Hannover (epd). Kriege, Rechtspopulismus, Ohnmachtsgefühle: Der Kirchentag in Hannover will ein Ort sein, der Menschen ins Gespräch bringt - über Demokratie, Friedensethik und den Umgang mit politischen Gräben. Generalsekretärin Kristin Jahn spricht mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über die Herausforderungen der evangelischen Friedensethik, den Umgang mit der AfD und warum Zuhören der erste Schritt zu Veränderung ist.
epd: Wir erleben derzeit weltpolitische und gesellschaftliche Umwälzungen wie selten zuvor. Viele Menschen sind von der Entwicklung geradezu überwältigt, empfinden Ohnmacht. „Mutig - stark beherzt“ lautet das Motto des diesjährigen Kirchentags in Hannover - kann er etwas dazu beitragen, aus dieser Ohnmacht herauszufinden?
Jahn: Der Kirchentag wird seinen Beitrag dazu leisten, indem er Menschen ermutigt, sich den eigenen Fragen und der eigenen Verantwortung zu stellen. Wir sind eine Dialogplattform und wollen Menschen miteinander ins Gespräch bringen. Das ist das Wichtigste in dieser Situation.
Das war auch schon 1949 - im Jahr des ersten Kirchentags - so, als sich Opfer und Täter des Nationalsozialismus begegnet sind. Bis heute bleibt die Frage, wie wir innerhalb der Familie, in Freundschaften und auf der Arbeit in einer Art über Politik und Verantwortung sprechen, so dass es uns gemeinsam nach vorne bringt.
epd: Wie schlägt sich das im Programm nieder?
Jahn: Neben großen Talkrunden in den Messehallen haben wir diesmal mehr Mitmachforen geschaffen: Menschen können dort lernen, wie sie am Gartenzaun mit dem Nachbarn ins Gespräch gehen über unsere Demokratie und unser Zusammenleben. Was sage ich, wenn eine menschenverachtende Parole kommt? Wie bleibe ich im Gespräch, grenze mich ab, ohne auszugrenzen?
Wir wollen mit unserem Programm und all den Forderungen, die da auch laut werden, nicht den Politikern das Hausaufgabenheft vollschreiben. So funktioniert Demokratie - und auch die Kirche - nicht. Sondern es sollte jeder nach Hause gehen können und sagen: „Ich bin hier heilsam irritiert worden. Ich habe hier das erkannt, was ich selbst zum Besseren tun kann.“
epd: Der Kirchentag war in den 1980er Jahren ein Ausgangspunkt für die Friedensbewegung. Welche Herausforderung sehen Sie bei der derzeitigen Sicherheitsdebatte für die evangelische Friedensethik?
Jahn: Ich sehe sie gerade nicht sehr sprachfähig aufgestellt. Es gibt da viele verschiedene Stimmen. Darunter sind manche, die die Lage noch immer so beurteilen, als lebten wir in den 80er Jahren. Beispielsweise bin ich skeptisch, wenn man die eigenen Erfahrungen aus der friedlichen Revolution in der DDR - als Menschen sich gegen ihr eigenes Regime friedlich erhoben haben - auf die Lage in der Ukraine überträgt und nur seinen eigenen Pazifismus bekräftigt.
Man kann dem anderen nicht verbieten, dass er sich wehrt. Die Debatten darüber werden wir auf dem Kirchentag führen! Bei der Weltlage, in der wir heute nicht wissen, was übermorgen aus Amerika noch alles kommt, werden wir möglicherweise feststellen, dass auch unsere alten Denkmuster aus den 80er Jahren nicht mehr taugen.
epd: Welche Stimmen wünschen Sie sich noch für mehr Sprachfähigkeit bei dem Thema?
Jahn: Wer unbedingt auch mitsprechen muss, sind die Seelsorgenden der Soldatinnen und Soldaten. Wir können uns nicht bequem zurücklehnen und das Thema Sicherheit auslagern, in der Hoffnung, dass uns schon irgendwer schützen wird. Das kann nicht unsere, nicht die Haltung der Kirche sein. Wir müssen in der Realität anderer, totalitärer Weltbilder aufwachen. Darauf muss der Pazifismus eine eigene Antwort geben.
epd: Zum Kirchentag kommen erfahrungsgemäß vor allem Menschen, die der Kirche verbunden sind. Wie integrieren Sie da Menschen aus der ganzen Gesellschaft?
