I.
Bildbetrachtung[1]
Ich nehme mir Zeit, das Bild zu entdecken. Je länger ich dem Bild meine Aufmerksamkeit schenke, desto mehr suche ich nach einer Ordnung. Ich entdecke Figuren, Räume, Tiere. Das Bild hat eine Mitte, ein Oben und ein Unten. Mit etwas Abstand erkenne ich einen gemalten Rahmen, zumindest deuten diesen die farblich abgesetzten Winkel in den oberen Ecken an. Die an vielen Stellen rau wirkende Farboberfläche scheint mehrfach wie mit einem Spachtel abgezogen worden zu sein. Plötzlich tauchen Bilder und Farbspuren auf, die man fast übersehen hätte.
Erd- bis rostbraune Farbtöne bilden das komplementäre Farbspektrum zum auffällig hellen Blau im Zentrum des Bildes. Dieses sieht – leicht nach links gerückt - fast aus wie eine Theaterbühne. In der seltsamen, dreidimensional wirkende Raumtiefe des Bildes konzentriert sich mein Blick. Unverkennbar – der auf dem schwarz-weiß karierten Fliesenboden sitzende Mann ist Jesus! Er trägt eine Dornenkrone. Er hat lange dunkle Haare, sogar einen Bart. Seine Füße und Hände sind mit Verbänden umwickelt. Um die Hüfte trägt er ein Lendentuch. Selbst das Seitenwundmal ist, ja, mit zwei Pflastern verbunden! Ich stutze - da stimmt doch etwas nicht!
In der rechten Hand trägt dieser Jesus einen Joint! Auf seiner rechten Schulter entdecke ich ein Tattoo. Der stark behaarte Körper macht einen wohlgenährten Eindruck, nicht aufgezehrt und gemartert, sondern auffällig entspannt, fast lässig. Jesus sitzt einfach da, spielt Jojo. Eine kleine menschliche Figur hängt an einem dünnen Faden über dem braunen Abgrund.
Dieses Jesusbild - eine Karikatur? Zynisch? Oder doch der aufatmende, ja wohltuende Versuch, klischeeverhafte Jesusbilder mit sich selbst zu konfrontieren Neben Jesus steht rechts ein Wachsoldat mit einer Kalaschnikow unter dem Arm. Jetzt schaut er misstrauisch zu Jesus. Oder ist er doch nur noch ein Schatten seiner selbst? Ähnelt sein Gesicht nicht mehr einem Totenkopf als einem strengen NVA-Grenzbewacher? Er scheint sich bereits aufzulösen. Die schwarz-weiß gefleckte Dogge auf der linken Seite wirkt überraschend neugierig und zahm. Die Dogge macht nicht den Eindruck eines bedrohlichen Wachhundes, sondern eher den eines vertrauten Spielgefährten. Der kleine dünne Faden, den Jesus in der Hand hält, den Kopf dabei leicht zur Seite geneigt, den Blick nach unten, lässt auch meinen Blick in den unteren Teil des Bildes hinab gleiten. Wie über einem Abgrund hängt dort eine menschliche Figur. Sie hält sich mit aller Kraft am herabhängenden Seil fest. Es fallen noch andere Menschenfiguren auf. Erst bei näherer Betrachtung entdecke ich, dass eine von ihnen durch die Kopfbedeckung als katholischer Geistlicher zu identifizieren ist – die Figur, die Jesus an seinem Faden in der Hand hat!
Aus der Tiefe des Abgrundes klettere ich mit hinauf in die obere Region. Wie auf einem Podest haben sich die Bremer Stadtmusikanten auf der rechten Seite aufgestellt. Wie kommt es, dass fast jedem Betrachter diese Assoziation in den Sinn kommt? Dabei sind sie es doch gar nicht ! Oder sind sie es doch - Giraffe, Schimpanse, Tiger und exotischer Vogel? Sehgewohnheiten werden stärker durch die Form bestimmt als wir meinen. Die vertraute, vermeintlich äußere Form lässt uns etwas erkennen, was wir noch gar nicht „gesehen“ haben. So beginnt zwischen Bild und Betrachter ein Wechselspielspiel von Bekanntem und Unbekanntem, Altem und Neuem, sicherem Terrain und offenem Abenteuer. Weil etwas etwas anders ist, fange ich an zu denken.
Der große Sumo-Ringer auf der linken Bildseite zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, doch zuvor entdecke ich doch noch die altvertrauten Stadtmusikanten, den Hahn, die Katze, natürlich den Hund und den Esel. Der Sumo-Ringer ist mir fremd, auch wenn der kleine Papagei auf der linken Schulter Sympathie weckt. Ich weiß wenig über die alte Kampfsportart und seine kulturellen Wurzeln. Vielleicht kann Wissen Fremdheit überwinden. Ich trete einen Schritt vom Bild zurück. Die Vielzahl der Details, die ich bei meinem „Rundgang“ durch das Bild wahrgenommen habe, zwingen zum Abstand.
