortes niedrigschwellig genug, um sich einmal dort niederzulassen. In der Mittagssonne scheint ein Lichtstrahl auf den Kerzenbaum in der Gebetsnische. Auch hier: Viel Einladendes.

Mit dem Blick auf Interkulturalität findet etwas anderes Aufmerksamkeit: Wann immer Menschen in der Stadt Halt machen, gehen sie gern dort hinein – mit und ohne Kopfbedeckung, mit und ohne Einkaufstüten, mit und ohne Töne des Smartphones. Nicht alle wissen, wie man eine Kirche respektvoll oder gar ehrfürchtig begeht. Marktkirche – sie ist ihrem Namen entsprechend ein Marktplatz von unterschiedlichen, einander widersprechenden Lebensstilen, ein Forum von Arm und Reich, Krank und Gesund, Groß und Klein, Jung und Alt. Hier kommen die Körperkulturen unterschiedlicher Menschen zusammen: Wenn in dieser Kirche soziologisch zu lernen ist, so von Unterschiedlichkeit und Vielfalt. Ein Markt der Möglichkeiten des Menschseins, der sich einfindet. Und die Gottesdienstkultur hat sich darauf eingestellt: hier die hochliturgische Osternacht, dort spirituelle Angebote, einst der Ursprungsort der Thomasmesse, marktartige Angebote zu Segnung, Gebet und Gespräch und neuem geistlichem Lied.

Performativ stellen Menschen in solch einer kulturell geöffneten Kirche ihre Füße auf weiten Raum: Von Kirche aus entwickelt sich eine vielgesichtige Kultur des Öffnens und Zeigens, ein Gestus, der aufnimmt, dass Drinnen-Sein nicht selbstverständlich ist. Und diese „Entselbstverständlichung“ gibt Lebenskulturen unterschiedlicher Menschen Raum im Innen.

Zweite Station
Aegidienkirche in Hannover.6  Lernen von Verletzlichkeitserfahrung

Mit meinem Partner durchschreite ich die Aegidienkirche, nur wenige 100 Meter weiter: im 14. Jahrhundert entstanden, 1943 durch Bomben verletzt. Jetzt ist sie ein Mahnmal mit Gedenkveranstaltung in weiteren Dimensionen, das an den Atombombenabwurf auf Hiroshima erinnert. Das Tönen der Hiroshimaglocke bildet ein hörbares Gedächtnis. Von der Hallenkirche ist der Grundriss abzuschreiten: Mit Dorothee von Windheims Spurensicherungskunst, der Zickzacklinie auf dem Boden der Kirche, zu folgen, heißt: interkulturell lernen, dass eine Kirche Spuren von kulturellen Geschichten zeigt. Die Tür der Synagoge von Halle hat dem Anschlag am 9. Oktober 2019 immerhin standgehalten; diese Kirche konnte sich nicht gegen zerstörerische Gewalt wehren.

Nach vorn gerichtet, ermahnt die Aegidienkirche zur Aufmerksamkeit: Flüchtlinge, Ortlose, Vertriebene und Verletzte aus zerstörten Heimaten brauchen Asyl, mehr Orientierung und kulturelle Orte, an denen sie ein Zuhause finden. Der künstlerische Prozess, Fragmente zu gestalten an verletzten Kirchen, Biografien zu recherchieren und zu reinszenieren, um fragile, vulnerable Geschichte in die Gegenwart zu holen und in die Zukunft hinein zu mahnen, führt zu einem geschwisterlichen Inter zwischen Erfahrungsgenerationen.

Hier kann und muss man lernen – geschichtlich wie aktuell: Ge- und zerstörte Räume sind Steinbrüche von verletzten Erfahrungen und Gewaltgeschichten. Zerstörte Steine durch den Krieg werden nicht einfach weggefegt und auf die Schuttkippe gekarrt, sondern als Ruinen belassen. In den Ruinen der Kirche lernt sich fragmentarische Identität in Schmerz und Sehnsucht: „Wir sind immer gleichsam auch Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen… Ruinen aufgrund unseres Versagens, unserer Schuld, ebenso wie aufgrund zugefügter Schuld und Verletzungen, erlittener Schuld und Niederlagen“7.

