Uta Pohl-Patalong et al.
Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt
Eine empirische Studie zum evangelischen Religionsunterricht in Schleswig-Holstein
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2016
ISBN 978-3-17-032215-8, 341 Seiten, 26,99 Euro
Wie geht es dem Religionsunterricht, wie den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern mit ihrem Unterricht in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen? Dazu sind im vergangenen Jahr zwei empirische Studien mit unterschiedlichen Akzentsetzungen veröffentlicht worden.
Die sowohl qualitativ als auch quantitativ angelegte Studie „Religiöse Vielfalt im konfessionellen Religionsunterricht“ (ReVikoR) basiert auf der Forschungsfrage, wie mit religiöser Heterogenität im konfessionellen Religionsunterricht im Flächenland Schleswig-Holstein umgegangen wird. Die Motivation des Kooperationsprojekts der Nordkirche, dem Theologischen Institut der Universität Flensburg und der Theologischen Fakultät Kiel liegt darin, die Erfahrungen von Unterrichtenden und Schülerinnen und Schülern – Eltern wurden nicht in den Blick genommen – systematisch zu erheben, um bei künftigen Entscheidungen über mögliche Veränderungen des Religionsunterrichts in Schleswig-Holstein über eine solide Wissensbasis aus religionspädagogischer Praxis zu verfügen. Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse der Lehrerbefragung dar; die der Schülerbefragung folgen noch in diesem Jahr in einem weiteren Band. Den Fragebogen haben 1.283 Lehrkräfte ausgefüllt, außerdem wurden 30 Leitfadeninterviews geführt. Bei der Erhebung wurden alle staatlichen Schulformen in Schleswig-Holstein berücksichtigt.
Der Begriff der religiösen Vielfalt wurde im Vorfeld von den Verantwortlichen der Studie absichtlich nicht definiert, um zu erfahren, wie Lehrkräfte das komplexe Phänomen wahrnehmen und für sich begreifen bzw. damit umgehen. Die Verfasser werten es als auffallendes Ergebnis, dass fast 80 Prozent der Befragten die Lerngruppen, mit denen sie arbeiten als religiös vielfältig empfinden, obgleich Angehörige nicht-christlicher Religionsgemeinschaften in Schleswig-Holstein unter fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, die zudem regional ungleich verteilt leben. Die Antworten der Lehrkräfte zeigen die Heterogenität des Vielfaltbegriffs in ihrer ganzen Bandbreite auf: Religionslehrerinnen und -lehrer erleben Vielfalt, wenn im Unterricht unterschiedliche Religionen oder unterschiedliche christliche Konfessionen präsent sind. Sie erleben das Nebeneinander von religiöser und nichtreligiöser, indifferenter Einstellungen: Mehr als die Hälfte der Befragten nehmen die zunehmende Gruppe der religiös nicht gebundenen Schülerinnen und Schüler in ihrem evangelischen Religionsunterricht unter der Kategorie religiöser Vielfalt wahr und orientieren ihren Unterricht an dieser Gruppe. Sie erfahren religiöse Vielfalt als kulturelle Vielfalt sowie als Vielfalt persönlicher Glaubensvorstellungen. Diese Ergebnisse spiegeln die religiös plurale Signatur unserer Gesellschaft wider.
Didaktische Konsequenzen, um mit der Vielfalt umzugehen, orientieren sich einerseits an der Differenz religiöser Überzeugungen und andererseits an deren Rückgang. Die einen thematisieren verschiedene Religionen und bemühen sich um ein interreligiöses und interkonfessionelles Lernen, das der Pluralität gerecht wird. Die anderen reagieren auf die Heterogenität, indem sie sich auf grundlegende christliche bzw. evangelische Lerninhalte mit Blick auf eine religiöser Alphabetisierung konzentrieren, oder aber mit einer Rücknahme des christlichen Profils.
Ungeachtet der negativen Religionsfreiheit sehen die Befragten die zukünftige Organisationsform des Religionsunterrichts im Klassenverband: 74 Prozent plädieren für diese Maximalform religiöser Vielfalt; 87,1 Prozent lehnen die Trennung der Religionslerngruppe nach formaler Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit ab. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass sich zwar 68 Prozent der Befragten vorstellen können, den Religionsunterricht zusammen mit einer nichtchristlichen Lehrkraft zu gestalten. Rund 62 Prozent können sich hingegen nicht vorstellen, dass ihre Lerngruppe dabei phasenweise ohne ihre Anwesenheit unterrichtet wird. Gleichzeitig schätzen die Lehrkräfte, dass Religion als Fach ihre Schülerinnen und Schüler interessiert, wenngleich es nicht als besonders dringlich angesehen wird. Religion in der Gestalt des Fremden scheint dabei interessanter zu sein als das Eigene; konfessionelle Unterschiede spielen nur eine marginale Rolle. Auch in ihrem eigenen Unterricht spielt die Konfessionalität für die Unterrichtenden keine handlungsleitende Rolle. Gleichzeitig wird ein „überkonfessioneller“ an neutraler Wissensvermittlung orientierter Religionsunterricht abgelehnt. Aus den Interviews wird deutlich, dass es unter den Lehrkräften eine offene, kontrovers diskutierte Frage ist, ob religiöse Vielfalt die religiöse Identitätsbildung der Schülerinnen und Schüler fördert oder erschwert. Die Befürworter sehen in der Dialogsituation eine fördernde Komponente der Identitätsbildung. Auf der anderen Seite treten Lehrkräfte dafür ein, dass die Ausbildung religiöser Identität den geschützten religiös homogenen Raum braucht.
Der Heterogenität im Unterricht entspricht in der Wahrnehmung der Unterrichtenden die Mehrdimensionalität ihres Fachs: Neben den zu erwartenden Sach- und Subjektaspekten werden die zunehmende gesellschaftliche Relevanz des Unterrichts sowie seine atmosphärische Bedeutung unterschieden. Für die Zukunft, so betonen die Herausgeber der Studie, liege in der Mehrdimensionalität des Fachs ein wertvoller Ist-Zustand, hinter den nicht zurückgegangen werden sollte, da er den besonderen Charakter des Fachs in seiner Funktion für das Schulganze betrifft: „Gerade das Fach Religion kann aufgrund seiner Inhalte, aber auch aufgrund seiner Grundüberzeugung des Wertes aller Menschen unabhängig von ihrer Leistung in besonderer Weise das soziale Lernen fördern, die Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und einen Kontrapunkt zur Leistungsorientierung der Schule anbieten.“ (306) Als offene Frage benennen die Verfasser den Sachverhalt, warum entgegen des eindeutigen Votums für gemeinsamen Religionsunterricht derjeniger, die ihn durchführen, er weiterhin getrennt bzw. durch verstärkte Einführung von muslimischem Religionsunterricht noch gesteigert getrennt stattfinden soll. Klärungsbedarf besteht vor dem Hintergrund der religiösen Vielfalt auch über die Fragen, welche Inhalte der Unterricht behandeln soll, ob er aus einer bestimmten religiösen Perspektive heraus gestaltet werden soll und ob er zu eigener religiöser Positionierung anregen soll. Dabei schließt man mit dem Vorschlag, die religiöse Vielfalt anstatt in der Trennung der Schülerschaft abzubilden, in einem gemeinsamen oder phasenweise abwechselnden Unterricht durch zwei Lehrkräfte – christlich und muslimisch – zu erteilen.
Barbara Hanusa