Hannover (epd). Die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr fordert von den evangelischen Kirchen in Deutschland einen wacheren Blick für ihr koloniales Erbe und nach wie vor vorhandene koloniale Denkmuster. „Christinnen und Christen aus Ländern des südlichen Afrikas gehen teilweise beeindruckend versöhnlich mit der Kolonial- und Missionsgeschichte um. Diese Freundlichkeit sollte uns aber nicht davon entlasten, die Geschichte gründlich aufzuarbeiten“, betonte Bahr im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Viel mehr gebe die „höchst ambivalente“ Missionsgeschichte einen Anlass, den eigenen Blick auf den Globalen Süden kritisch auf latente Überlegenheitsvorstellungen, Fehlwahrnehmungen und „folkloristische Klischees“ zu überprüfen.
Bahr kritisierte, dass in weiten Teilen der Gesellschaft wenig Interesse an kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten in den Ländern Afrikas herrsche. Kampagnen von Hilfswerken etwa, die das Afrika-Bild auf hungernde Kinder verkürzten, hätten sich derart tief eingeprägt, dass im Bewusstsein kaum Platz sei für positive Entwicklungen auf dem Kontinent, etwa einer wachsenden Mittelschicht, einem florierenden Tech-Sektor, richtungsweisendem Öko-Landbau oder international beachteter zeitgenössischer Kunst und Literatur.
Auch über das geistliche Leben gebe es viele stereotype Denkweisen, unterstrich die Regionalbischöfin, die das Thema Kolonialismus und Kirche am kommenden Dienstag (6. Juni) im Historischen Museum Hannover mit dem leitenden Bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche im Südlichen Afrika, Nkosinathi Msawenkosi Myaka, diskutiert. „Oft höre ich Äußerungen wie: 'Hier das Geld, in Afrika die Begeisterung; hier das verkopfte Christentum, dort Tanz und Trommeln im Gottesdienst'.“ Dabei könne in einer lutherischen Gemeinde in Kapstadt durchaus auch mal eine Bach-Kantate erklingen - und theologische Diskussionen mit Kollegen und Kolleginnen aus Afrika könnten wiederum hiesige Formen des Denkens sehr bereichern.
Mit Blick auf die Missionsgeschichte hob Bahr die zwiespältige Rolle der christlichen Missionare hervor: „Einige von ihnen waren ausgesprochen kritisch gegenüber den Kolonialmächten und keineswegs bereit, ihr brutales Regiment mitzuvollziehen. Andere haben schlimmes Unrecht gerechtfertigt oder geschwiegen. Zudem sind lebendige Traditionen oftmals zerstört worden.“ So hätten die Missionare zwar maßgeblich zum Aufbau eines Bildungs- und Gesundheitswesens beigetragen, als Vertreter einer Schriftkultur zugleich aber eine weitgehend auf Mündlichkeit gründende Traditionsbildung zurückgedrängt - „mit tiefgreifenden Folgen für das kulturelle Gedächtnis und für gesellschaftliche Aushandlungs- und Konfliktlösungsprozesse“.
Bahr rief dazu auf, die Zusammenarbeit der evangelischen Kirchen in Deutschland und den Ländern Afrikas wieder zu intensivieren, um „gleichberechtigt und in gegenseitiger Neugier“ voneinander zu lernen und Zukunftsfragen zu erörtern, etwa den Klimawandel, religiösen Pluralismus oder gesellschaftliche Transformationsprozesse. „Die bewährte Partnerschaftsarbeit in vielen Gemeinden kann sich weiterentwickeln. In den Geisteswissenschaften, aber auch in der Medizin oder Umweltwissenschaften erlebe ich derzeit ein großes Interesse an afrikanischen Forscherinnen und Denkern - das wünsche ich mir ebenso in der Theologie“, sagte Bahr. Als Akteurinnen ohne wirtschaftliche Interessen seien die Kirchen dazu prädestiniert, zu einem glaubwürdigen Motor deutsch-afrikanischer Partnerschaft zu werden.