Der Kirchenraum kann nicht verbergen, was wir Menschen uns in Masken schutzhaft zulegen wollen: Menschen wie Kirchen sind fragmentarisch, leider nicht ganz, vollständig, perfekt oder glanzvoll. Wir tun einander weh, wenden Gewalt an, sind brüchig. Diese Erfahrungen – die der eigenen und die der anderen – von Vulnerabilität aufzudecken, sichtbar machen zu dürfen und zu können, ist ein wichtiges Element des Respekts gegenüber anderen Menschen, Erfahrungen und Kulturen: Die Anerkennung der Verletzlichkeit anderer ist ein Baugrund für das Miteinander in Kirche, Schule, Gesellschaft, unter Völkern. Zeigt die Marktkirche heilvolle Schönheit, ist hier ein Ort der Sehnsucht nach Frieden, Heil(ung) und Beheimatung sichtbar.

Dritte Station
Salahuddin Moschee8 und Islamisches Familienzentrum Hannover e.V. – Umgang mit Fremdheit und Dialog

Mit Schüler*innen des 7. Jahrgangs besuchen wir als Religionslehrkräfte die sunnitische Moschee, die zugleich ein vereinsbasiertes Islamisches Familienzentrum in Hannover ist. Die Organisation der Begehung macht klar, dass und in welcher Weise wir Besucher*innen sind: Das Haus der Religionen hat den Moscheebesuch organisiert, ein Moscheeführer ist für uns da.

Die Siebtklässler*innen sind neugierig. Schuhe werden ausgezogen, Waschungen erfolgen, Mädchen und Frauen legen sich ein Tuch um Kopf und Hals – einige sind dabei unwirsch – warum müssen wir das machen? Ich hab‘ doch ‘nen Kapuzenpulli, geht das nicht?

Auch ich bin gespannt. Wir sitzen in der Mitte der Halle, die früher einmal so etwas wie eine Autowerkstatt war, nun auf dem Teppichboden. Gastfreundlich bekommen wir Bonbons gereicht. Der Moscheeführer erklärt und beantwortet geduldig über eine Stunde lang die vielen von den Jugendlichen mitgebrachten Fragen – die meisten zu Lebensgestaltung. Die Schüler*innen sind an der Praxis interessiert. Es bleibt bei vielen ein Gefühl der Fremdheit. Einige erzählen bedauernd, dass manche muslimische Mitschüler*innen keinen Schritt in ein christliches Gotteshaus tun dürfen. Es bleibt für sie nur schwer verständlich, dass die Heiligkeit des Glaubens dies nicht erlauben soll.

An den Gebetsritualen und -formen wird deutlich, wie wichtig vielen Muslim*innen das Gebet ist. Das wird auch von Schüler*innen respektiert. Einige ziehen auf der Folie der eigenen Konfirmandenzeit Vergleiche mit dem eigenen Gebet, den eigenen Riten und dem eigenen Glauben. Eine Faszination vom Innenraum ist jedoch kaum spürbar: Muslime verstehen ihren religiösen Raum nicht als sakral. Das Pflichtgebet kann im Prinzip überall stattfinden, wo es sauber ist. Die Gebetsmatte grenzt erklärtermaßen solch einen sauberen Raum ab. Die erste „Moschee” war das Wohnhaus von Mohammed.

Dieses Anderssein im nahen Umfeld zu spüren, ist sehr wichtig. Wahrnehmung des Fremden um das Anderssein des Anderen willen überdeckt zunächst, dass die Begegnung mit jüdischen wie mit muslimischen Glaubenstraditionen wie selbstverständlich einen toleranten gemeinsamen Nenner hat. Religiöse Stätte wird zum Ort für Gespräch über Religion – hier jedoch in einem Dialog. Ästhetisches Lernen ist damit in Zusammenhang gebracht worden, den Prozess der Bildung als eine Kultur des Umgangs mit dem Fremden zur Wahrnehmung des Eigenen zu verstehen. Aber reicht das?

