Göttingen (epd). Das Coronavirus droht nach Ansicht der Gesellschaft für bedrohte Völker Bürgerrechtsbewegungen in aller Welt zu ersticken. Was repressiven Regierungen in Algerien und Indien mit monatelanger Einschüchterung und Verfolgung nicht gelungen sei, scheine nun das Virus zu schaffen, erklärte die Menschenrechtsorganisation am Sonntag in Göttingen. In beiden Ländern drohe Bürgerrechtsbewegungen das Aus, weil sich Menschen aus Angst vor Ansteckung nicht mehr an Massenprotesten beteiligten.
In Algerien ist den Angaben zufolge die Protestbewegung Hirak betroffen. Seit einem Jahr protestierten dort jeden Freitag Zehntausende gegen Vetternwirtschaft, Korruption, Willkür und den großen Einfluss der Armee auf Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Protestbewegung habe den Rücktritt des Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika und die Einleitung von Strafverfahren gegen korrupte Politiker und Generäle erzwungen. Doch nun mieden immer mehr Menschen die Proteste aus Angst sich anzustecken. Der Gesellschaft für bedrohte Völker zufolge starben in Algerien bislang drei Personen am Virus, 37 Menschen würden als infiziert gelten.
Auch in Indien werde es für Muslime immer schwieriger, zu Protesten gegen ihre Ausgrenzung aus der Gesellschaft zu mobilisieren, hieß es weiter. Seit Dezember 2019 hätten Millionen Menschen an Massenprotesten gegen die Diskriminierung von Minderheiten durch die hindu-nationalistische Regierung teilgenommen. Nach Übergriffen gegen Muslime, bei denen Ende Februar 2020 in Delhi 52 Menschen starben, und nach extremer Gewalt von Sicherheitskräften gegen Protestierende habe die Bewegung in den vergangenen Wochen großen Zulauf verzeichnet. Doch seit in Indien die Angst vor einer Ausbreitung des Virus zunehme, drohe auch diesem Protest das Ende.
"Das Coronavirus tötet Menschen und Ideen", sagte der Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker, Ulrich Delius. "Menschenrechte und Demokratisierung kommen durch den Anti-Virus-Kampf massiv unter Druck." Die Bürgerrechtsbewegungen könnten ihre Anliegen wirksam nur weiter vertreten, wenn sie sich neuer Protestformen bedienten. Doch Proteste in sozialen Medien seien öffentlich weniger sichtbar und von Regierungen nicht so gefürchtet wie alltägliche Proteste auf den Straßen.
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