Lüneburg, Braunschweig (epd). Im Mittelalter lebten Nonnen abgeschieden hinter Klostermauern. Allerdings hatten sie dennoch oft großen Einfluss, das stellt das neue Buch „Unerhörte Frauen“ von Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber heraus. Lähnemann, die an der Universität von Oxford deutsche Literatur des Mittelalters lehrt und die Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Düsseldorf, Schlotheuber, haben dafür Briefe und Tagebücher ausgewertet. Diese lassen die Geschichte im neuen Licht erscheinen, sagt Schlotheuber im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
epd: Frau Schlotheuber, Ihr Buch heißt „Unerhörte Frauen“, warum eigentlich?
Eva Schlotheuber: Das ist ein Wortspiel, das uns sehr gut gefällt. Die Frauen, die in Klausur hinter Klostermauern lebten, waren abgeschieden und wurden nicht gehört und auch nicht gesehen. Das Leben dieser Nonnen war nach innen gerichtet. Aber gleichzeitig waren sie auch unerhört wirksam, indem sie eine Vorbildstellung in der Gesellschaft eingenommen haben. Wenn sie sich nach außen gewendet haben, wie zum Beispiel Hildegard von Bingen, dann hatte ihre Stimme großes Gewicht.
epd: Ihr Buch greift unter anderem auf Briefe und Tagebücher zurück, verändert die Auswertung dieser Texte den Blick auf die Rolle von Frauen im Mittelalter?
Schlotheuber: Auf jeden Fall. Wir sehen, dass es sehr selbstbewusste Frauen waren. Sie waren sehr mit sich und ihrem Leben im Reinen. Sie waren gebildet und haben sich intensiv mit Theologie, aber auch den Themen auseinandergesetzt, die von außen herangetragen wurden, etwa mit Krieg oder Hungersnöten, Hochzeiten oder Todesfällen in der Verwandtschaft. Die Frauen haben mit Briefen engen Kontakt gehalten zu den Familien oder in andere Klöster. Sie waren in der Lage, das, was passierte, zu reflektieren und gedanklich zu vertiefen. Vor allem die Fähigkeit zu trösten hat sie zu attraktiven Briefpartnerinnen gemacht.
epd: Räumt das Buch mit Vorurteilen auf?
Schlotheuber: Das geistige Leben hat den Frauen eine angesehene und attraktive Alternative zur Ehe geboten. Das bedeutete auch eine gewisse Freiheit. Nicht jeder jungen Frau oder jedem Mädchen erschien die Heirat erstrebenswert. Nicht jede war zum Beispiel in der Lage, es zu überleben, wenn sie viele Kinder bekam. Das Kloster bot ein relativ selbstbestimmtes Leben in einer Gemeinschaft.
epd: Sie haben Stimmen ausgewertet, die über Jahrhunderte nicht betrachtet wurden. Was für Frauen sind es, die Sie damit zu Wort kommen lassen?
Schlotheuber: Es sind Frauen, deren Stimmen im Laufe der Geschichte verloren gegangen waren, die Stimmen einfacher Nonnen, aber auch adeliger Äbtissinnen oder berühmter Mystikerinnen. Es ist insofern eine Geschichte „von unten“, sie haben sehr viel geschrieben, vor allem im Spätmittelalter, auf Latein oder auch auf Deutsch. Ihre Aufzeichnungen waren nur für die eigene Gemeinschaft gedacht. In der Regel sehen diese Schriftstücke als Gebrauchshandschriften heute auch unansehnlich aus, sodass die Forschung sie lange übersehen hat.
Eine ganz wunderbare Quelle ist zum Beispiel das Tagebuch einer Nonne aus dem Heilig-Kreuz-Kloster bei Braunschweig. Sie konnte ganz anschaulich erzählen, vom Streit im Kloster, der Krankheit ihrer Mitschwestern, von der schlechten Führung ihrer Äbtissin ...
epd: Hatten diese Frauen also eine Wirkung in die Gesellschaft?