Es gibt die Erfahrung: Wo vergleichend geschaut wird, ist auch Differenz gesehen. Ein an Begegnung orientierter Religionsunterricht darf nicht darauf beschränkt bleiben, nur die Erfahrungen und Verdichtungen der Differenz zu wiederholen. Hier gibt es einiges zu tun. Begegnung und auch ihre Grenzen geschehen leibsubjektiv-sozial zwischen Ich und Du: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“9 Begegnungen werden dann zu Veränderungen, wenn sie zwischen Menschen geschehen10.  Das gilt schon lange für interkonfessionellen Dialog, aber deutlicher für interreligiöses und interkulturelles Lernen. Und man merkt: Inter-Aktion hat zwei Richtungen, eine aktives und eine erleidende. An Raum und Form orientierte Pädagogik der Religionen muss beides dimensional herausbilden11. Sie verlangt Respekt und Achtung darauf: Wie wirkt das auf mich? Wie soll Dialog verlaufen? Wie wird kulturelles zum interkulturellen Lernen? Interreligiös – was ist das Dazwischen zwischen diesen Religionen? Dazu ist wichtig: Begegnung ist etwas Soziales. Zugleich braucht Lernen Begegnung und Erfahrung von Wahrheitsgewissheiten. Sie ist eine Öffnung auf der Schwelle – wo gibt es konkretes Gemeinsames? Erstaunlicherweise ist das manchmal einfacher in ganz anderen Kulturen wahrzunehmen als in ähnlichen.

Vierte Station
Pagode Vien Giac12, Laatzen. Teilhabe am anderen religiösen Habitus

Wie wird das Lernen in anderen religiösen Stätten zum Begegnungslernen? Das Kloster Vien Giac („Vollkommene Erleuchtung“) in Hannover ist das religiöse und kulturelle Zentrum der in Deutschland und Nachbarländern lebenden Vietnames*innen. Es beherbergt buddhistische Mönche, lädt aber auch andere Menschen vom Außen in sein Inneres ein.

Zusammen mit der Lerngruppe ziehen wir die Schuhe aus. Ein Laienbuddhist führt unsere Lerngruppe durch die Räume, erklärt, zeigt und lässt sich auf das Gespräch mit den Jugendlichen zu kultischer Verehrung und Symbolen ein. Wir kommen in einem Gedenkraum der Toten ins Gespräch über die Frage, was nach dem Tod wo ist. Alle nehmen an einer mittäglichen Zeremonie teil, in der Buddha um Glück ersucht wird. Der Gesang mutet ob der ungewohnten Melodik und der vietnamesischen Sprache fremd an. Die Jugendlichen begeben sich in die Meditationshaltung, einige schließen die Augen, machen einen regelrecht versunkenen Eindruck. Andere staunen. Anschließend dürfen wir mit den Mönchen ein Mittagessen zusammen essen. Die Begehung findet ihren Ausgang am Pagodenturm, der durch die zigtausend sichtbaren Buddhafiguren, den Duft der Räucherkerzen und die architektonische Anordnung des nach oben spitz zulaufenden Turmes einen sinnlichen Anreiz für die Meditation der Mönche bietet. – Zurück im Klassenzimmer führt der anschließende Unterricht durch diese Erfahrung zu konzentrierten und „geerdeten“ Auseinandersetzungen mit buddhistischen Annahmen und dem Sinn von Religion überhaupt.

Liegt es nur daran, dass der Buddhismus vielen auch in Deutschland als eine sympathische Religion gilt, die anscheinend in einer Welt voller Konflikte Ruhe und Frieden ausstrahlt und verkörpert? Die Meditation ist jenes buddhistische Element, das in der westlichen Welt am ehesten bekannt ist und in unterschiedlichen Zusammenhängen Beachtung findet. Kein Wunder, dass auch die Jugendlichen darauf neugierig sind.

