Vorbemerkung
Das Bild zur Geschichte vom barmherzigen Samariter ist der „Bibel mit Bildern von Lisbeth Zwerger“ entnommen, für die die Künstlerin im Jahr 2002 den vom Gemeinschaftswerk Evangelischer Publizistik (GEP) ausgeschriebenen Illustrationspreis für Kinder und Jugendbücher erhielt.
Bildbeschreibung
Der Hintergrund des Bildes zeigt eine kahle, triste Hügellandschaft in braun-grauen Farbtönen. Die vereinfachten Formen und Flächen werden nur durch wenige horizontale Linien strukturiert. Im oberen Teil des Bildes sind die Farben der Landschaft heller als im unteren Teil. Am rechten oberen Rand öffnet sich der grau-weiße Horizont des Himmels.
Durch die Horizontale zieht sich ausgehend von der rechten unteren Ecke in einem weiten nach links führenden Bogen ein Weg - wie ein rot-braunes Band - durch die Landschaft. Er endet in der Ferne der Hügel.
Auf diesem klar abgegrenzten Weg befinden sich mehrere Personen und Gegenstände. Unübersehbar im Vordergrund liegt exakt quer zum Weg ein Mann auf dem Rücken. Kopf und Füße ragen über den Weg hinaus. Als einziges Kleidungsstück trägt er eine schlichte dunkle Alltagshose. Die Augen des Mannes sind verschlossen. Eine Gesichtshälfte scheint mit Blut verschmiert zu sein. Vor dem Mann liegt ein Wanderstab, der am unteren Ende ebenfalls Blutspuren aufweist. Hinter dem Mann liegt geöffnet ein leerer Koffer, aus dem lediglich noch ein unscheinbares Kleidungsstück heraushängt.
Mit großen Schritten voranschreitend sieht man dahinter eine Person. Sie trägt einen mit einem Pelzkragen und Pelzärmeln besetzten langen blauen Mantel sowie eine Kopfbedeckung, die an einen wohlhabenden Kaufmann erinnern kann. Dazu trägt die Person feste Schuhe und eine Hose, was aber durch die Rückenansicht nur angedeutet bleibt. In einigem Abstand zu dieser Person geht ein geistlicher Würdenträger auf dem Weg. Er liest vertieft in einem roten Buch. Sein überlanges reichlich verziertes goldgelbenes Gewand schleift über den Weg. Durch das helle Licht im oberen Teil des Bildes wird die wertvolle Kleidung des Mannes noch einmal hervorgehoben. Die Mitra und das weiße Unterkleid weisen den Mann als hohen christlichen Würdenträger aus.
Am Ende des im Horizont verschwindenden Weges stürmen zwei nur noch schwer zu erkennende Personen davon. Der hintere von ihnen trägt ein Bündel mit Kleidungsstücken oder Tüchern im Arm. Außerhalb des Bildes stehen an der unteren rechten Ecke einer Vignette ähnelnd drei verschiedenfarbige Gefäße: eine mit einem Korken verschlossene braune Flasche, auf der ein rotes Kreuz zu erkennen ist, ein heller Kelch mit rotem Wein und ein grüner Krug, der vermutlich Wasser enthält.
Bilderverständnis
Die Darstellung bezieht sich auf die berühmte biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37). Jesus verschaulicht mit der Geschichte seinen Hörern, dass Nächstenliebe und Barmherzigkeit das Herzstück der großen, grenzüberschreitenden Liebe Gottes sind.
Dem Bild Lisbeth Zwergers gelingt es aufgrund seiner ästhetischen und inhaltlichen Reduzierungen problemlos in die Geschichte vom barmherzigen Samariter einzutauchen. Das „unter die Räuber gefallene“ Opfer“ liegt uns unübersehbar vor den Füßen. Wer die biblische Geschichte kennt, identifiziert schnell die weiter beteiligten Personen: Den Priester, der am Opfer vorbei ging, den Leviten, der ebenso handelte und die Räuber, über deren Motive wir nie etwas erfahren werden. Doch das Bild entwickelt die Dramatik dieses Geschehens in einer eigenen unverwechselbaren Weise. Der Mann, der „von Jerusalem nach Jericho hinab ging“, liegt wie ein Barriere auf dem Weg. Der Wohlhabende, der eben den Weg entlang kam, muss über ihn hinweg gestiegen sein. Statt ihn dabei anzusehen und ihm zu helfen, hat er offensichtlich über ihn hinweggesehen. Auch der Geistliche, der sich in sein Gebets- oder Gottesdienstbuch vertieft hat, muss ähnlich gehandelt haben. Fast könnte er über den Verletzten gestolpert sein, ohne ihn dabei wahrzunehmen. Kein Blick zurück und kein Blick nach vorn ist an ihm zu erkennen. Den Räubern, die davonflüchten, ist er nicht auf der Spur. Sie zur Rechenschaft zu ziehen, könnte zumindest Gerechtigkeit herstellen.
Im Ablauf der Geschehnisse, die sich auf dem roten-braunen Band aneinander reihen, gewinnt die Geschichte etwas Zeitloses. Was Jesus erzählt ist nicht etwas Vergangenes, sondern etwas, was bis heute immer wieder geschieht. Die gegenwartsbezogene Darstellung der Beteiligten hat dabei einen kritisch- provozierenden Charakter. Sowohl die institutionelle Religion als auch die wohlstandsbezogene Gesellschaft sieht über die Opfer, die auf dem Weg liegen, häufig hinweg. Die Gründe werden in der Symbolik des Bildes nur angedeutet. Sie machen aber deutlich, dass es sich bei der Darstellung letztlich nur im vordergründigen Sinn um eine Illustration der biblischen Geschichte handelt. Die Darstellung drängt vielmehr zu einer eigenen Beteiligung am Bild. Denn was zur traditionellen Darstellung der biblischen Geschichte zählt, fehlt hier: das vorbildliche Handeln des Samariters selbst. In den Gemälden und Zeichnungen zum Beispiel von van Gogh oder Rembrandt wird das hingebungsvolle Tun des Samariters immer mit dargestellt. Das Bild von Lisbeth Zwerger stellt den Betrachter quasi selbst auf den Weg. Niemand anderes als er bzw. sie ist der barmherzige Samariter - womit die Künstlerin nicht besser bei der biblischen Geschichte sein könnte (Lukas 10,37