Jahn: Unzufriedene Bürger aus Ostthüringen oder Westsachsen werden wir mit unserer Einladung nur schwer erreichen. Da mache ich mir nichts vor. Wir sind aber offen für alle, wir werden niemanden von der Teilnahme ausschließen.
Zugleich werden wir der AfD und anderen extremistischen Parteien keine Bühne geben. Wir haben lange gerungen, wie wir die Triggerthemen, bei denen viele Politiker nur populistisch mit den Gefühlen von Menschen spielen, ins Programm kriegen, ohne diese ausgrenzende und vergiftende Sprache durch jene Vertreter aufs Podium zu holen. Die Themen müssen besprochen werden, aber eben lösungsorientiert.
epd: Bei der letzten Bundestagswahl haben Christen ebenso häufig die in Teilen rechtsextreme AfD gewählt wie andere Bevölkerungsgruppen. Gibt es da Gesprächsangebote, die sich konkret an diese Menschen richten?
Jahn: Das ist eine Lücke, die wir in Hannover noch nicht füllen können. Für Düsseldorf sollten wir auch ein Programm für „Aussteiger“ machen, wo Menschen eine Anlaufstelle haben. In Hannover werden wir zwei Podien haben - beispielsweise diskutieren wir unter dem Titel „Nach dem Rechten sehen“ durchaus über rechtes Gedankengut in Kirchen und Verbänden. Und wir beschäftigen uns mit dem Thema christlicher Nationalismus, der vor allem in den USA Einfluss gewonnen hat.
epd: Welche Rolle kann die Kirche dabei spielen, gesellschaftliche Gräben zu überwinden und Menschen vielleicht davon zu überzeugen, sich wieder demokratischen Parteien zuzuwenden?
Jahn: Meine Erfahrung ist: Wenn ich den anderen erstmal als Mensch wahrgenommen habe, kann ich ihm besser sagen, warum ich bestimmte Parteien nicht wähle. Das gelingt aber gerade im Osten immer weniger, weil da weder die Kirche noch Bildungsinstitutionen oder soziale Organisationen flächendeckend vorhanden sind. Wir brauchen Orte, wo Menschen ihre Sorgen über die weltpolitische Lage und die gesellschaftliche Situation loswerden können.
Da braucht es gerade in der Fläche die Kirche. Ich wünsche mir, dass wir eine seelsorgerliche Haltung wagen und vorhandenes Personal fit machen und rausschicken, erstmal nur zum Zuhören. Kritische Nachfragen und das Zurschaustellen des eigenen Bekenntnisses sind immer erst der zweite Schritt.
epd: Vielleicht ist regionale Nähe auch ein Faktor für die Ansprache potenzieller Teilnehmer. Wann findet der nächste Kirchentag in einer ostdeutschen Stadt - nicht Berlin - statt?
Jahn: Wenn man so denkt, müsste man jetzt mutig nach Görlitz, Frankfurt an der Oder und auch in kleinere Städte reingehen. Dazu haben wir aktuell aber leider keine Gespräche laufen. Wir sind mittlerweile aber so aufgestellt, dass wir im nächsten Jahrzehnt auch mal als kleineres Kirchentagsformat bestehen könnten.
Es gibt in der Kirchentagsbewegung oft den Wunsch, in großen Ballungszentren zu feiern. Wir merken aber, dass wir dort als Event nicht immer gut wahrnehmbar sind. In jedem Fall braucht es auch in Zukunft Landeskirchen und Regionen, die uns einladen und das finanziell unterstützen können.
epd: Kirchentage sind ja auch immer Feste. Glauben Sie, dass die Stimmung ein bisschen eingetrübt ist angesichts der Nachrichtenlage?
Jahn: Ich hoffe, dass die Menschen sich diesen Raum nicht nehmen lassen - trotz aller Ernsthaftigkeit und Schwere, die wir in der Welt erleben, mit gemeinsamem Maitanz und Gottesdiensten Verbundenheit und auch Leichtigkeit zu spüren und zu feiern.