Wir haben im Unterricht, angestiftet durch einen Schüler, experimentell eine Haltung vorbereitet: Nicht sehen, nicht hören, nicht reden. Die Achtsamkeit, die für die Meditation maßgebliches Prinzip ist, wird in der Schule zur Einführung in Wahrnehmung dort, wo Worte und Bilder fehlen. Wir sind beteiligt an Praxen – das imponiert den Schüler*innen. Warum ist ihnen die religiöse Praxis der Buddhisten näher als die der Muslime? Das vietnamesische Zentrum lädt zu Beteiligungsmöglichkeiten ein. Beten und Essen sind zentralen Dimensionen des Lebens nach innen und außen.
In der Pagode mischt sich die Fremdheit der Kultur mit dem Reiz der Lebenshaltung zu einem anderen Inter: Gelernt wird ein Habitus, die Erprobung einer Relativierung von Leistung. Der Lernprozess begibt sich hier auf eine andere Wahrheitssuche: Buddha ist nicht unser Gott, aber die Lebenspraxis lässt Wahrhaftiges aufspüren.

Nach diesen letzten beiden Stationen merke ich Dankbarkeit, dass es ein Haus der Religionen13 gibt, und es bleibt zu wünschen, dass allerorten möglichst viele interreligiöse Initiativen da sind, die zur Begehung der unterschiedlichen Religionen führen. Begegnungslernen, das Ertasten des Zwischen, wird durch Beteiligung an Formen, Zeiten und Begehungen der Räume ermöglicht und gefördert. Einladungen zu Meditationen ermöglichen Resonanzen mit gelebter Praxis.

Es sind Menschen, die sich begegnen, nicht Weltanschauungen oder Ideen, aber ihre Umgangsformen damit. Die Vision Martin Bubers von „echten Religionsgesprächen“ muss Raum und Praxis einbeziehen: „Dann … wird sich die echte Gemeinschaft weisen, nicht die eines angeblich in allen Religionen aufgefundenen gleichen Glaubensinhalts, sondern die der Situation, der Bangnis und der Erwartung“14. Das Inter ist nicht ausschließlich situativ, aber es muss so bereitet werden.


Fünfte Station
Restaurant „Glück und Seligkeit“15  in Bielefeld. Religionssensible Kultur

In Bielefeld, der Stadt inmitten der Westfälischen Landeskirche, die es laut einer Verschwörungstheorie nicht und eben doch gibt, steht in einem nicht gerade attraktiven Stadtteil – Brackwede, einem Industrieviertel – die Martini-Kirche, die schon in den 1970er-Jahren zunächst verpachtet und schließlich zu Beginn dieses Jahrtausends entweiht wurde. Steht man davor, liest man die Zeilen, die sich mit Sehnsüchten verbinden: Glück & Seligkeit. Meine Freundin führt mich in das Restaurant.

Die Erwartung, darüber traurig zu sein, dass wieder eine Kirche weniger in gemeindlichem Brauch ist, mischt sich bei mir mit Neugier: Was passiert mit dem Kirchenraum? Merkt man etwas von seiner ursprünglichen Beschaffenheit oder wird das vertuscht? Was denken sich Restaurantbesitzer dabei, eine Kirche zum Restaurant zu erheben? Wie geht es der ursprünglichen Gemeinde mit der veränderten Nutzung?
Beim Betreten des Raumes bin ich überrascht: Lange Tischreihen, moderne, schlichte Sessel und kräftige Farben. Und doch fügt sich das Restaurant so in den Raum ein, dass der Charakter der Kirche erhalten bleibt. Der Blick von innen durch das Rosettenfenster der Apsis nach außen lässt etwas vom Paradies erahnen. Dass das bestellte Gericht mit der Süßkartoffel lecker ist, stärkt die Vermutung, dass die Entkirchlichung zumindest eine räumliche Beständigkeit bewahrt. Befremdlich bleibt die Partylounge auf der Orgelempore.

