Hannover (epd). Das Päckchen sieht unscheinbar aus, ein gewöhnliches Postpaket, aus hellem Karton, Versandmarke bereits aufgeklebt, nichts Auffälliges. Doch die Geschichten, die in dem Päckchen stecken, sind bedrückend. Das macht bereits der innen liegende Fragebogen deutlich: Wurde die Patientin gewürgt, geschlagen, geschubst? Hatte sie Luftnot? War sie benommen? Gibt es anale oder vaginale Verletzungen? Spermaspuren? Wie ist der Zustand der Kleidung? Wurde ein Kondom sichergestellt? Dazu liegen Tupfer in dem Päckchen, Spurensicherungstüten und eine Fotospeicherkarte zur Dokumentation der Wunden.
Mit den Untersuchungssets hat das 2012 an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gegründete „Netzwerk ProBeweis“ inzwischen 38 Partnerkliniken niedersachsenweit ausgestattet. Ziel ist es, Betroffenen von häuslicher und sexueller Gewalt rund um die Uhr, vertraulich und wohnortnah zu helfen und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, auch später noch Anzeige zu erstatten. „Frauen, die Gewalt in der Familie ausgesetzt sind, gehen selten direkt zur Polizei“, sagt Professorin Anette Debertin vom Institut für Rechtsmedizin, die das Netzwerk leitet.
An dieser Erkenntnis setzt das Angebot an, das vom Niedersächsischen Sozialministerium mit 310.000 Euro jährlich gefördert wird. Betroffene können in den zum Netzwerk gehörenden Kliniken ihre Verletzungen, wie Bisswunden, Hämatome oder Würgemale, sowie DNA-Spuren unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht kostenlos und gerichtsverwertbar dokumentieren lassen. Die Nachweise werden in der MHH manipulationssicher archiviert.
„Dass das zeitnah und fachgerecht geschieht, ist für ein mögliches späteres Gerichtsverfahren wichtig“, sagt Debertin, die seit 27 Jahren als Rechtsmedizinerin tätig ist. „Wir stellen eine Situation her, als wäre sofort Anzeige erstattet worden.“ Mitarbeiterin Sarah Stockhausen, ebenfalls Rechtsmedizinerin, nickt bekräftigend. Sperma etwa halte sich nur maximal drei Tage in der Scheide, sagt sie, und auch Hämatome verblassten schnell.
Wie wichtig das „Netzwerk ProBeweis“ ist, zeigt der Blick in die Statistik. Häusliche Gewalt nimmt seit Jahren zu und hat während der Coronapandemie einen erneuten Höhepunkt erreicht. Eine von drei Frauen weltweit und eine von vier Europäerinnen erlebe mindestens einmal im Leben körperliche sowie sexualisierte Gewalt, sagt Debertin. „Nach meiner Wahrnehmung nimmt die Brutalität zu, für Frauen ist Gewalt laut WHO eine der größten Gesundheitsrisiken.“
Nach dem am Dienstag vom Bundeskriminalamt veröffentlichten Lagebild Häusliche Gewalt wurden im vergangenen Jahr 157.818 Menschen Opfer von Gewalt durch Partner oder Ex-Partner, gut 9 Prozent mehr als 2021. 80 Prozent der Opfer waren weiblich. Die Dunkelziffer, da sind sich Experten einig, ist hoch. „Viele Frauen erstatten direkt nach der Tat keine Anzeige, weil sie Scham empfinden, Angst haben, weil sie bedroht werden oder befürchten, belastende Gerichtsverfahren nicht durchstehen zu können“, sagt Debertin.
Die Ärztin verweist darauf, dass nicht nur Frauen Opfer von häuslicher Gewalt sind. Zwar seien sie in der überwältigenden Überzahl, doch fünf Prozent der Gewaltopfer, die sich melden, seien Männer.
1.673 Untersuchungen wurden im Rahmen vom „Netzwerk ProBeweis“ bisher durchgeführt. Die Asservate werden drei Jahre, die schriftlichen und bildlichen Dokumentationen 30 Jahre aufgehoben. Debertin und Stockhausen legen Wert darauf, dass die Anliegen, mit denen sich Betroffene an das Netzwerk wenden, vertraulich behandelt werden. „Erst wenn eine Anzeige erstattet wird und wir von unserer Schweigepflicht entbunden werden, werden den Ermittlungsbehörden die gesicherten Beweismaterialien ausgehändigt und bei Beauftragung Gerichtsgutachten erstellt“, sagt Rechtsmedizinerin Stockhausen.
Es gäbe bereits einige Frauen, die sich nachträglich für eine Anzeige entschieden hätten, sagt Debertin. Sie und ihre Kollegen sagten in solchen Fällen als Sachverständige vor Gericht aus. Die Konsequenzen für die Täter seien unterschiedlich. Sie reichten von Haft über Schmerzensgeldzahlungen bis hin zu Antiaggressionstrainings.
Debertin betont, das „Netzwerk ProBeweis“ schließe eine wichtige „Lücke in der Gewaltopferversorgung“. In puncto Gewalt sei das Gesundheitssystem in vielerlei Hinsicht nicht gut aufgestellt, ausgereifte, disziplinübergreifende Strukturen fehlten häufig. Zwar sei das gesellschaftliche Bewusstsein gewachsen. „Doch wir müssen noch mehr zu einer Kultur des Hinschauens kommen und das Thema häusliche und sexualisierte Gewalt aus der Tabuzone holen“, sagt die Rechtsmedizinerin.
Stockhausen ist überzeugt, dass bereits die Sicherung der Gewaltspuren für Betroffene wertvoll ist - unabhängig davon, ob eine Anzeige und ein Strafverfahren folgen. „Die Selbstwirksamkeit zu spüren, das Gefühl, etwas getan zu haben, ernst genommen zu werden, ist für viele Betroffene der erste Schritt in ein gewaltfreies Leben.“