Gefragt nach seinen Bildern hat Bernd Steinkamp einmal geantwortet: „Ich meine erst mal nichts.“[2] Der unvoreingenommen Wahrnehmung des Betrachters soll eine möglicherweise beabsichtigte Intention des Malers nicht im Wege stehen. Doch in dieser Äußerung verbirgt sich selbst ein Hinweis auf einen gewinnbringenden Umgang mit seinen Bildern. Formgestaltung und Themen schaffen ein offenes, keineswegs jedoch willkürliches Assoziationsfeld, in dem scheinbar unverbundene Einzelelemente in immer wieder neue Beziehungen in- und miteinander verwoben werden können. Oberflächennetze können ausgeworfen und Tiefenbohrungen anberaumt werden. Was zum Vorschein kommen wird, verdankt sich dem „handwerklichen Geschick“ oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, der Spielleidenschaft, mit der der immer wieder musikalisch klingenden Bildkomposition begegnet wird.
So wie nur durch einen aktiven Rezipienten Musik an ihr Ziel kommt bzw. erst vollständig[3] wird, so gilt dies auch für den Umgang mit dem Bild. Das Bild „Bremer Stadtmusikanten“ wie auch andere Bilder von Bernd Steinkamp machen dies hervorragend deutlich.
II.
Weiterarbeit
An vielen Stellen des Bildes habe ich Lust zu forschen.
Jesusbilder
Natürlich lässt mich der entspannt kiffende Jesus nicht los. Die Ikonographie dieser Figur öffnet viele Türen. Mir fallen die Hippie-Bewegung und die 1968er Jahre ein. Religion als Opium für das Volk. Der Karikaturenstreit der vergangenen Jahre. Jesuskarikaturen hat es immer gegeben. Heinrich Kley, Anreger für Bernd Steinkamp, zählt zu den Künstlern, die dies mit spitzer Feder schon vor über hundert Jahren getan haben[4], vielleicht dürfen auch Wilhelm Busch und A. Paul Weber genannt werden.
Menschenbilder
Die dunklen Menschenfiguren auf der rechten Seite verkörpern Grunderfahrungen des Scheiterns und der Anstrengung. Das Beziehungsspiel von Jesus und geistlichem Würdenträger wirkt witzig und bedrückend zugleich.
In welche Abgründe können Kirche, Religion und Glaube führen? Verführen?
Zum Reformationsgedenken 2017 sollte eine Auseinandersetzung mit der Religionskritik gehören.
Tierbilder
Die Bremer Stadtmusikanten – eine kollektive Erinnerung wird abgerufen! Endlich können unsere Gedanken leichter werden. Giraffen sind schöne Tiere![5] Auch Schimpansen, Tiger und exotische Vögel finden unsere Sympathie! Doch das Märchen der Gebrüder Grimm, das am Ende freilich gut ausgeht – es ist ja ein Märchen - , erzählt von ernsten Dingen. Die Tiere müssen aufgrund ihres Alters und ihrer Gebrechlichkeit fliehen. Der Satz „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ verkörpert eine traurig-trotzige Reaktion. Auch wenn sich am Ende Willensanstrengung, Mut und Zusammenhalt für die Tiere auszahlen, bleibt das Märchen eine Flüchtlings- und Ausgrenzungsgeschichte mit bitterernstem Hintergrund. Indem das Märchen im Bild zitiert und gleichzeitig verfremdet wird, gewinnt es eine überraschende Aktualität.[6] Flüchtlinge aus fernsten Ländern suchen in Europa Schutz und eine Bleibe. Grenz- und Wachposten, die eben noch verblassten, werden wieder gebraucht.
Drei schematisch gemalte Stiere unten links in der Ecke - mehr wohl eine Unterschrift des Künstlers als ein gesondertes Bildelement. Andere Künstler sind als Inspirationsquelle wichtig, für Bernd Steinkamp allen voran Pablo Picasso und René Magritte. Zu nennen sind auch Robert Rauschenberg, Neo Rauch, Jonas Burgert oder Walton Ford und neben dem bereits erwähnten Heinrich Kley darf der Comic-Künstler Will Eisner nicht vergessen werden. Bernd Steinkamp hat sein Bild übrigens in üblicher Form auf der rechten Seite signiert.
Geschichten sind es, zu denen Bernd Steinkamp mit seiner Malerei anregt. Was Acrylfarben, Zeitungspapier, Fotos und Strukturpasten auf der Leinwand aufscheinen lassen, eröffnet narrative Spielräume, die sich nicht vorherbestimmen lassen. Es geht nicht darum, Geschichten zu erkennen und wiederzugeben. Vielmehr schaffen Komposition, Farbe und Symbole kreative, oft irritierende Bildräume, deren emotionale Atmosphäre der Narration Bedeutung verleiht.
