Wenn Amelie nicht antworten will, ist es vielleicht besser, mit einem Löwen zu sprechen. Das zwölfjährige Mädchen fühlt sich in der Schule ausgegrenzt und ist entsprechend mutlos. Der Löwe ist für Amelie das mutigste Tier. Also bekommt sie die Handpuppe Leo übergestreift und die Frage geht direkt an den flauschigen Freund: „Leo, was kann die Amelie gut?“ Erste Antworten kommen, Amelie beginnt sich zu öffnen. Es ist nur eine von vielen hilfreichen Methoden, die die erfahrene Kinder- und Jugendpsychiaterin Therese Steiner an die knapp 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „Fachtags Schulseelsorge“ weitergibt – in Rollenspielen, Gruppenarbeiten und mit viel Humor. Eingeladen hatte das Religionspädagogische Institut Loccum (RPI).
Der jährliche Fachtag dient als Treffpunkt und Erfahrungsaustausch der Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorger in Niedersachsen. Sie alle haben eine Langzeitfortbildung absolviert, an deren Ende die feierliche Übergabe eines Zertifikates steht. Seit Beginn der Ausbildung im Jahr 2008 gibt es inzwischen rund 300 Absolventinnen und Absolventen, die meisten von ihnen Religionslehrkräfte, aber auch Pastorinnen und Pastoren sowie Diakoninnen und Diakone sind darunter. Die Ausbildung im RPI wird von den evangelischen Landeskirchen Oldenburg, Schaumburg-Lippe, Hannover und der reformierten Kirche getragen.
Der Vortrag von Therese Steiner ist für viele ein Höhepunkt der Jahrestagung. Die Medizinerin aus der Schweiz unterrichtet im In- und Ausland die Anwendung des sogenannten lösungsfokussierten Ansatzes besonders bei Kindern und arbeitet darüber hinaus ehrenamtlich für Terre des Hommes im südlichen Afrika. Steiner sorgt für viele Aha-Erlebnisse bei den Tagungsgästen. Zunächst erleben sie am eigenen Leib, was nicht lösungsfokussiert ist: In Zweierteams sollen sie eine Beratungssituation darstellen; der Berater soll der zwölfjährigen Amelie so viele Details über ihr Problem wie nur möglich entlocken. Hinterher berichtet eine Teilnehmerin: „Mir ging es als Amelie immer schlechter. Ich hatte mehr Probleme als ich dachte.“ Und auch der Berater muss zugeben: „Hilfreich war das nicht.“ Der lösungsorientierte Ansatz hingegen lässt zwar Raum für weitere Erklärungen der Schülerin, fordert sie aber nicht ein. Stattdessen fördert die Frage „Was glaubst du, was helfen würde?“ oft verblüffende Ergebnisse zutage. Die Kinder und Jugendlichen sollen sich so kompetent wie nur möglich fühlen, betont Steiner. Dazu gehöre auch zwingend die Frage, ob sie überhaupt freiwillig zur Beratung gekommen seien. Die Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich zudem von dem Anspruch verabschieden, die Hilfesuchenden mögen zu der Einsicht gelangen, selbst etwas zur Lösung des Problems beitragen zu müssen. „Kinder und Jugendliche pfeifen auf Einsicht“, sagt die Referentin. Wichtig sei hingegen eine wertschätzende Haltung und das Aufzeigen von Handlungsoptionen.
Es sind praxisnahe Vorträge wie dieser, die Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorger schätzen. Ihre Arbeit geschieht in der Regel aus einer persönlichen Motivation heraus und ehrenamtlich, nur in Ausnahmefällen stellen Schulen ein Zeitkontingent zur Verfügung. Doch viele Religionslehrkräfte sehen den wachsenden Bedarf an Seelsorge in der Schule und das eigene Bedürfnis, für schwierige Situationen besser gewappnet zu sein.
"Als ein Schüler unserer Schule Suizid begangen hatte, sollten meine Kollegin und ich den Umgang mit der Situation an der Schule organisieren“, sagt Ursula Brzezinski, die an einer Berufsbildenden Schule in Northeim unterrichtet. „In dieser Situation fühlten wir uns beide unvorbereitet und überfordert. Daraufhin habe ich die Ausbildung zur Schulseelsorgerin gemacht.“ Die Aufgabe sei aber nicht nur auf Tod und Trauer beschränkt, sondern „umfasst alle Bereiche des Miteinanders an der Schule“. Typische Seelsorge-Fälle seien private oder schulische Probleme, und zwar nicht nur von Schülerinnen und Schülern, sondern auch und gerade von Kolleginnen und Kollegen. Die größte Herausforderung für Ursula Brzezinski: „Trotz der großen eigenen Arbeitsbelastung mit offenen Augen und Ohren in der Schule präsent zu sein und mir bei Bedarf die Zeit für die nötigen Gespräche zu nehmen.“
Für Jörg Unnerstall, Religionslehrer an der KGS Sittensen (Kreis Rotenburg/Wümme), ist ein weiterer Aspekt wichtig: „Da ich viel mit Flüchtlingen arbeite, die zum Teil von sehr persönlichen traumatischen Erlebnissen berichten, wollte ich mich im Bereich Seelsorge professionalisieren.“
Die Langzeitfortbildung wird von Bettina Wittmann-Stasch, am RPI zuständig für Schulseelsorge, gemeinsam mit zwei Schulpastorinnen aus Springe und Buchholz und einem Schulpastor aus Wolfsburg verantwortet. Alle haben entsprechende Zusatzqualifikationen. Die Absolventinnen und Absolventen unterrichten an den unterschiedlichsten Schulformen. Die Schulseelsorge sieht in Grundschulen, Gymnasien oder Förderschulen zwangsläufig anders aus, immer muss die geeignete Form der Kommunikation gefunden werden. Die hannoversche Landeskirche übernimmt die Kosten für die erforderlichen Seminare. Nicht überall wird das Angebot mit offenen Armen aufgenommen. „Wir stoßen im Kollegium auch auf Widerstände, weil das Ganze einen kirchlichen Hintergrund hat“, sagt Gesa Nebe, Religionslehrerin an einer Förderschule in Ronnenberg-Empelde. „Da besteht die Sorge, dass wir missionieren wollen. Aber darum geht es uns natürlich nicht.“
Das Schulseelsorge-Zertifikat berechtigt dazu, eine kirchliche Beauftragung für das Amt zu beantragen. Nur wer diese hat, kann sich auf das Seelsorgegeheimnis berufen. „Das bedeutet, dass man etwa gegenüber der Schulleitung nicht auskunftspflichtig ist – was sonst der Fall wäre“, erläutert Bettina Wittmann-Stasch. Selbst vor Gericht könne man dann auf die Schweigepflicht pochen. Für manche stelle allerdings genau dies ein Problem dar: „Sie wollen nicht zwei Herren dienen, fürchten einen Loyalitätskonflikt.“ Oder sie seien unsicher, ob die Schweigepflicht sie in Extremfällen nicht daran hindere, Hilfe zu holen. Das führt dazu, dass sich nur etwa die Hälfte der zertifizierten Schulseelsorgerinnen und -seelsorger auch kirchlich beauftragen lässt. Oberkirchenrat Dr. Marc Wischnowsky, im Landeskirchenamt Hannover zuständig für Kirche und Schule, wirbt dafür, „sich noch enger in das Schutzverhältnis der Landeskirche zu begeben“. Die Grenzen des Seelsorgegeheimnisses seien klar geregelt, eine kirchliche Beauftragung könne man jederzeit auch nachträglich – und ganz unbürokratisch – beantragen.
Lothar Veit