Nun kann das Kirchenrestaurant auch ein säkularer Ort für biblisch Verbundene sein: Ich glaube, hilf meinem Unglauben – die Seligkeit gibt es als Nachschlag. Und ernsthaft: Verbindet sich eine Chance des Lernens zwischen Religiösen und Religionslosen? Die Zahlen neuerer religionssoziologischer Untersuchungen legen den Tenor auf die Säkularität. Die demografische und gesellschaftliche Entwicklung wird stark von dem Gedanken beeinflusst, es werde weltlicher. Für die Räume gilt das allzumal. In unserer Landeskirche werden Kirchen verkauft, entwidmet. Das nötigt zum Perspektivenwechsel:
Bei zunehmender Konfessionslosigkeit und Religionsferne sind wir die anderen. Wir sind diejenigen, die exotische Räume, Zeichen und Rituale haben, die nicht mehr verstanden werden. Es wäre vermutlich illusorisch zu glauben, dass Kirchen und eben auch Kirchenpädagogik aus der Frage nach der Plausibilität von Religion herausfallen.

In einer nicht geringen Öffentlichkeit wächst der Charakter von Religion als Option – Religion als Wahlmöglichkeit neben anderen Weltanschauungen, als ein Zugang neben anderen Weltzugängen.
Religionsunterricht und in der Schule als Nachmittagsangebot neben den Vereinen sind nicht unhinterfragt. Das Umfeld ist das der „Nicht mehr Verständigten“, wie Fulbert Steffensky sie nennt. Aber es gibt Religion in Gebäudekultur.

Wenn das Restaurant sprechen könnte, was würde es wohl sagen? „Ich war einmal eine Kirche, aber inzwischen versammeln sich Menschen auch gern in mir, um gemeinsam zu essen oder zu trinken… Nur meine Klänge sind anders geworden. Ich bin transkirchlich.“ Religionssensibilität braucht die Perspektive der Plausibilität: Der Blickwinkel von außen zeigt Kirchraumpädagogik als eine neben anderen Sakralraumpädagogiken. Kirchenpädagogik als eine besondere unter anderen Pädagogiken heißt: außerschulische religiöse Orte einbeziehen, über Museen hinaus, ihre Eigenlogiken wahrnehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen.16


Sechste Station
Literaturhaus St. Jakobi in Hildesheim17.  Religionssensibilität durch Com-Passion

Mitten in der Innenstadt Hildesheim: St. Jakobi. Ehemals Pilgerkirche und restaurierte Pfarrkirche der Hildesheimer Altstadt. Kirchliche Entwicklung und Stadtentwicklung werden eng an Kultur geführt. Während einer Tagung bekommen wir abends Saxophonmusik – mit der Technik des Überblasens, also mehrere Töne werden übereinandergelegt. Ein Kabarettist fragt, ob denn Jesus einen Verlag für sein Buch hatte.

In einer Kulturkirche kann man lernen, in der Kultur des anderen etwas zu entdecken und das Eigene kennenlernen. Gelebte Religion ist kulturgebunden: „Lebenswelt und Kirche als gemeinsamer Ort der ,Er-Findung‘ neuer religiöser Fragen und Antworten der Subjekte.“18  Das ist eine Verheißung und raumgewordene Hoffnung der Kulturkirchen. Man begegnet nicht in erster Linie dem Pastor, sondern anderen Gläubigen und Gläubigern, hier einem Literaturwissenschaftler.

Der Reiz ist spürbar. Auch diese Kirche ist in mehrerlei Hinsicht offen: offene Türen, offen in der Entwicklung des Konzepts. Wertvoll und evangelisch interkulturell wird die Kirche jedoch für mich auch durch etwas anderes: Initiativen, die Obdachlosen, die auf der Schwelle zum Kirchenraum leben, eben nicht zu vertreiben, um einer Hochkultur zu huldigen, sondern sie einzuladen. Sie sind die Türhüter, sie passen auf, dass die Kirche, ihr Lebensort, gewürdigt wird. Folglich lädt die Kirche sie ein zum gemeinsamen Essen – keine Tafel im Sinne stilarmer Speisung, sondern zu gedecktem Mahl – mit Lesungselementen. Diakonie und religiöse Bildung fallen auf eine ästhetische, ja kulinarische Weise zusammen, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Hier wird interkulturelles Lernen vielleicht sogar umgekrempelt: Da kann Kirche auf den Geschmack kommen, von und mit Obdachlosen zu lernen. Diese Form der Religionssensibilität und diakonischen Freundlichkeit in der Paarung von Sinn und Geschmack für das Räumliche, Lebenswerte zwischen Religion und Leben behagen mir.

