Kirche und ihr Kerngeschäft

Von Ralph Charbonnier

 

Zurückgehende Mitgliederzahlen und Kirchensteuereinnahmen legen die Frage nah: Woran sollen wir als Kirche festhalten, wenn wir uns begrenzen müssen? Traditionalisten verweisen auf „Wort und Sakrament“ als Kennzeichen evangelischer Kirche. Im Portfolio kirchlicher Arbeit blieben Gottesdienst, Seelsorge und Katechumenat. Sozialarbeit, Bildung und Gesellschaftspolitik würden säkularen Kräften überlassen. Modernisten bestehen auf Kirche in den Teilsystemen der Gesellschaft als Bedingung für Relevanz. Kirche im Sakralgebäude und Gemeindehaus wie auch in Kita und Schule, Beratung und Pflege, öffentlichem Diskurs und Politik. Während die einen die Tradition im Rücken wähnen, aber die Moderne zu verpassen drohen, verweisen die anderen auf die Gegebenheiten der Moderne – unsicher, ob damit der Ausverkauf von Kirche und Theologie an öffentliche Strukturen und säkularen Zeitgeist eingeläutet ist. Hilft der Blick auf Kirche in den Zeitläufen?

Nach der Drei-Stände-Lehre zu Martin Luthers Zeiten erscheinen die Verhältnisse übersichtlich: ecclesia diente der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament. Mehr war nicht nötig, denn oeconomia und politia waren christlich durchwirkt: Der christliche Hausvater bestimmte Aufgaben und Kultur des Hausstandes. Familie, Knechte und Mägde trugen dieses Ethos aus Berufung mit. Fürsten und sonstige Herrscher des Gemeinwesens sahen sich für christliche Bildung, Sozialfürsorge und innere wie äußere Sicherheit verantwortlich. Wer anders glaubte, durfte gehen.

Im Zeitalter von Aufklärung und Industrialisierung waren es christliche Sozialentrepreneure (Francke, Wichern, Bodelschwingh u.v.m.), die es als Skandal empfanden, dass sich weder Staat noch Kirche kümmerten – um verwahrloste Straßenkinder, um Menschen in Armut, mit Behinderungen, akuten Erkrankungen oder Süchten. Kirche ohne soziale Verantwortung kann nicht Kirche sein, so ihr Credo. Statt sich zu empören, gründeten sie Start-ups für Sozialarbeit, Bildung und Gesundheitspflege. Erste Gehversuche, in der sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft als Kirche zu wirken – in Form von Vereinen und Genossenschaften.

Und heute? Konzentration auf „Wort und Sakrament“ oder auch Wirken in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen? Wort und Sakrament sind Erkennungszeichen von Kirche. Wer Heil sucht, wird nur in ihnen fündig. Aufgabenfelder von Kirche aber sind weiter. Gottesdienst ohne Diakonie bliebe leer, Diakonie ohne Gottesdienst blind. Bildung als Ausbildung ohne Gesinnungsbildung wäre funktionalistisch und technokratisch. Öffentlichem Diskurs und Politik ohne die gemeinschaftliche Stimme der Kirche fehlte eine religiöse Perspektive.

Was folgt daraus?

  • Keine Kirche ohne Wort und Sakrament! Im Sakralgebäude, wie aber auch in Krankenhäusern, Gefängnissen, Militär.
  • Keine Kirche ohne Befähigung der Christinnen und Christen, ihr Leben auch in den Feldern der modernen Gesellschaft aus Glauben zu leben. Beruf(ung)sethos ausbilden für die Gestaltung des familiären Alltags, Erwerbsarbeit und ehrenamtliches Engagement. Ganz konventionell durch Bildung, Seelsorge und Beratung. Vor allem durch Teilnahme und Mitwirkung im Sozialraum und gesellschaftlichen Teilbereichen, mit Bezügen zu den Interessen, Stärken und Bedarfen der Menschen, in Lebens-, Arbeits- und Lerngemeinschaften.
  • Keine Kirche, die nicht exemplarisch als Organisation in Bildung (Kindertagesstätte, Schule etc.), Sozial- und Gesundheitswesen (Pflegedienst, Altenheim, Krankenhaus etc.), Zivilgesellschaft (Jugendarbeit, Akademie etc.), Wirtschaft (Genossenschaften, gemeinnützige GmbHs etc.) mitwirkt. Als Kirche in der Moderne lernen und in den Strukturen Lebensbedingungen in christlicher Verantwortung mitgestalten.

Kirche und ihr Kerngeschäft: Salz der Erde sein (Mt 5,13) – begrenzt, aber wirksam. Die Erfüllung kommt später.