Eine unscheinbare Nische in der Rysumer Kirche verweist bis heute auf ein Ritual, das den Tod und die Auferstehung Jesu im Mittelalter anschaulich machte: Eine Jesus-Figur wurde erst bestattet - und dann pünktlich zu Ostern der Gemeinde präsentiert.
Rysum/Kr. Aurich (epd). Der Brauch klingt skurril - und doch hat er den Menschen im Mittelalter Mut gegeben. In der alten Rysumer Kirche haben die Gläubigen am Karfreitag nach Sonnenuntergang ihren lebensgroßen geschnitzten Jesus vom Kreuz genommen, seine dank Scharnieren beweglichen Arme an den Körper geklappt und ihn in einer Nische in der Südwand der Kirche zur symbolischen Beerdigung abgelegt. „Am Ostermorgen haben sie ihn wieder an das Kreuz gehängt“, sagt der evangelisch-reformierte Pastor Holger Balder.
Die Prozession ist damals vermutlich unter großer Anteilnahme der Dorfbevölkerung vollzogen worden. „Das muss man sich so ähnlich vorstellen wie die heutigen Krippenspiele“, erläutert Balder. Es sei sogar wahrscheinlich, dass die Rysumer gestaffelt nach Familien und Ansehen in der Kirche die Totenwache gehalten haben. „Mit Jesu Tod am Karfreitag war für sie die Welt von Gott verlassen“, erläutert der Pastor. „Erst als sie ihn Ostern am Kreuz wieder sehen konnten, konnten sie die Auferstehung als Triumph über den Tod feiern.“ Zwar wirkt es auf heutige Menschen seltsam, Jesus zum Zeichen der Auferstehung wieder an das Kreuz zu hängen. Doch für die Menschen im Mittelalter muss die Zeremonie ein Zeichen der Hoffnung gewesen sein, weil Christus wieder sichtbar unter ihnen weilte, führt Balder aus.
Der Brauch wird in Rysum freilich seit Jahrhunderten nicht mehr gepflegt. Heute müssen die Besucher der schlichten Kirche in dem knapp 600-Seelen-Dorf schon genau hinsehen, um das „Heilige Grab“ zu finden. Versteckt zwischen Kirchenbänken und dem Kanzelaufgang wirkt es wie eine schlichte Ablagefläche.
Rysum liegt auf einer erhöhten Warft direkt am Dollart, wo die Ems in die Nordsee fließt. Die Kirche steht auf dem höchsten Punkt im Zentrum des Runddorfes. „Nach dem Deichbau im 13. Jahrhundert wurden die Bauern hier reich und investierten viel Geld in ihre Kirche“, sagt Balder. 1441 leisteten sie sich sogar eine Orgel, die bis heute in der Kirche steht. Sie zählt zu den ältesten bespielbaren Orgeln überhaupt und lockt regelmäßig professionelle Organistinnen und Organisten aus der ganzen Welt an.
Schon seit 1521 wurde in Rysum nachweislich evangelisch gepredigt. Die Reformation war dort von Beginn an von den Vorstellungen der Reformatoren Calvin und Zwingli geprägt, erläutert der Theologe: „Daher wurde alles aus der Kirche entfernt, was von der Predigt ablenken könnte.“ In der evangelisch-reformierten Kirche werde das Bilderverbot aus den Zehn Geboten sehr streng ausgelegt. Gemälde, Altäre und sogar Kreuze suche man daher in reformierten Kirchen vergebens. So verschwand auch in Rysum irgendwann das Kreuz mit dem abnehmbaren Jesus. Über seinen Verbleib ist nichts mehr bekannt.
Das „Heilige Grab“ wurde erst bei umfangreichen Restaurierungsarbeiten im Jahr 2008 wieder entdeckt. Bis dahin war es in Vergessenheit geraten. Den Arbeitern sei damals aufgefallen, dass sich hinter der dünnen Putzschicht moderne Füllsteine befanden, die sonst in der Kirche nicht verbaut wurden, berichtet Balder. Sinn und Zweck der daraufhin freigelegten Nische, die zudem an einem Kopfende noch eine schmale Vertiefung in der Wand hatte, blieben zunächst ein Rätsel.
Erst der Osnabrücker Restaurator Andreas Ahlers identifizierte die Nische als ein „Heiliges Grab“ aus dem frühen 16. Jahrhundert. Auch eine passende Baugeschichte sei inzwischen gefunden. Pastor Balder zufolge lässt sich belegen, dass der Rysumer Ritter Victor Frese 1489 und 1491 zwei Pilgerreisen mit ostfriesischen Grafen in das Heilige Land unternommen und dabei in Jerusalem auch die Grabeskirche besucht hat. Sie steht über einer Höhle, in der Jesus nach seiner Kreuzigung bis zu seiner Auferstehung an Ostern in einer Nische gelegen haben soll.
Doch ob Frese die Idee für ein „Heiliges Grab“ nach dem Jerusalemer Vorbild von seinen Reisen mitbrachte oder ob schlicht „Klosterwissen“ aus einem nahegelegenen Kloster umgesetzt wurde, bleibt Spekulation, räumt Balder ein. Fakt sei aber, dass es bis heute das einzige in Ostfriesland belegte „Heilige Grab“ ist. Denn solche symbolischen, an das Grab Jesu erinnernden Stätten sind nördlich der Alpen selten. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Denkmalschutz sind in ganz Deutschland lediglich 17 „Heilige Gräber“ aus allen Epochen bekannt.
Für das Rätsel um die kleine Vertiefung am Kopfende lieferte der Restaurator Ahlers auch noch eine Erklärung: Die Maße des Grabes entsprechen laut Balder ziemlich genau denen des Jerusalemer Originals. Vermutlich war der Rysumer Jesus für das Grab aber etwas zu groß, sodass die damaligen Handwerker noch etwas Platz schaffen mussten: für den Heiligenschein.