Auf dem Weg zur letzten Station geht manchem sicherlich durch den Kopf, welche Kirchenräume wir auf unserer Tour noch hätten als Lernorte erkunden, begehen können – von der Liberalen Jüdischen Gemeinde, manch einen Friedhof, Autobahnkirchen; Kirchen in Dresden und Leipzig und viele mehr.


Siebente Station
Ankommen und Nachdenken in der Klosterkirche Loccum19

Die Loccumer Klosterkirche kennen viele Gäste und Teilnehmende unserer Veranstaltungen nur zu gut. Sie begehen sie nicht nur in Gedanken, sondern mit Herz, Kopf, Hand und Fuß als einen Ort der Sammlung, der Ruhe, des Halls, der Versammlung. Die Kirche ist ein zentraler Ort des Klosters; für unser Wirken ist sie Ort der Konzentration, Ruhe und Gemeinschaft. Am Ende der – für Sie lesenden – Begehung verbringe ich hier Zeit zum Innehalten und zur Sortierung, was im Gepäck für die Gestaltung des Inter ist.

1. Pluralität: Wenn Religion gelebte Religion ist, räumlich gelebte Religion ist, dann ist es klar, dass sich die Vielfalt von Religion in größerer Unterschiedlichkeit von Räumen spiegelt. In der Frage der Pluralitätsfähigkeit von christlicher Religion ist die Kirchenpädagogik als Pädagogik der Kirchen im Kontext auch eine Pädagogik heiliger Stätten und religiöser Orte. Damit wird sie eine lebendige performative Chance für Lernen in Begegnung. Außen- und Innensichten – sie brauchen dazu eben auch theologische, kulturtheoretische religionstheologische und religionswissenschaftliche Bezugspunkte, um die Kulturen nachvollziehbar zu machen.

2. Die Erfahrungen können angebahnt werden, aber sie sind nicht automatisierbar. Nicht unbedingt hat eine Christin den gleichen Schauer in einer großen, romanischen Kirche, während sie diesen im buddhistischen Tempel erleben mag. Konfessionssensible und religionssensible Pädagogik sind gefragt. Das Erkunden von „heiligen Räumen“ fördert die Sensibilität für deren Gebrauch und Bedeutung – gegen die Bagatellisierung von Raum. Die Begehung von Schwellen zum Anderen und Fremden kann helfen, die Aufmerksamkeit auf die je eigene Dynamik dieser Stätte zu richten und das Bewusstsein für die Übergänge zwischen „profanem“ und „sakralem“ Raum zu schärfen.

3. Die leiblichen Prozesse von Religion haben mit Liturgien zu tun. Durch Liturgie als leiblicher Erscheinungsform christlicher Religion in Raum und Zeit, die sich auf den dreieinigen Gott richtet, wird nicht über Klage und Lob gesprochen, sondern gesprochen, gesungen, gebeten und gedankt. Im Vollzug der stimmlichen Anrede und im Angesicht des Gekreuzigten und Auferstandenen am Altar wird das Christliche als Anerkennung von Menschlichkeit und Göttlichkeit in seinen Formen hörbar, sichtbar und spürbar – hier als symbolische Interaktionen von Kreuz und Auferstehung. Sich anderen Liturgien anzunähern, auch über deren Formulare, und sie in teilnehmender Beobachtung bzw. beobachtender Teilnahme mitzuvollziehen, öffnet für Beteiligung, die mehr ist als ein Reden über die andere Religion – solche Prozesse helfen zugleich vor Vereinnahmung wie Überwältigung.