III.
Einsatz im Religionsunterricht
Was machen wir nun mit dem Bild im Religionsunterricht?
Vielleicht nichts! Oder ein Projekt während eines ganzen Schulhalbjahres! Oder etwas dazwischen! Was will ich eigentlich in meinem Religionsunterricht erreichen?
„Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“ (Theodor Adorno)[7]
Wer sich mit seinen Schülerinnen und Schüler in einer solchen Freiheit im Religionsunterricht auf das Bild von Bernd Steinkamp einlassen kann, macht vermutlich spannende Entdeckungen. Das Bild ist ein Anfang, mehr nicht, ein Aufschlag! Es erzählt keine Geschichte, die wir einfach entschlüsseln könnten. Da ist manches ein wenig ver-rückt, erscheint doppelt, verschwommen, weniger eindeutig als gedacht. Statt all dies – nach unserer Vorstellung - gleich wieder zu ordnen und zurechtzurücken, lernen wir zuerst genau hinzusehen! Da ist etwas noch nicht ausgemacht!
Wer sich auf dieses Bild einlassen kann, um sich mit ihm vertieft auseinanderzusetzen, wird entdecken, dass das Bild uns viel Raum gibt. Diesen Raum dürfen wir mit unseren Geschichten, Bildern und Phantasien füllen. Wir müssen mit dem Erzählen selbst beginnen, Vertrautes mit Neuem verbinden. Hinschauen. Lachen. Assoziatives Denken wecken, um eigene Spuren zu entdecken - oder auch zu hinterlassen.
Kleine und große Bildräume zum Übermalen, Überschreiben, Hineinschreiben, Beschichten, Bekleben gibt es in Bernd Steinkamps Bild genug. Nur wenn Schülerinnen und Schüler das Bild „ergänzen“, gelangt das Bild an sein geheimes Ziel.
Wie kann ich meine Lerngruppe für das Bild begeistern oder neugierig machen? Schaffe ich es, mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln die „emotionale Atmosphäre“(Jonas Burgert)[8] des Bildes erfahrbar zu machen? In welchen thematischen Zusammenhang oder äußeren Rahmen bringe ich das Bild? Oder bringt das Bild mich in neue Zusammenhänge? Ob man den Künstler einmal einladen kann? Wie genau muss man die Details erkennen? Ist das alte Soldatenbild in der Mitte wichtig?
Vielleicht schauen wir uns noch einen Giraffenfilm[9] an! Wir tragen Verantwortung für unser Leben und das Leben unseres Nächsten! Was Glaube und Hoffnung tragen können, muss sich noch zeigen.
Steffen Marklein
[1] Eine erweiterte Fassung der Bildbetrachtung liegt vor in: Loccum Pelikan 3/14, 134-140, auch unter www.rpi-loccum.de.
[2] http://www.pressekatalog.de/inhalt/Evangelische_Zeitung_f%FCr_die_Landeskirchen_Hannovers-00004_2014_910323635.pdf .
[3] Vgl. Dietrich Diedrichsen: Über Pop-Musik, Köln 2014, 66: "Pop-Musik muss sich auf […] ergänzende und vervollständigende Zusammenhänge in der Welt verlassen.“
[4] Siehe z. B. Heinrich Kley: Leut’ und Viecher, Album, Albert Langen München, 1912.
[5] Siehe hierzu auch den wunderschönen, computergenerierten Animationsfilm „5,80 Meter" von Nicolas Deveaux (Frankreich 2012 ) unter http://www.dailymotion.com/video/xxyuig_5m80_shortfilms .
[6] Gänzlich anders spielt Peter Gaymann mit dem Symbol der Bremer Stadtmusikanten, wenn er auf einem Poster eine „B-Mannschaft“ aus Schwein, Huhn, Fisch und Schmetterling kreiert: http://www.gaymann-shop.de/Gaymann-Poster-gross/Peter-Gaymann-Poster-50x70cm-B-Mannschaft.html .
[7] Zitiert aus einer Ausstellungsrede des Schriftstellers Alfred Cordes: http://www.berndsteinkamp.de/1.editorial.html .
[8] Siehe Veit Görner/Heinrich Dietz (Hg.): Jonas Burgert, Schutt und Futter, Ausstellungskatalog, Köln 2013, 23-26.
[9] Z. B. Pascale Hecquet: Eine Giraffe im Regen, Animationsfilm 12 Min. Belgien/Frankreich 2007 [http://www.gep.de/ezef/katalog/detail.php3?start=0&film_id=523].