Schlotheuber: Eine sehr starke Wirkung sogar. In den Frauenklöstern waren auch die Grabstätten der Familien. Mit den Nonnen wollte man gerne beim jüngsten Gericht aufwachen, weil sie vorbildlich lebten. Die Familien sind an den hohen Festtagen ins Kloster gekommen. Wir haben im Kloster Lüne bei Lüneburg 1.800 Briefe der Nonnen aus den Jahren 1460 bis 1540 gefunden. Die zeugen von engen Kontakten und den Ratschlägen, die sie ihren Schwestern und Brüdern gegeben haben. So haben sie Einfluss genommen.
epd: Können Sie ein Beispiel für einen Ratschlag nennen?
Schlotheuber (lacht): Es gibt einen Brief einer Nonne an ihren Bruder, der offensichtlich durch den Tod der beiden Eltern trübselig geworden war und sehr gerne in die Kneipe ging und sich mit teurem Bier betrank. Dem rät die Schwester, er sollte doch lieber in die Kirche gehen, denn da wäre der Wein, also „süße Trank Christi“, anders als in der Kneipe umsonst.
epd: Beim Eintritt ins Kloster waren die Mädchen oft noch sehr jung ...
Schlotheuber: Genau. Und zwar deswegen, weil sie dort ausgebildet wurden und das Leben im Konvent sehr anspruchsvoll war. Die Mädchen mussten Latein lernen, um die Liturgie zu verstehen. Der liturgische, gemeinsame Gesang war sehr wichtig. Und es gehörte dazu, die theologische Bedeutung der Texte zu verstehen, weil dies eine tiefe, sinnstiftende Dimension mit sich brachte. Für Jungs gab es Lateinschulen. Für Mädchen waren die Klosterschulen die einzigen Orte der Bildung.
epd: Die Reformation hat dieses Leben dann infrage gestellt?
Schlotheuber: Die Reformation hat den Sitz der Nonnen im Leben sozusagen zertrümmert. Es war ein großes Anliegen von Martin Luther, die Frauen aus den Klöstern zu holen. Dass diese Form des geistlichen Lebens besonders wertvoll sein sollte, stellte er in Abrede. Aber viele, vielleicht sogar die meisten Frauen wollten das gar nicht. Die Nonnen haben sich intensiv mit Luthers Lehre auseinandergesetzt und mit theologischer Argumentation auf Augenhöhe dagegen argumentiert.
Sie haben sich lange widersetzt. Es ging um eine angesehene Lebensform, von der sie überzeugt waren. Ihr zäher Kampf hat dazu geführt, dass viele der katholischen Klöster in protestantische Damenstifte umgewandelt wurden, die es noch immer gibt.
Das Heilig-Geist-Stift in Braunschweig, aus dem das Tagebuch der Nonne berichtet, wurde in der Reformationszeit erst aufgelöst, wobei man die Frauen zurück in die Familie schickte. Aber da waren sie so unglücklich, dass man einige Jahre später das Stift wiedergegründet hat. Bis heute leben evangelische Frauengemeinschaften, etwa in den Lüneburger Klöstern. Sie verbindet noch viel mit der Geschichte.
epd: Sie sprachen von Hildegard von Bingen, deren Lehren bis heute Beachtung finden. Gibt es unter Ihren Funden Erkenntnisse auch für die Gegenwart?
Schlotheuber: Eine große Klugheit hat darin bestanden, wie man mit dem Tod umgegangen ist und mit Krankheit, da man stets Körper und Seele zusammen gepflegt hat. Ganz anders als heute hat man den Tod nicht an den Rand gedrängt. Die Gemeinschaft hat die Sterbenden begleitet. Das Gehaltensein in den Generationen und der Liebe zu Gott, die die Frauen ja verbunden hat, war sehr tröstlich.
Ganz vorn waren die Nonnen auch beim Recycling. Die haben alles wiederverwendet. Ein wunderbares Beispiel dafür ist das erwähnte Tagebuch der Nonne aus dem Heilig-Kreuz-Kloster. Sie hat vom Pergament eines Gebetsbuches den alten Text abgeschabt, um darauf die Ereignisse ihres Lebens notieren zu können. Dieses kleine Tagebuch hat sie jahrzehntelang geführt und lebendig vom Schicksal der Nonnen in Zeiten von Fehde, Liebe und Festen erzählt.