4. Kirchen sind Orte für diakonische Com-Passion. In ihnen spiegelt sich die pathische Seite des Lebens – Asyl, Herz und Raum für Gabe und Armut, Ort für Klage und Trost – den Umgang nicht nur mit dem überschwänglichen, sondern vor allem mit dem leidvollen Unverfügbaren des Lebens. Mit dem Gestus des Inter kann geschaut werden, wo dieser Umgang im Interesse des Lebens hier wie andernorts stattfindet.
5. Vom Selfie zum Youfie: Begegnung mit dem Fremden geschieht nicht vorrangig um der Sicherung des Eigenen willen. Interreligiöses Lernen ist damit auch ein Weg von der Subjektivität zur Intersubjektivität. Anerkennung ist ein wichtiges Prinzip des Inter zwischen dem Zeigen des Gesichtes und dem Schauen auf das Antlitz des Anderen. Wichtig ist der Charakter des Einbeziehens und des Angebotes durch die Achtsamkeit:

6. Wer Religion lernen will, muss sie begehen. Wenn es um das Inter geht, dann wird die Schwelle als Ort der Erfahrung in interkultureller Perspektive doppelt wichtig. Sie ist weder drinnen noch draußen, sie ist das kommunikative Dazwischen. Die Schwelle erlaubt Grenzüberschreitungen, aber auch keine Entgrenzung, denn Grenzen machen Ordnungen deutlich. Das gilt für konfessionssensibles Lernen ebenso wie für religionssensibles Lernen. Lernen an Schwellen heißt für Kirchenpädagog*innen herauszufinden: Wo sind die Zonen, die Zwischenräume, in denen Begegnung auf Augenhöhe von Menschen möglich ist? Welche ganz anderen Räume braucht es als Ausgangspunkte, um Partizipation, Beteiligungsorientierung zu schaffen, einen Fuß in die Tür zum anderen zu bekommen, ohne Schwellen zu nivellieren und Differenzen zu negieren? Wie können bewegliche Räume aufgebaut werden? Was geht im Vorhof des Heiligen? An dritten Orten? In der Schule?

7. Was heißt Professionalität, wenn man das Inter einbezieht, kirchenpädagogische Kompetenz zu haben, zu erwerben, zu vermitteln? Gibt es eine andere, sich verändernde Professionalität? Lehren heißt zeigen, was man liebt (Steffensky). Kindern und Jugendlichen ist ein Stück Fremdheit zuzumuten. Das Einüben, Erproben von Verhaltensweisen im Raum ist wichtig – in aller Vorsicht. Urteile fallen anders aus, wenn man in Kontakt ist mit dem anderen, berührt ist, in den Mokkasins des Anderen gegangen ist. Es braucht dazu das Erproben neuer Standpunkte, aber auch Re-ligio, die eigene Rückbindung auf den kritischen Mut und die Lust, Neugier und Vorsicht: Freiwilligkeit, Reiz, Anreiz, Neugier für Kirchenraum im Kontext anderer Räume zu bieten.

Du stellst meine Füße auf weiten Raum – Kirchenräume sind Resonanzräume für den Kontakt mit Religion, in denen Antwortmöglichkeiten auf Erfahrungen mit Unverfügbarkeit liegen. Räume sind Kontaktzonen, daher; wer Religion und Religionen lernen will, sollte ihre Räume und deren Formen begehen, die eigenen wie andere20. In kirchen- und sakralraumpädagogischen Fortbildungen werden viele Stationen aufgesucht, in denen Menschen ihre Füße auf weiten Raum stellen und anderen ermöglichen, zu Gast bei Gott, anderen und Geschwistern zu sein und andere gastfreundlich zu behandeln. Der Arbeitsbereich Kirchenpädagogik am RPI Loccum unterstützt insbesondere diese raumbezogenen Lehr- und Lernprozesse für den Religionsunterricht.

 

Anmerkungen:

  1. Aus der Literatur nenne ich für Überblicke die Literatur zu Klie, Gerhards / de Wildt, Sendler-Koschel: Kommunikation, vgl. hier 1-50; Rupp und Meyer.
  2. http://marktkirche-hannover.de.
  3. Dank Christiane Kürschner, vgl. Sendler-Koschel: Kommunikation, 26f.
  4. Vgl. Böhme: Aisthetik.
  5. Christoph Bizer: Begehung, 172; vgl. ebenso Fulbert Steffenskys Beitrag in diesem Heft.
  6. www.aegidienkirche-hannover.de.
  7. Luther, Identität und Fragment, 168f.; vgl. auch Kürschner, Sprache der Ruinen.
  8. www.haus-der-religionen.de/node/151.
  9. Buber: Ich und Du.
  10. Aus den Begegnungen mit Freunden und Bekannten der je anderen Religion geht in der Regel keine völlig veränderte Auffassung der eigenen Religion hervor. Wichtiger ist allerdings, dass die Gesprächspartner*innen selbst bekunden, dass freundschaftliche Beziehungen es ihnen erst ermöglicht haben, Blicke hinter die kulturellen Klischees zu werfen und die kulturelle Mitprägung dieser Stereotype zu verstehen.
  11. Siedler 2005, bis auf Özdil.
  12. http://deutsch.viengiac.de/willkommen-bei-pagode-vien-giac.
  13. www.haus-der-religionen.de.
  14. Buber: Zwiesprache, in: Schriften über das dialogische Prinzip, 134f.
  15. www.glueckundseligkeit.de.
  16. Vgl. Gerhards / de Wildt: Sakraler Raum im Wandel. Praktisch siehe auch die Landkarte außerschulischer Lernorte für den Religionsunterricht: https://www.kirche-schule.de/themen/lernorte.
  17. https://stjakobi.de.
  18. Heimbrock: Vom Kontext zur Lebenswelt, 219.
  19. www.kloster-loccum.de.
  20. Vgl. Leonhard: Church pedagogy.

Literatur:

  • Bizer, Christoph: Begehung als eine religionspädagogische Kategorie für den Unterricht, in: ders.: Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion, Göttingen 1995, 167-184
  • Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeinde Wahrnehmungslehre, München 2001
  • Buber, Martin: Ich und Du [1923]. 11. Aufl. Darmstadt 1983
  • Buber. Martin: Zwiesprache, in: ders.: Schriften über das dialogische Prinzip. Gütersloh 2019, 134f.
  • Gerhards, Albert/ de Wildt, Kim (Hg.): Der sakrale Ort im Wandel, Würzburg 2015
  • Heimbrock, Hans-Günter: Vom Kontext zur Lebenswelt. Theologische, bildungstheoretische und religionspädagogische Überlegungen im Horizont kultureller Pluralität, in: Schreijäck, Thomas (Hg.): Religion im Dialog der Kulturen. Kontextuelle religiöse Bildung und interkulturelle Kompetenz, Münster 2000, 203-230
  • Kürschner, Christiane: Die Sprache der Ruinen. Erinnerungskultur und Glaubenserfahrung. Gemeinsame Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen (Hg.): Raumerkundungen. Heft 2/2007, 82-86.
  • Klie, Thomas (Hg.): Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen. Münster 1998
  • Leonhard, Silke: Church pedagogy: Exploring churches in Religious Education. In: Martin Rothgangel / Kerstin von Brömssen / Hans-Günter Heimbrock / Geir Skeie (Ed.): Location, Space and Place in Religious Education. Münster 2017, 209-216.
  • Luther, Henning: Identität und Fragment, in: ders.: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjakts, München 1992, 160-182
  • Meyer, Karlo: Begehung gottesdienstlicher Orte nichtchristlicher Religionen. Eine Bestandsaufnahme von theoretischer Diskussion und derzeitigen Optionen. In: Kaspari, Tobias (Hg.): Raumbildungen. Erkundungen zur christlichen Religionspraxis. Leipzig 2018, 81-93
  • Meyer, Karlo: Moschee-, Synagogen- und Tempelpädagogik, www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100296
  • Rupp, Hartmut: Handbuch der Kirchenpädagogik. 2. Aufl Gütersloh 2008
  • Sendler-Koschel, Birgit: In Kommunikation mit Wort und Raum. Bibelorientierte Kirchenpädagogik in einer pluralen Kirche und Gesellschaft, Göttingen 2016